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URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 20. OKTOBER 1993. - MAURIZIO BALOCCHI GEGEN MINISTERO DELLE FINANZE DELLO STATO. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNALE DI GENOVA - ITALIEN. - SECHSTE MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE - FESTSTELLUNG DES NETTOBETRAGS DER MEHRWERTSTEUER - ANZAHLUNG, DIE AUF DIESEN BETRAG ZU LEISTEN IST. - RECHTSSACHE C-10/92.
Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-05105
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
++++
1. Vorabentscheidungsverfahren ° Anrufung des Gerichtshofes ° Erfordernis einer vorherigen streitigen Verhandlung ° Beurteilung durch das nationale Gericht
(EWG-Vertrag, Artikel 177)
2. Vorabentscheidungsverfahren ° Anrufung des Gerichtshofes ° Vereinbarkeit der Vorlageentscheidung mit dem nationalen Gerichtsorganisations- und Verfahrensrecht ° Keine Befugnis des Gerichtshofes zur Nachprüfung
(EWG-Vertrag, Artikel 177)
3. Steuerrecht ° Harmonisierung ° Umsatzsteuer ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ° Entrichtung der Steuer nach Entstehen des Steueranspruchs ° Innerstaatliche Regelung, die von den Steuerpflichtigen Abschlagszahlungen fordert, die den Charakter vorweggenommener Zahlungen haben ° Unvereinbarkeit mit der Sechsten Richtlinie ° Möglichkeit für den einzelnen, sich auf die entsprechenden Vorschriften zu berufen
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5)
1. Zwar kann es im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen, Vorabentscheidungsfragen erst im Anschluß an eine streitige Verhandlung vorzulegen, jedoch gehört dieses Erfordernis nicht zu den Voraussetzungen für die Einleitung dieses Verfahrens. Es ist daher allein Sache des innerstaatlichen Gerichts, zu beurteilen, ob der Beklagte vor Erlaß eines Vorlagebeschlusses zu hören ist.
2. Im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag ist der Gerichtshof nicht befugt, nachzuprüfen, ob die Entscheidung, durch die er angerufen worden ist, den nationalrechtlichen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Der Gerichtshof ist daher an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange sie nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist.
3. Die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5 der Sechsten Richtlinie 77/388, die bestimmen, daß der Mehrwertsteueranspruch zu dem Zeitpunkt eintritt, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird, und daß die Mitgliedstaaten von der Regel abweichen können, wonach die Zahlung zum Zeitpunkt der Abgabe der periodischen Steuererklärung zu erfolgen hat, indem sie vorläufige Abschlagszahlungen erheben, stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, die von den Steuerpflichtigen die Zahlung eines Steuerbetrags in Höhe von 65 % des für einen noch nicht abgelaufenen Zeitraum geschuldeten Gesamtbetrags fordern, so daß die Steuerpflichtigen in bestimmten Fällen genötigt sind, die Steuer für Geschäfte zu entrichten, die noch nicht stattgefunden haben. Eine solche Regelung läuft nämlich darauf hinaus, diese Abschlagszahlungen in vorweggenommene Zahlungen umzuwandeln, die dem in der Richtlinie verankerten Grundsatz zuwiderlaufen, daß die Mitgliedstaaten die Entrichtung der Mehrwertsteuer nur für bereits durchgeführte Geschäfte fordern dürfen.
Die Steuerpflichtigen, von denen derartige Zahlungen verlangt werden, können sich vor dem innerstaatlichen Gericht auf die genannten Bestimmungen der Sechsten Richtlinie berufen.
1 Der Präsident des Tribunale Genua hat mit Beschluß vom 18. Dezember 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Januar 1992, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem italienischen Staatsangehörigen Balocchi und dem italienischen Finanzministerium, in dem es um die Entrichtung einer vorläufigen Abschlagszahlung auf die geschuldete Mehrwertsteuer geht.
