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URTEIL DES GERICHTSHOFES (VIERTE KAMMER) VOM 19. MAERZ 1991. - GIANT NV GEGEN COMMUNE D'OVERIJSE. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BESTENDIGE DEPUTATIE VAN DE PROVINCIERAAD VAN BRABANT - BELGIEN. - AUSLEGUNG VON ARTIKEL 33 DER SECHSTEN MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE. - RECHTSSACHE C-109/90.
Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-01385
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Erhebung anderer nationaler Abgaben, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben - Zulässigkeit - Begriff der "Umsatzsteuern" - Bedeutung - Besondere Vergnügungssteuer - Ausschluß
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 33)
Aus Artikel 33 der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (77/388) ergibt sich, daß die Mitgliedstaaten indirekte Steuern einführen können, sofern diese nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben. Bei der Prüfung,
ob eine Steuer den Charakter einer Umsatzsteuer hat, ist vor allem zu ermitteln, ob sie das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems beeinträchtigt, indem sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr belastet und kommerzielle Umsätze in der die Mehrwertsteuer kennzeichnenden Art und Weise erfasst.
Eine besondere Vergnügungssteuer, die durch die Steuerordnung einer Gemeinde eingeführt worden ist und wonach jeder, der gewöhnlich oder gelegentlich im Gemeindegebiet öffentliche Darbietungen oder Vergnügungen veranstaltet und dafür ein Eintrittsgeld verlangt, eine besondere Steuer auf den Bruttobetrag aller Einnahmen schuldet, weist nicht die Merkmale einer Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 33 auf, sofern feststeht, daß sie
- nur auf eine begrenzte Gruppe von Gegenständen und Dienstleistungen Anwendung findet und deshalb keine allgemeine Steuer ist;
- nicht auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe erhoben wird, da sie jährlich den Gesamtbetrag der Einnahmen der steuerpflichtigen Unternehmen betrifft;
- sich nicht auf den bei jedem Umsatz erzielten Mehrwert bezieht, sondern auf den Bruttobetrag aller Einnahmen, so daß nicht genau festgestellt werden kann, welcher Anteil der auf jeden Verkauf oder auf jede Dienstleistung erhobenen Steuer als auf den Verbraucher abgewälzt betrachtet werden kann.
1 Die Bestendige Deputatie van de Provincieraad van Brabant (Belgien) hat mit Beschluß vom 23. Januar 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; nachstehend: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Firma Giant und der Gemeinde Overijse über die Erhebung von Vergnügungssteuer durch diese Gemeinde.
3 Aus den Akten ergibt sich, daß die Gemeinde Overijse am 2. März 1983 eine Steuerordnung erließ, wonach jeder, der gewöhnlich oder gelegentlich im Gemeindegebiet öffentliche Darbietungen oder Vergnügungen veranstaltet und von den Besuchern oder Teilnehmern dafür ein Eintrittsgeld verlangt, eine besondere Steuer auf den Bruttobetrag aller Einnahmen schuldet (Artikel 2 der Steuerordnung). Gemäß Artikel 3 der Steuerordnung wird die Steuer auf den Gesamtbetrag der Eintritts-, Miet- und Garderobengelder, der Einnahmen aus dem Verkauf von Programmen oder Tanzkarten, des Ertrags aus sämtlichem Konsum usw. erhoben. Gemäß Artikel 4 Absatz 1 Teil B Buchstabe c der Steuerordnung beträgt der Steuersatz für Tanzlokale und die damit verbundenen Restaurants 25 %. Die Steuer wird jährlich erhoben. Die Steuerordnung war für einen Zeitraum von sechs Jahren, das heisst bis Ende des Jahres 1988, erlassen worden.
4 Am 28. Juni 1989 legte die Firma Giant bei der Bestendige Deputatie van de Provincieraad van Brabant Einspruch gegen die für das Jahr 1988 auferlegte Steuer ein. Sie machte geltend, daß diese Steuer den Charakter einer Umsatzsteuer habe und gegen Artikel 33 der Sechsten Richtlinie verstosse, der die Einführung anderer Steuern auf den Umsatz als der Mehrwertsteuer untersage.
5 Das angerufene nationale Gericht war der Auffassung, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Sechsten Richtlinie abhänge. Es hat daher beschlossen, folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstösst die Steuerordnung der Gemeinde Overijse vom 2. März 1983, wonach derjenige, der gewöhnlich oder gelegentlich öffentliche Darbietungen oder Vergnügungen im Gemeindegebiet veranstaltet und von Besuchern oder Teilnehmern ein Eintrittsgeld dafür verlangt, eine besondere Steuer auf den Bruttobetrag aller Einnahmen schuldet und wonach insbesondere für Tanzlokale und die damit verbundenen Restaurants eine jährliche Steuer in Höhe von 25 % auf den Gesamtbetrag der Eintritts-, Miet- und Garderobengelder, der Einnahmen aus dem Verkauf von Programmen oder Tanzkarten, des Ertrags aus sämtlichem Konsum und der Beiträge oder Vergütungen, die diese Gelder oder Preise ersetzen oder ergänzen können, sowie anderer Einnahmen gleich welcher Art eingeführt wird, gegen das Verbot des Artikels 33 der Richtlinie 77/388/EWG, auf den Umsatz andere Steuern als die Mehrwertsteuer zu erheben?
