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URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 25. JULI 1991. - AYUNTAMIENTO DE SEVILLA GEGEN RECAUDADORES DE TRIBUTOS DE LA ZONE PRIMERA Y SEGUNDA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL SUPERIOR DE JUSTICIA DE ANDALUCIA - SPANIEN. - MEHRWERTSTEUERPFLICHTIGE - EINRICHTUNGEN DES OEFFENTLICHEN RECHTS. - RECHTSSACHE C-202/90.
Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-04247
Schwedische Sonderausgabe Seite I-00385
Finnische Sonderausgabe Seite I-00401
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
1. Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Selbständig ausgeuebte wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie - Tätigkeiten wie die der mit der Einziehung der örtlichen Steuern in Spanien betrauten Steuereinnehmer
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 4 Absätze 1 und 4)
2. Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Steuerpflichtige - Einrichtungen des öffentlichen Rechts - Behandlung als Nichtsteuerpflichtige für die im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeuebten Tätigkeiten - Voraussetzung - Unmittelbare Ausübung der Tätigkeit
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 4 Absatz 5)
1. Nach Artikel 4 Absätze 1 und 4 der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist eine Tätigkeit, wie sie die von der örtlichen Gebietskörperschaft, für die sie die Steuern einziehen, ernannten örtlichen Steuereinnehmer in Spanien ausüben, als selbständig ausgeuebt anzusehen, da diese Steuereinnehmer keinen Lohn und kein Gehalt erhalten und nicht durch einen Arbeitsvertrag an die Gebietskörperschaft gebunden sind und da die Rechtsbeziehung, in deren Rahmen sie diese Tätigkeit ausüben, kein Verhältnis der Unterordnung zu der Gebietskörperschaft begründet, die ihre Dienste in Anspruch nimmt.
2. Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, dem zufolge Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige gelten, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, findet keine Anwendung, wenn die Tätigkeit einer Behörde nicht unmittelbar ausgeuebt, sondern einem unabhängigen Dritten übertragen wird.
1 Das Tribunal Superior de Justicia de Andalucia hat mit Beschluß vom 11. Juni 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen über die Auslegung von Artikel 4 Absätze 1, 4 und 5 der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; nachstehend: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Ayuntamiento de Sevilla (Klägerin) und den Recaudadores de las Zonas primera y segunda (Steuereinnehmer der ersten und zweiten Zone; Beklagte).
3 Nach den Akten werden die Recaudadores de las Zonas (örtliche Steuereinnehmer, nachstehend: Steuereinnehmer) von der örtlichen Gebietskörperschaft ernannt, für die sie die Steuern einziehen; sie haben eine von dieser festgesetzte Kaution zu stellen. Sie erfuellen ihre Aufgaben in funktioneller Abhängigkeit von dieser Körperschaft. Sie erhalten eine Vergütung in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes der ohne Zwang erhobenen Abgaben beziehungsweise einer Beteiligung an dem für die zwangsweise Eintreibung erhobenen Zuschlag. Schließlich errichten sie eigene Geschäftsstellen und ernennen ihr Hilfspersonal selbst.
4 Bei der Berechnung des ihnen für die Einziehung zustehenden Entgelts erhöhten die Beklagten dessen Betrag um den der Mehrwertsteuer. Wegen dieser Abwälzung legte die Klägerin Beschwerde beim Tribunal Económico-Administrativo Provincial Sevilla ein, das sie durch Beschluß vom 31. Oktober 1988 zurückwies.
5 Das Tribunal Superior de Justicia de Andalucia, bei dem gegen diesen Beschluß Rechtsmittel eingelegt wurde, beschloß, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof "im Hinblick auf die Gesamtheit der Merkmale, die die Tätigkeit der Steuereinnehmer kennzeichnen", folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
a) Handelt es sich hierbei um entgeltliche freiberufliche Dienstleistungen, die selbständig erbracht werden und daher gemäß Artikel 4 Absätze 1 und 4 der Richtlinie 77/388/EWG der Steuer unterliegen?
b) Für den Fall, daß diese Tätigkeit als selbständige Tätigkeit angesehen wird: lässt sich sagen, daß sie nicht steuerpflichtig ist, weil es sich im Sinne von Artikel 4 Absatz 5 der genannten Richtlinie um Tätigkeiten oder Leistungen handelt, die den Steuereinnehmern im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen?
6 Wegen weiterer Einzelheiten des dem Ausgangsrechtsstreits zugrundeliegenden Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
Zur ersten Frage
7 Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie lautet:
"Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis."
8 Das vorlegende Gericht fragt, welche Umstände bei der Entscheidung darüber zu berücksichtigen sind, ob eine Tätigkeit wie die der Steuereinnehmer im Sinne dieser Bestimmung als selbständig ausgeuebt anzusehen ist.
9 Hierzu heisst es in Artikel 4 Absatz 4 Unterabsatz 1:
"Der in Absatz 1 verwendete Begriff 'selbständig' schließt die Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft."