3 Die italienischen Rechtsvorschriften über die Mehrwertsteuer legen die Dauer des Steuerzeitraums auf ein Jahr fest (1. Januar bis 31. Dezember). Die Steuerpflichtigen haben für jedes Steuerjahr bis zum 5. März des darauffolgenden Jahres eine jährliche Steuererklärung abzugeben. Diese Erklärung stellt eine Zusammenfassung dar. Die Steuerpflichtigen sind nämlich gehalten, im Laufe des Steuerjahres je nach der Höhe des Umsatzes monatliche oder dreimonatliche Zahlungen zu leisten. Je nach Lage des Falles entrichten sie bei der Vorlage ihrer jährlichen Steuererklärung an die Finanzverwaltung den für die von ihnen während des gesamten Steuerjahres getätigten Geschäfte geschuldeten Restbetrag der Mehrwertsteuer, oder sie erhalten den zuviel bezahlten Betrag zurück.
4 Vor 1991 wurde der für das letzte Quartal des Jahres geschuldete Mehrwertsteuerbetrag in der Regel gleichzeitig mit der jährlichen Steuererklärung entrichtet, die spätestens im März des folgenden Jahres abzugeben war. Diese Regel wurde durch Artikel 6 Absatz 2 des am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Gesetzes Nr. 405/90 vom 29. Dezember 1990 (Suppl. ord. GURI Nr. 303 vom 31. Dezember 1990; im folgenden: Gesetz Nr. 405/90) geändert.
5 Nach der Neuregelung haben die zur Leistung monatlicher Zahlungen verpflichteten Steuerpflichtigen spätestens am 20. Dezember als Abschlagszahlung auf die für diesen Monat geschuldete Mehrwertsteuer einen Betrag zu entrichten, der 65 % des Betrages entspricht, den sie für Dezember des vergangenen Jahres gezahlt haben (oder hätten zahlen müssen). Sehen sie voraus, daß der für Dezember des laufenden Jahres geschuldete Betrag niedriger sein wird als der für den gleichen Monat des Vorjahres entrichtete Betrag, so können sie innerhalb der gleichen Frist einen Betrag zahlen, der 65 % des Mehrwertsteuerbetrags entspricht, der nach ihrer Einschätzung für den laufenden Monat Dezember zu entrichten sein wird.
6 Die zu dreimonatlichen Überweisungen verpflichteten Steuerzahler entrichten ihrerseits, ebenfalls bis spätestens zum 20. Dezember, als Abschlagszahlung auf den mit der Abgabe der jährlichen Steuererklärung zu entrichtenden Betrag eine Summe, die 65 % des Betrages entspricht, den sie für das vierte Quartal des Vorjahres gezahlt haben (oder hätten zahlen müssen), oder, wenn er niedriger ist, des für das vierte Quartal des laufenden Jahres zu zahlenden Betrages.
7 Dem Steuerpflichtigen, gleichviel, ob er monatliche oder dreimonatliche Zahlungen zu leisten hat, stehen somit für die Berechnung der bis zum 20. Dezember des laufenden Jahres vorzunehmenden Abschlagszahlung zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Er kann bei seiner Berechnung entweder von dem im Vorjahr mit der letzten (monatlichen oder dreimonatlichen) Überweisung gezahlten Betrag oder von demjenigen Mehrwertsteuerbetrag ausgehen, von dem er annimmt, daß er ihn am Ende des laufenden Jahres mit der letzten (monatlichen oder dreimonatlichen) Überweisung zu zahlen haben wird. Für diesen zweiten Fall sieht Artikel 6 Absatz 5 des Gesetzes Nr. 405/90 jedoch vor, daß der Steuerpflichtige, der nicht den gesamten geschuldeten Betrag oder einen Teil davon überweist, einen Zuschlag von 20 % auf die nicht gezahlten Beträge zu entrichten hat.
