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URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 22. JUNI 1993. - SOFITAM SA GEGEN MINISTRE DU BUDGET. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CONSEIL D'ETAT - FRANKREICH. - AUSLEGUNG DES ARTIKELS 19 DER SECHSTEN MEHRWERTSTEUER-RICHTLINIE - BERECHNUNG DES PRO-RATA-SATZES DES VORSTEUERABZUGS - DIVIDENDEN. - RECHTSSACHE C-333/91.
Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-03513
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
Steuerrecht ° Harmonisierung ° Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ° Vorsteuerabzug ° Unternehmen, das nur für einen Teil seiner Umsätze steuerpflichtig ist ° Pro-rata-Abzug ° Berechnung ° Dividendeneinnahmen ° Ausschluß
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 19 Absatz 1)
Nach Artikel 19 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (77/388) kann ein Unternehmen, das nicht für die Gesamtheit seiner Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, von dem von ihm geschuldeten Steuerbetrag den Steuerbetrag abziehen, den es im Rahmen eines Pro-rata-Satzes gezahlt hat, der sich aus einem Bruch ergibt, der im Nenner den Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze und der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze enthält. Diese Bestimmung ist dahin auszulegen, daß Dividenden, die dieses Unternehmen erhält, in diesem Nenner unberücksichtigt zu lassen sind. Da nämlich Dividenden kein Entgelt für irgendeine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie sind, fallen sie nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, so daß die sich aus dem Innehaben von Beteiligungen ergebenden Dividenden ausserhalb des Systems der Vorsteuerabzugsberechtigung liegen.
1 Der französische Conseil d' État hat mit Urteil vom 13. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Dezember 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 19 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG; ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Satam SA (nunmehr Sofitam SA, Klägerin) mit Sitz in Asnières (Frankreich) und dem für den Haushalt zuständigen Minister (Ministre chargé du Budget) infolge einer Berichtigung der von der Klägerin verlangten Mehrwertsteuer, die sich aus der Minderung ihres Rechts auf Vorsteuerabzug ergab.
3 Die Klägerin, eine Holding, zog von der von ihr geschuldeten Mehrwertsteuer die gesamte Mehrwertsteuer ab, die auf ihren Geschäften über den Erwerb von Gegenständen und über Dienstleistungen lastete. Die französische Verwaltung stellte fest, daß die Einnahmen der Klägerin zum einen verschiedene mehrwertsteuerpflichtige Erträge und zum anderen nicht mehrwertsteuerpflichtige Dividenden umfassten. Sie vertrat die Auffassung, daß die Klägerin nach dem Code général des impôts (Abgabenordnung) die Mehrwertsteuer, die auf den von ihr erworbenen Gegenständen und den von ihr in Anspruch genommenen Dienstleistungen laste, nur im Rahmen des Prozentsatzes hätte abziehen dürfen, der sich aus dem Verhältnis zwischen dem Betrag ihrer mehrwertsteuerpflichtigen Einnahmen und dem jährlichen Betrag aller ihrer Einnahmen einschließlich der von ihr bezogenen Dividenden ergebe. Die französische Verwaltung verlangte deshalb von der Klägerin eine zusätzliche, sich aus der Minderung ihres Rechts auf Vorsteuerabzug ergebende Mehrwertsteuerzahlung.
4 Die Klägerin lehnte dies mit der Begründung ab, die Dividenden gehörten nicht zu den Faktoren, die in den Pro-rata-Satz der Mehrwertsteuer einzubeziehen seien. Andernfalls wären die Vorschriften des Code général des impôts mit Artikel 19 der Sechsten Richtlinie, den sie in nationales Recht umsetzen sollten, unvereinbar.
5 Artikel 19 Absatz 1 bestimmt:
"(1) Der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach Artikel 17 Absatz 5 Unterabsatz 1 ergibt sich aus einem Bruch; dieser enthält
° im Zähler den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug nach Artikel 7 Absätze 2 und 3 berechtigenden Umsätze, abzueglich der Mehrwertsteuer;
° im Nenner den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der im Zähler stehenden sowie der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze, abzueglich der Mehrwertsteuer ..."
