Rechtssache C-24/92 Pierre Corbiau
gegen
Administration des contributions(Vorabentscheidungsersuchen desDirecteur des contributions directes et des accises des Großherzogtums Luxemburg)
«Begriff einzelstaatliches Gericht im Sinne des Artikels 177 EWG-Vertrag »
|
Schlußanträge des Generalanwalts Marco Darmon vom 16. Februar 1993 |
| | |
| | | |
|
Urteil des Gerichtshofes vom 30. März 1993 |
| | |
| | | |
Leitsätze des Urteils
Vorabentscheidungsverfahren – Anrufung des Gerichtshofes – Einzelstaatliches Gericht im Sinne des Artikels 177 EWG-Vertrag – Begriff – Direktor der Finanzverwaltung, der über den Einspruch eines Steuerpflichtigen gegen einen Steuerbescheid zu entscheiden hat,
den die ihm unterstellten Dienststellen erlassen haben – Ausschluß
(EWG-Vertrag, Artikel 177)Der Begriff
Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff und kann seinem Wesen nach nur eine Einrichtung
bezeichnen, die gegenüber der Einrichtung, die die Entscheidung erlassen hat, die den Gegenstand der Klage bildet, die Eigenschaft
eines Dritten hat.Dem Direktor der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats, der über den Einspruch eines Steuerpflichtigen zu entscheiden hat,
kann diese Eigenschaft wegen seiner offensichtlichen institutionellen Verbindung zu den Dienststellen, die den streitigen
Steuerbescheid erlassen haben, nicht zugesprochen werden.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
30. März 1993 (1)
„Begriff einzelstaatliches Gericht im Sinne des Artikels 177 EWG-Vertrag“
In der Rechtssache C-24/92
betreffend ein dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag vom Directeur des contributions directes et des accises des Großherzogtums
Luxemburg in dem bei diesem anhängigen Verfahren
Pierre Corbiau
gegen
Administration des contributions
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 48 des Vertrageserläßt
DER GERICHTSHOF,
unter Mitwirkung des Präsidenten O. Due, der Kammerpräsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, M. Zuleeg und J. L. Murray, der Richter G. F. Mancini, R. Joliet, F. A. Schockweiler, J. C. Moitinho de Almeida und F. Grévisse,
Generalanwalt: M. Darmon
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch den Hauptrechtsberater
H. Étienne als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der luxemburgischen Regierung, vertreten durch J.-M. Klein, Conseiller de direction
de première classe im Finanzministerium, und der Kommission in der Sitzung vom 12. Januar 1993,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 1993,
folgendes
Urteil
1
Der Directeur des contributions directes et des accises des Großherzogtums Luxemburg hat mit Entscheidung vom 28. Januar 1992,
beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 48 des
Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2
Diese Frage stellt sich in einem von Herrn Corbiau beim Directeur des contributions anhängig gemachten außerstreitigen Verfahren,
in dem es um die Erstattung zuviel gezahlter Einkommensteuer geht.
3
Herr Corbiau, ein belgischer Staatsangehöriger, arbeitet bei der Bank Paribas in Luxemburg. Er wohnte bis zum 25. Oktober
1990 in Luxemburg; an diesem Tag verlegte er unter Beibehaltung seiner Tätigkeit in Luxemburg seinen Wohnsitz nach Belgien.
Von einem gebietsansässigen Steuerpflichtigen ist er also zu einem nicht in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen geworden.
4
Für die Zeit vom 1. Januar 1990 bis zum 25. Oktober 1990 behielt sein Arbeitgeber von seinem Gehalt Steuern zu dem Satz ein,
der gegolten hätte, wenn er ein während des ganzen Jahres in Luxemburg ansässiger Steuerpflichtiger gewesen wäre.
5
Später wurden bei der endgültigen Festlegung der Steuer die Einkünfte, die Herr Corbiau während der ersten zehn Monate des
Jahres 1990 erzielt hatte, nach dem progressiven Satz besteuert, der normalerweise für solche Einkünfte gilt, wenn sie während
des ganzen Jahres bezogen werden. Da dieser Satz niedriger war als der, der bei der Berechnung der Steuerabzüge verwendet
wurde, wies der Steuerbescheid für das Jahr 1990 zuviel gezahlte Steuern in Höhe von 180 048 LFR aus.
6
Die luxemburgische Finanzverwaltung lehnte die Erstattung der zuviel gezahlten Steuern unter Berufung auf Artikel 154 Absatz
6 des Einkommensteuergesetzes ab, wonach einbehaltene Steuern auf Löhne und Gehälter zu Lasten der Arbeitnehmer, die nur während
eines Teils des Jahres gebietsansässige Steuerpflichtige sind, weil sie sich im Laufe des Jahres im Lande niederlassen oder
das Land verlassen, der Staatskasse verfallen.
7
Am 28. Juni 1991 richtete der Betroffene gemäß § 131 der Abgabenordnung einen Antrag an den Directeur des contributions.