8 Herr Balocchi übt in Italien den Beruf eines Liegenschaftsverwalters aus und unterliegt aus diesem Grund der Mehrwertsteuer. Da er zu der Gruppe der Steuerpflichtigen gehört, deren jährlicher Umsatz weniger als 360 Millionen LIT beträgt, kommen ihm diejenigen Vorschriften zugute, die dreimonatliche Zahlungen vorsehen (sogenannte "vereinfachte Regelung"). Somit hat er aufgrund von Artikel 33 des Dekrets Nr. 633/72 des Präsidenten der Republik (Suppl. ord. GURI Nr. 292 vom 1. November 1972) jeweils bis zum fünften Tag des zweiten, auf jedes der ersten drei Quartale des Jahres folgenden Monats regelmässige Zahlungen zu leisten. Seit 1991 hat er für das vierte Quartal spätestens bis 20. Dezember die in Artikel 6 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 405/90 vorgesehene Abschlagszahlung zu leisten.
9 Herr Balocchi beanstandet den vorgenannten Artikel 6 mit der Begründung, er fordere eine vor Ablauf des letzten Quartals des Jahres zu entrichtende Abschlagszahlung auf die sich auf die Gesamtheit dieses Quartals beziehende Mehrwertsteuer. Ein Teil der zu entrichtenden Mehrwertsteuer-Abschlagszahlung betreffe somit Leistungen, die noch nicht erbracht, und Beträge, die noch nicht eingenommen worden seien.
10 Diese Bestimmung stehe im Widerspruch zu den Artikeln 10 und 11 der Sechsten Richtlinie, die nach Ansicht von Herrn Balocchi es erst dann gestatten, die Entrichtung der Mehrwertsteuer zu fordern, wenn der steuerpflichtige Vorgang stattgefunden habe. Um seinen Standpunkt durchzusetzen, hat Herr Balocchi vor dem Tribunale Genua Klage mit dem Antrag erhoben, die Unvereinbarkeit der vorgenannten italienischen Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht festzustellen; weiterhin hat er beim Präsidenten des Tribunale mit Erfolg beantragt, seine sich aus der genannten Bestimmung ergebende Verpflichtung zur Leistung der Abschlagszahlung vorläufig auszusetzen. Da der Präsident im übrigen der Ansicht war, daß der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache von der Auslegung des Gemeinschaftsrecht abhänge, hat er dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1) Haben die Artikel 10 und 11 der Sechsten Richtlinie des Rates der EWG vom 17. Mai 1977 (77/388/EWG; ABl. L 145 vom 13. Juni 1977) die Begriffe "Steuertatbestand" und "Zeitpunkt des Eintretens des Steueranspruchs" harmonisiert, und gewähren sie bejahendenfalls den einzelnen Rechte, die diese vor den innerstaatlichen Gerichten geltend machen können?
2) Für den Fall, daß die erste Frage bejaht wird: Was ist unter "Steuertatbestand" und "Zeitpunkt des Eintretens des Steueranspruchs" zu verstehen, und stehen die Artikel 10 und 11 der Sechsten Richtlinie in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof einer innerstaatlichen Regelung (Artikel 6 des Gesetzes Nr. 405/90) entgegen, die die Erbringer von Dienstleistungen zur Zahlung der Mehrwertsteuer für noch nicht erbrachte Leistungen und nicht erhaltene Entgelte verpflichtet?
11 Wegen weiterer Einzelheiten des dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalts, des Verfahrens sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
Zur Zulässigkeit
12 Die italienische Regierung macht zunächst geltend, die Vorlagefragen seien im Rahmen eines nicht streitigen Verfahrens aufgeworfen worden, denn der italienische Finanzminister habe keine Gelegenheit gehabt, an dem Verfahren teilzunehmen und sich zu dem Vorbringen von Herrn Balocchi zu äussern. Die Vorlage sei daher als unzulässig anzusehen.
13 Wie sich der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen lässt, kann es sicherlich im Interesse einer geordneten Rechtspflege liegen, Vorabentscheidungsfragen erst im Anschluß an eine streitige Verhandlung vorzulegen.