6 Die Klägerin machte vor dem Conseil d' État geltend, der jährliche Gesamtbetrag, der nach Artikel 19 in den Nenner zu setzen sei, umfasse nur die Beträge, die der Steuerpflichtige für die von ihm bewirkten mehrwertsteuerpflichtigen oder ausdrücklich von dieser Steuer befreiten Umsätze erhalten habe, nicht dagegen Erträge wie Dividenden, deren Erhalt nicht von der Erzielung eines Umsatzes abhänge und die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fielen.
7 Der Conseil d' État stellte zunächst fest, daß die Klägerin nicht in die Verwaltung der Unternehmen, an denen sie beteiligt sei, eingegriffen habe, und vertrat sodann die Auffassung, daß die Klage Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfe. Er hat deshalb beschlossen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Frage zu ersuchen:
Ist Artikel 19 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß Dividenden, die ein Unternehmen erhält, das nicht für die Gesamtheit seiner Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, im Nenner des Bruches, der zur Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs dient, unberücksichtigt zu lassen sind, oder ist Artikel 19 aufgrund des Zweckes und der Systematik der in der Richtlinie enthaltenen Regelung über den Vorsteuerabzug, die sich namentlich aus den Artikeln 17 und 19 ergibt, vielmehr dahin auszulegen, daß Dividenden wie von der Mehrwertsteuer befreite Erträge in diesem Nenner berücksichtigt werden müssen?
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der anwendbaren Rechtsvorschriften sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
9 Für das Ausgangsverfahren sind folgende Merkmale des Zweckes des Mehrwertsteuersystems im Hinblick auf den Mechanismus des Vorsteuerabzugs und des Begriffes des Steuerpflichtigen erheblich.
10 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil vom 21. September 1988 in der Rechtssache 50/87, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 4797, Randnr. 15) soll der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, daß alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden.
11 Aus dem Mechanismus des Vorsteuerabzugs, wie er in den Artikeln 17 bis 20 der Sechsten Richtlinie geregelt ist, ergibt sich, daß er so anzuwenden ist, daß sein Anwendungsbereich so weit wie möglich dem Bereich der Geschäftstätigkeit des Steuerpflichtigen entspricht (Urteil vom 8. März 1988 in der Rechtssache 165/86, Intiem, Slg. 1988, 1471, Randnrn. 13 und 14).
12 Nach der Rechtsprechung ist eine Holdinggesellschaft, deren einziger Zweck der Erwerb von Beteiligungen an anderen Unternehmen ist, ohne daß sie ° abgesehen von der Ausübung ihrer Rechte als Aktionärin oder Gesellschafterin ° unmittelbar oder mittelbar in die Verwaltung dieser Gesellschaften eingreift, nicht Mehrwertsteuerpflichtiger und hat kein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß Artikel 17 der Sechsten Richtlinie (Urteil vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-60/90, Polysar Investments Netherlands, Slg. 1991, I-3111, Randnr. 17). Dieses Ergebnis beruht insbesondere auf der Feststellung, daß das blosse Innehaben finanzieller Beteiligungen an anderen Unternehmen keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie darstellt.
13 Da Dividenden kein Entgelt für irgendeine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Richtlinie sind, fallen sie nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer. Somit liegen die sich aus dem Innehaben von Beteiligungen ergebenden Dividenden ausserhalb des Systems der Vorsteuerabzugsberechtigung.
14 Deshalb sind Dividenden bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs im Sinne der Artikel 17 bis 19 der Sechsten Richtlinie unberücksichtigt zu lassen, da andernfalls der Zweck der völligen Neutralität, die das gemeinsame Mehrwertsteuersystem garantiert, vereitelt würde.
15 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß Dividenden, die ein Unternehmen erhält, das nicht für die Gesamtheit seiner Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, nach Artikel 19 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) im Nenner des Bruches, der zur Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs dient, unberücksichtigt zu lassen sind.
Kosten
16 Die Auslagen der französischen, der niederländischen und der griechischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom französischen Conseil d' État mit Urteil vom 13. Dezember 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Dividenden, die ein Unternehmen erhält, das nicht für die Gesamtheit seiner Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, sind nach Artikel 19 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) im Nenner des Bruches, der zur Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs dient, unberücksichtigt zu lassen.