8
Nach dieser Vorschrift
[kann] der Minister der Finanzen ... für einzelne Fälle (auch für eine Mehrheit von einzelnen Fällen, wie bei Unwetterschäden
oder sonstigen Notständen) Staatssteuern, deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, ganz oder zum Teil
erlassen oder in solchen Fällen die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Staatssteuern verfügen.
9
Nach Artikel 8 der Großherzoglichen Verordnung vom 26. Oktober 1944
[entscheidet] über Einsprüche Steuerpflichtiger und über ihre Anträge auf Erlaß oder Ermäßigung, vorbehaltlich der Anrufung
einer in einer Ministerialverordnung zu bezeichnenden Instanz, der Leiter der zuständigen Verwaltung oder ein von ihm Ermächtigter.
10
Gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 17. April 1964 zur Änderung der Organisation der für die unmittelbaren Abgaben und
Verbrauchsteuern zuständigen Verwaltung in der Fassung des Gesetzes vom 20. März 1970 ist mit dieser Verwaltung ein Directeur
betraut worden, der an der Spitze der Verwaltung steht.
11
Schließlich ist in Artikel 1 der Ministerialverordnung vom 10. April 1946 festgelegt worden, daß der Streitsachenausschuß
des Conseil d'État in der Besetzung mit drei Mitgliedern endgültig über Klagen entscheidet, die Steuern, Abgaben, Beiträge
und Gebühren betreffen.
12
Vor dem Directeur des contributions berief sich Herr Corbiau auf das Urteil vom 8. Mai 1990 in der Rechtssache
C-175/88 (Biehl,
Slg. 1990, I-1779), in dem der Gerichtshof entschieden hat, daß
es Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag verbietet, daß nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats die einbehaltenen Steuern auf
die Löhne und Gehälter zu Lasten eines Arbeitnehmers aus einem Mitgliedstaat, der nur während eines Teils des Jahres gebietsansässiger
Steuerpflichtiger ist, weil er sich im Laufe des Steuerjahres im Lande niederläßt oder das Land verläßt, der Staatskasse verfallen
und nicht erstattet werden können.
13
Weil der luxemburgische Directeur des contributions nicht sicher ist, ob dieses Urteil auf den ihm unterbreiteten Fall anzuwenden
ist, hat er folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Verbietet es Artikel 48 EWG-Vertrag, daß in einem Mitgliedstaat, in dem die während des ganzen Steuerjahres gebietsansässigen
Steuerpflichtigen Anspruch auf Erstattung der von ihrem Arbeitgeber rechtmäßig einbehaltenen Lohnsteuer haben, wenn und sofern
der Betrag dieser einbehaltenen Steuer die Einkommensteuer übersteigt, die nach dem entsprechenden Satz für die Gesamtheit
ihrer in dem Jahr erzielten Einkünfte festgesetzt worden ist, ein während eines Teils des Jahres gebietsansässiger steuerpflichtiger
Gemeinschaftsbürger die Erstattung der rechtmäßig einbehaltenen Steuer nur unter den gleichen Voraussetzungen und in dem gleichen
Maße erlangt?
14
Ehe auf diese Vorlagefrage eingegangen werden kann, ist zu untersuchen, ob der Directeur des contributions ein Gericht im
Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist und ob seine Frage somit als zulässig angesehen werden kann.
15
Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff
Gericht ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff ist und daß er seinem Wesen nach nur eine Einrichtung bezeichnen kann, die gegenüber
der Einrichtung, die die Entscheidung erlassen hat, die den Gegenstand der Klage bildet, die Eigenschaft eines Dritten hat.
16
Im vorliegenden Fall hat der Directeur des contributions directes et des accises nicht diese Eigenschaft. An der Spitze dieser
Verwaltung stehend, weist er eine offensichtliche institutionelle Verbindung zu den Dienststellen auf, die den streitigen
Steuerbescheid, der Gegenstand des bei ihm eingelegten Einspruchs ist, erlassen haben. Diese Feststellung wird im übrigen
dadurch bekräftigt, daß im Fall einer beim Conseil d'État eingereichten Klage der genannte Directeur Partei des Verfahrens
ist.
17
Daraus folgt, daß der Directeur des contributions kein Gericht im Sinne des Artikels 177 des Vertrages ist und daß seine Frage
daher für unzulässig erklärt werden muß.
Kosten
18
Die Auslagen der luxemburgischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit
in dem beim Directeur des contributions des Großherzogtums Luxemburg anhängigen Verfahren; eine Kostenentscheidung ist daher
Sache des Directeur.
Aus diesen Gründen hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Due
|
Rodríguez Iglesias
|
Zuleeg
|
|
|
|
Murray
|
Mancini
|
Joliet
|
|
|
|
Schockweiler
|
Moitinho de Almeida
|
Grévisse
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. März 1993.
Der Kanzler
|
Der Präsident
|
1 –
Verfahrenssprache: Französisch.