14 Es ist jedoch einzuräumen, daß die vorherige Durchführung einer streitigen Verhandlung nicht zu den Voraussetzungen für die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 177 EWG-Vertrag gehört und daß es allein Sache des innerstaatlichen Gerichts ist, zu beurteilen, ob der Beklagte vor Erlaß eines Vorlagebeschlusses zu hören ist (vgl. Urteil vom 28. Juni 1978 in der Rechtssache 70/77, Simmenthal, Slg. 1978, 1453).
15 Weiterhin bestreitet die italienische Regierung die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung, das vorlegende Gericht sei für Steuerstreitigkeiten nicht zuständig.
16 Dieses Argument betrifft das innerstaatliche Recht und kann daher keinen Erfolg haben. Der Gerichtshof hat nämlich in seinem Urteil vom 14. Januar 1982 in der Rechtssache 65/81 (Reina, Slg. 1982, 33, Randnr. 7) den Grundsatz aufgestellt, daß er nicht befugt ist, nachzuprüfen, ob die Entscheidung, durch die er angerufen worden ist, den nationalrechtlichen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht.
17 Der Gerichtshof ist daher an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange sie nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist.
Zur Begründetheit
Zu den Voraussetzungen für die Rechtmässigkeit einer Abschlagszahlungsregelung
18 In erster Linie zielt der Vorlagebeschluß im wesentlichen darauf ab, ob die einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die den Steuerpflichtigen vorschreiben, einen Mehrwertsteuerbetrag in Höhe von 65 % des gesamten für einen noch nicht abgelaufenen Steuerzeitraum geschuldeten Betrages zu entrichten.
19 Die streitige italienische Bestimmung, die in Artikel 6 des Gesetzes Nr. 405/90 enthalten ist, verpflichtet die Steuerpflichtigen, zu einem Zeitpunkt, zu dem der letzte Monat oder das letzte Quartal des Jahres noch nicht abgelaufen ist, eine Abschlagszahlung in Höhe von 65 % auf die für diesen Zeitraum insgesamt geschuldete Mehrwertsteuer zu leisten. Der Kläger des Ausgangsverfahrens sowie die Kommission sind der Auffassung, diese Abschlagszahlung bewirke die Verpflichtung der Steuerpflichtigen, Mehrwertsteuer für noch nicht durchgeführte Geschäfte zu entrichten, weshalb die Bestimmung, die diese Abschlagszahlung vorsehe, in Widerspruch zu Artikel 10 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie stehe.
20 Die Mehrwertsteuer ist eine Steuer, die auf den durch die Übertragung eines Gutes (Lieferung einer Ware) oder durch eine Dienstleistung erzielten Umsatz erhoben wird. Wie der Generalanwalt zu Recht ausführt, ergibt sich aus dem System der Sechsten Richtlinie, daß diese Steuer grundsätzlich erst nachträglich zu entrichten ist.
21 In der Tat ist darauf hinzuweisen, daß Artikel 10 der Sechsten Richtlinie die Begriffe des Steuertatbestands und des Zeitpunkts des Eintretens des Steueranspruchs harmonisiert hat.
22 Als Steuertatbestand im Sinne von Artikel 10 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie gilt "der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden". Unter Steueranspruch wiederum ist "der Anspruch [zu verstehen], den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann".
23 Artikel 10 Absatz 2 bestimmt, daß "[d]er Steuertatbestand und der Steueranspruch ... zu dem Zeitpunkt ein[treten], zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird".
24 Hervorzuheben ist jedoch, daß zwischen den Begriffen des Steuertatbestands und des Steueranspruchs (Zeitpunkt des Eintretens des Steueranspruchs) im Sinne von Artikel 10 auf der einen und dem Begriff der Entrichtung der Steuer auf der anderen Seite zu unterscheiden ist. Der Vorlagebeschluß nimmt nicht Bezug auf die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie, die die Entrichtung der Mehrwertsteuer betreffen. Auf sie kommt es jedoch vorliegend an. Die allgemeine Regel, die in Artikel 22 Absatz 5 der Richtlinie enthalten ist, besagt, daß "jeder Steuerpflichtige ... bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten [hat]". Nach Absatz 4 dieses Artikels ist die Steuererklärung nach Ablauf des Steuerzeitraums innerhalb einer von den Mitgliedstaaten festzulegenden Frist abzugeben, die zwei Monate nicht überschreiten darf.