6 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens und des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
7 Die Vorlagefrage geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 33 der Sechsten Richtlinie der Erhebung einer besonderen Vergnügungssteuer entgegensteht, die die Merkmale der von der Gemeinde Overijse gemäß der Gemeindeverordnung vom 2. März 1983 erhobenen Steuer aufweist.
8 Artikel 33 der Sechsten Richtlinie lautet: "Unbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen hindern die Bestimmungen dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, auf Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen."
9 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 8. Juli 1986 in der Rechtssache 73/85 (Kerrutt/Finanzamt Mönchengladbach-Mitte, Slg. 1986, 2219) ausgeführt hat, ergibt sich aus dieser Bestimmung, daß das Gemeinschaftsrecht mit der Mehrwertsteuer konkurrierende Abgabenregelungen zulässt. Die Mitgliedstaaten können folglich Steuern einführen, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben.
10 Die Antwort auf die Vorlagefrage hängt also davon ab, ob die in Rede stehende besondere Vergnügungssteuer, wie sie im Vorlagebeschluß definiert ist, als Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 33 der Sechsten Richtlinie zu betrachten ist.
11 Bei der Prüfung, ob eine Steuer den Charakter einer Umsatzsteuer hat, ist vor allem, wie der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 27. November 1985 in der Rechtssache 295/84 (Rousseau Wilmot/Organic, Slg. 1985, 3759) und vom 3. März 1988 in der Rechtssache 252/86 (Bergandi/Directeur général des Impôts, Slg. 1988, 1343) entschieden hat, zu ermitteln, ob sie das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems beeinträchtigt, indem sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr belastet und kommerzielle Umsätze in der die Mehrwertsteuer kennzeichnenden Art und Weise erfasst.
12 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe insbesondere die Urteile vom 27. November 1985 in der Rechtssache 295/84, Rousseau Wilmot, a. a. O., vom 3. März 1988 in der Rechtssache 252/86, Bergandi, a. a. O., und vom 13. Juli 1989 in den verbundenen Rechtssachen 93/88 und 94/88, Wisselink u. a./Staatssecretaris van Financiën, Slg. 1989, 2671) beruht das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gemäß Artikel 2 der Ersten Richtlinie auf dem Grundsatz, daß auf Gegenstände und Dienstleistungen bis zur Einzelhandelsstufe einschließlich, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist. Jedoch wird bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer nur abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat. Der Mechanismus des Vorsteuerabzugs ist durch Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie so ausgestaltet, daß die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind.
13 Es ist festzustellen, daß eine Steuer der vom nationalen Gericht in der vorliegenden Rechtssache bezeichneten Art nicht die Merkmale einer Umsatzsteuer im Sinne von Artikel 33 der Sechsten Richtlinie aufweist.
14 Sie ist nämlich erstens keine allgemeine Steuer, da sie nur auf eine begrenzte Gruppe von Gegenständen und Dienstleistungen Anwendung findet. Zweitens wird sie nicht auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe erhoben, da sie jährlich den Gesamtbetrag der Einnahmen der steuerpflichtigen Unternehmen betrifft. Drittens bezieht sie sich nicht auf den bei jedem Umsatz erzielten Mehrwert, sondern auf den Bruttobetrag aller Einnahmen, so daß nicht genau festgestellt werden kann, welcher Anteil der auf jeden Verkauf oder auf jede Dienstleistung erhobenen Steuer als auf den Verbraucher abgewälzt betrachtet werden kann.
15 Folglich ist auf die Frage der Bestendige Deputatie van de Provincieraad van Brabant zu antworten, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er der Erhebung einer besonderen Vergnügungssteuer der von der Gemeinde Overijse gemäß der Gemeindeverordnung vom 2. März 1983 erhobenen Art nicht entgegensteht.
Kosten
16 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
auf die ihm von der Bestendige Deputatie van de Provincieraad van Brabant mit Beschluß vom 23. Januar 1990 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) ist dahin auszulegen, daß er der Erhebung einer besonderen Vergnügungssteuer der von der Gemeinde Overijse gemäß der Gemeindeverordnung vom 2. März 1983 erhobenen Art nicht entgegensteht.