10 Nach den Akten erhalten die Steuereinnehmer keinen Lohn und kein Gehalt und sind nicht durch einen Arbeitsvertrag an die Gebietskörperschaft gebunden. Infolgedessen ist zu prüfen, ob ihre Rechtsbeziehungen zu dieser dessen ungeachtet ein Verhältnis der Unterordnung im Sinne von Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie begründen.
11 Was zunächst die Arbeitsbedingungen betrifft, so besteht kein Verhältnis der Unterordnung, da die Steuereinnehmer sich innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen die für die Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlichen Arbeitskräfte und sachlichen Mittel selbständig verschaffen und sie selbständig organisieren.
12 Unter diesen Umständen sind die funktionelle Abhängigkeit der Steuereinnehmer von der Gemeindebehörde, die ihnen Anweisungen erteilen kann, sowie ihre Unterstellung unter die Disziplinargewalt dieser Behörden für die Qualifizierung des zwischen ihnen und der Gebietskörperschaft bestehenden Rechtsverhältnisses im Hinblick auf Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie nicht ausschlaggebend (siehe hinsichtlich der Disziplinaraufsicht das Urteil des Gerichtshofes vom 26. März 1987 in der Rechtssache 235/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 14).
13 Was zweitens die Modalitäten der Vergütung betrifft, so besteht kein Unterordnungsverhältnis, da die Steuereinnehmer insofern das wirtschaftliche Risiko ihrer Tätigkeit tragen, als der Gewinn, den sie aus ihr ziehen, nicht nur vom Betrag der eingezogenen Steuern abhängt, sondern auch von den mit dem Einsatz der für ihre Arbeit benötigten Arbeitskräfte und sachlichen Mittel verbundenen Ausgaben.
14 Was schließlich die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers anbelangt, so reicht die Tatsache, daß die Gebietskörperschaft für das Verhalten der Steuereinnehmer, soweit diese als Beauftragte der öffentlichen Hand tätig werden, haftbar gemacht werden kann, nicht aus, um ein Unterordnungsverhältnis zu begründen.
15 Ausschlaggebend in dieser Hinsicht ist die Haftung, die sich aus den von den Steuereinnehmern in Ausübung ihrer Tätigkeit begründeten vertraglichen Beziehungen ergibt, sowie die Haftung für die Schäden, die sie Dritten verursachen, wenn sie nicht als Beauftragte der öffentlichen Hand tätig werden.
16 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, daß nach Artikel 4 Absätze 1 und 4 der Sechsten Richtlinie eine Tätigkeit wie diejenige der Steuereinnehmer als selbständig ausgeuebt anzusehen ist.
Zur zweiten Frage
17 Die zweite Frage betrifft die Auslegung von Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie, dessen Unterabsatz 1 wie folgt lautet:
"Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben."
18 Wie der Gerichtshof wiederholt ausgeführt hat, ergibt diese Bestimmung unter Berücksichtigung der Ziele der Richtlinie eindeutig, daß für die Steuerbefreiung zwei Voraussetzungen kumulativ erfuellt sein müssen, nämlich die Ausübung von Tätigkeiten durch eine öffentliche Einrichtung und die Vornahme dieser Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt (Urteile vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 107/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 2655, Randnr. 11; vom 26. März 1987, a. a. O., Kommission/Niederlande, Randnr. 21; vom 17. Oktober 1989 in den verbundenen Rechtssachen 231/87 und 129/88, Comune di Carpaneto Piacentino u. a., Slg. 1989, 3233, Randnr. 12).
19 Was die erste dieser beiden Voraussetzungen betrifft, so hat der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 26. März 1987 unter Randnr. 21 klargestellt, daß die Tätigkeit einer Privatperson nicht allein deswegen von der Mehrwertsteuer befreit ist, weil sie in der Vornahme von an sich der öffentlichen Gewalt vorbehaltenen Handlungen besteht.
20 Hieraus folgt, daß die in der obengenannten Bestimmung vorgesehene Befreiung nicht Platz greifen kann, wenn eine Gemeinde einem unabhängigen Dritten die Aufgaben eines Steuereinnehmers überträgt.
21 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie keine Anwendung findet, wenn die Tätigkeit einer Behörde nicht unmittelbar ausgeuebt, sondern einem unabhängigen Dritten übertragen wird.
Kosten
22 Die Auslagen der spanischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Tribunal Superior de Justicia de Andalucia durch Beschluß vom 11. Juni 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1) Nach Artikel 4 Absätze 1 und 4 der Sechsten Richtlinie ist eine Tätigkeit wie diejenige der Steuereinnehmer als selbständig ausgeuebt anzusehen.
2) Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie findet keine Anwendung, wenn die Tätigkeit einer Behörde nicht unmittelbar ausgeuebt, sondern einem unabhängigen Dritten übertragen wird.