25 Angesichts der Tatsache, daß auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer die Steuerpflichtigen als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates tätig werden, und um zu vermeiden, daß sich in ihren Händen im Laufe eines Steuerzeitraums erhebliche Mengen öffentlicher Gelder ansammeln, ermächtigt Artikel 22 Absatz 5 der Sechsten Richtlinie die Staaten jedoch, von der Regel abzuweichen, wonach die Zahlung zum Zeitpunkt der Abgabe der periodischen Steuererklärung zu erfolgen hat, und "vorläufige Abschlagszahlungen" ("acconto provvisori") zu erheben.
26 Da die Abrechnung für den fraglichen Zeitraum im Zeitpunkt der Entrichtung dieser "Abschlagszahlungen" im allgemeinen noch nicht durchgeführt wurde, steht es den Mitgliedstaaten frei, als Bezugsgrösse den im Laufe des entsprechenden Zeitraums des Vorjahres erzielten Umsatz zu wählen. Es ist ohne weiteres möglich, daß dieser Umsatz höher ist als derjenige, der während des Zeitraum erzielt wurde, auf den sich die Abschlagszahlung bezieht, nämlich wenn im Verhältnis zum Vorjahr ein, sei es auch nur leichter, Rückgang eingetreten ist. Zur Vermeidung dieses Risikos genügt es, wenn die Mitgliedstaaten den Steuerpflichtigen die Möglichkeit einräumen, die Höhe der zu leistenden Abschlagszahlung auf der Grundlage des Umsatzes festzusetzen, den sie nach ihrer Einschätzung am Ende des fraglichen Zeitraums erzielt haben werden, und sie nicht mit einem Zuschlag für den Fall belasten, daß sie den tatsächlich geschuldeten Betrag gutgläubig unterschätzt haben.
27 Die Besonderheit der italienischen Rechtsvorschriften liegt darin, daß sie die Steuerpflichtigen, die als Bezugsgrösse nicht die für den entsprechenden Zeitraum des Vorjahres entrichtete Mehrwertsteuer wählen wollen, nötigt, eine vorweggenommene Zahlung zu leisten, die auf der Grundlage des Umsatzes zu berechnen ist, der während eines noch nicht abgelaufenen Zeitraums erzielt werden wird. Ein derartiges System kann dazu führen, daß Steuerpflichtige, die einen bedeutenden Teil ihres Umsatzes im Laufe der letzten elf Tage des Jahres erzielen, wie dies für das Hotelgewerbe zutrifft, Mehrwertsteuer für Geschäfte zu entrichten haben, die noch nicht stattgefunden haben. Bei solchen Steuerpflichtigen läuft die beanstandete Vorschrift des italienischen Gesetzes darauf hinaus, die Abschlagszahlungen in vorweggenommene Zahlungen umzuwandeln, die dem in der Richtlinie verankerten Grundsatz zuwiderlaufen, daß die Mitgliedstaaten die Entrichtung der Mehrwertsteuer nur für bereits durchgeführte Geschäfte fordern dürfen.
28 Daß die Abschlagszahlungen auf diese Weise zu vorweggenommenen Zahlungen werden, zeigt sich besonders deutlich in den Fällen, in denen die Steuerpflichtigen monatliche Zahlungen zu leisten haben. Für diese Betroffenen entspricht der Betrag der Anzahlung in fast gleicher Proportion der Zahl der Monatstage, die zwischen dem 1. und dem 20. Dezember verstrichen sind, nämlich 64,5 %. Schon der geringfügigste Rückgang des Umsatzes im Verhältnis zum Vorjahr wie auch der kleinste Irrtum in der Schätzung des Umsatzes, der bis zum Ende des laufenden Jahres erzielt sein wird, hat die Verpflichtung zur Folge, eine Abschlagszahlung zu leisten, die offensichtlich höher ist als der am 20. Dezember des laufenden Jahres tatsächlich geschuldete Betrag. Für die Steuerpflichtigen, die dreimonatliche Zahlungen zu leisten haben, ist das Risiko dagegen geringer, da bereits 88 % des Quartals verstrichen sind, wenn sie am 20. Dezember die von ihnen für das letzte Quartal des laufenden Jahres geschuldete Abschlagszahlung in Höhe von 65 % zu entrichten haben.
29 Die italienische Regierung bemerkt hierzu, die Steuerpflichtigen hätten die Möglichkeit, als Bezugsgrösse den während des laufenden Monats oder Quartals tatsächlich erzielten Umsatz zu wählen, anstatt sich auf den im Vorjahr während des entsprechenden Monats oder Quartals getätigten Umsatz zu beziehen.
30 Diese Möglichkeit ist nicht entscheidend, da die den italienischen Rechtsvorschriften innewohnende Problematik in jedem Fall gegeben ist, gleichgültig ob als Bezugsgrösse das laufende Jahr oder das Vorjahr gewählt wird.
31 Nach alledem ist die erste Vorlagefrage dahin zu beantworten, daß die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5 der Sechsten Richtlinie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die von den Steuerpflichtigen die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags in Höhe von 65 % des für einen noch nicht abgelaufenen Zeitraum geschuldeten Gesamtbetrags fordern.
Zur unmittelbaren Wirkung der maßgebenden Bestimmungen der Richtlinie
32 Aus dem Vorlagebeschluß geht weiterhin hervor, daß das vorlegende Gericht in zweiter Linie zu erfahren wünscht, ob die im vorliegenden Fall maßgebenden Bestimmungen der Sechsten Richtlinie der Anwendung von Artikel 6 des Gesetzes Nr. 405/90 entgegenstehen, wonach die Erbringer von Dienstleistungen verpflichtet sind, Mehrwertsteuer für noch nicht erbrachte Leistungen zu entrichten, und ob sie den einzelnen Rechte verleihen, die diese vor den innerstaatlichen Gerichten geltend machen können.
33 Zur Beantwortung dieser Frage genügt es, auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinien hinzuweisen (vgl. Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53).
34 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, daß sich die einzelnen ungeachtet des verhältnismässig weiten Ermessensspielraums, über den die Mitgliedstaaten bei der Durchführung bestimmter Vorschriften der Sechsten Richtlinie verfügen, vor den innerstaatlichen Gerichten auf diejenigen Vorschriften der Richtlinie berufen können, die hinreichend klar, genau und unbedingt sind.
35 Die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5 weisen diese Merkmale auf. Sie verleihen daher den einzelnen Rechte, die diese vor dem innerstaatlichen Gericht geltend machen können, um sich gegen eine nationale Regelung zu wehren, die mit diesen Bestimmungen unvereinbar ist.
36 Die Fragen des Präsidenten des Tribunale Genua sind daher wie folgt zu beantworten:
1) Die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, die von den Steuerpflichtigen die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags in Höhe von 65 % des für einen noch nicht abgelaufenen Zeitraum geschuldeten Gesamtbetrags fordern.
2) Die Steuerpflichtigen, von denen derartige Zahlungen verlangt werden, können sich vor dem innerstaatlichen Gericht auf die unmittelbar geltenden Bestimmungen der Richtlinie, d. h. auf die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5, berufen.
Kosten
37 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Präsidenten des Tribunale Genua mit Beschluß vom 30. Dezember 1991 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1) Die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage stehen innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegen, die von den Steuerpflichtigen die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags in Höhe von 65 % des für einen noch nicht abgelaufenen Zeitraum geschuldeten Gesamtbetrags fordern.
2) Die Steuerpflichtigen, von denen derartige Zahlungen verlangt werden, können sich vor dem innerstaatlichen Gericht auf die unmittelbar geltenden Bestimmungen der Richtlinie, d. h. auf die Artikel 10 und 22 Absätze 4 und 5, berufen.