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61993J0302

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 26. September 1996. - Etienne Debouche gegen Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof 's-Gravenhage - Niederlande. - Mehrwertsteuer - Auslegung des Artikels 17 Absätze 2 und 3 Buchstabe a der Richtlinie 77/388/EWG und der Artikel 3 Buchstabe b und 5 Absatz 1 der Richtlinie 79/1072/EWG - Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige. - Rechtssache C-302/93.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-04495


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


++++

Steuerrecht ° Harmonisierung ° Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ° Erstattung der Steuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige ° Rechtsanwalt, der in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, eine Steuerbefreiung erhält ° Erstattung der Steuer auf Dienstleistungen, die dem Betroffenen in einem Mitgliedstaat erbracht wurden, in dem die Leistungen der Rechtsanwälte nicht befreit sind ° Unzulässigkeit

(Richtlinien 79/1072 des Rates, Artikel 3 Buchstabe b, und 77/388 des Rates, Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F)

Leitsätze


Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige ° ist dahin auszulegen, daß ein Rechtsanwalt, der in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F der Sechsten Richtlinie eine Steuerbefreiung erhält, aus diesem Grund nicht berechtigt ist, von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats die Ausstellung der in Artikel 3 genannten Bescheinigung zu verlangen, und somit keinen Anspruch auf Erstattung der Steuer hat, mit der die ihm in einem Mitgliedstaat, in dem er nicht ansässig ist und in dem die Leistungen der Rechtsanwälte nicht befreit sind, erbrachten Dienstleistungen belastet wurden. Sowohl aus Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie als auch aus dem durch die Sechste Richtlinie geschaffenen System ergibt sich nämlich, daß ein Steuerpflichtiger, der eine Steuerbefreiung erhält und der folglich nicht zum Abzug der im Inland gezahlten Vorsteuer berechtigt ist, nach der Zielsetzung des Systems der Mehrwertsteuerrichtlinien auch keinen Anspruch auf Erstattung der in einem anderen Mitgliedstaat gezahlten Steuer hat und somit auch nicht die Ausstellung einer Bescheinigung im Sinne dieser Bestimmung verlangen kann.

Entscheidungsgründe


1 Der Gerechtshof Den Haag hat mit Urteil vom 19. Mai 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 1993, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 17 Absätze 2 und 3 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) und der Artikel 3 Buchstabe b und 5 Absatz 1 der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 331, S. 11; im folgenden: Achte Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Debouche und dem Inspecteur der Invörrechten en Accijnzen wegen des Anspruchs auf Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 17 und 33 der Wet op de omzetbelasting (Umsatzsteuergesetz) von 1968, mit denen die Bestimmungen der Achten Richtlinie in die niederländische Rechtsordnung umgesetzt wurden.

3 Das Königreich Belgien hat von der in Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit in der Weise Gebrauch gemacht, daß es die Dienstleistungen der Rechtsanwälte von der Mehrwertsteuer befreit hat. In den Niederlanden unterliegen solche Dienstleistungen dagegen der Umsatzsteuer.

4 Herr Debouche, ein in Belgien ansässiger Rechtsanwalt, mietete bei einer Leasinggesellschaft in den Niederlanden ein Fahrzeug, das er ausschließlich in Belgien im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit benutzte.

5 Er beantragte bei den niederländischen Behörden die Erstattung der Mehrwertsteuer, die ihm für die Vermietung des Fahrzeugs in der Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 1990 in Rechnung gestellt worden war.

6 Diesem Antrag waren die Originale der Rechnungen sowie eine von den belgischen Behörden ausgestellte Bescheinigung beigefügt, nach der Herr Debouche "in Belgien nicht mehrwertsteuerpflichtig ist, da er Dienstleistungen erbringt, die gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie ... befreit sind".

7 In Artikel 2 der Achten Richtlinie wird folgender Grundsatz aufgestellt:

"Jeder Mitgliedstaat erstattet einem Steuerpflichtigen, der nicht im Inland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, unter den nachstehend festgelegten Bedingungen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen im Inland erbrachten Dienstleistungen oder gelieferten beweglichen Gegenstände belastet wurden oder mit der die Einfuhr von Gegenständen ins Inland belastet wurde, soweit diese Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der in Artikel 17 Absatz 3 Buchstaben a) und b) der Richtlinie 77/388/EWG bezeichneten Umsätze oder der in Artikel 1 Buchstabe b) bezeichneten Dienstleistungen verwendet werden."

In Artikel 3 der Achten Richtlinie heisst es:

"Um die Erstattung zu erhalten, muß ein in Artikel 2 genannter Steuerpflichtiger, der im Inland keine Gegenstände liefert oder Dienstleistungen erbringt,

...

b) durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörde des Staates, in dem er ansässig ist, den Nachweis erbringen, daß er Mehrwertsteuerpflichtiger dieses Staates ist. Ist die zuständige Behörde nach Artikel 9 Absatz 1 jedoch bereits im Besitz dieses Nachweises, so braucht der Steuerpflichtige während eines Jahres nach dem Zeitpunkt der ersten Ausstellung der Bescheinigung keine neue Bescheinigung mehr vorzulegen. Für Steuerpflichtige, die eine Steuerbefreiung nach Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 77/388/EWG erhalten, stellen die Mitgliedstaaten keine Bescheinigung aus;

..."

Artikel 5 Absatz 1 der Achten Richtlinie lautet:

"Für die Anwendung dieser Richtlinie wird der Anspruch auf Vorsteuererstattung nach Artikel 17 der Richtlinie 77/388/EWG, wie dieser im Lande der Erstattung angewendet wird, bestimmt."

8 Der zuständige Inspecteur der Invörrechten en Accijnzen wies den Einspruch von Herrn Debouche zurück, der daraufhin beim Gerechtshof Den Haag Klage erhob. Der Kläger des Ausgangsverfahrens trägt u. a. vor, daß er ein Steuerpflichtiger im Sinne von Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie sei und daß gemäß Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie der Erstattungsanspruch den Vorschriften des Erstattungslandes über den Vorsteuerabzug unterliege, so daß die niederländischen Bestimmungen, nach denen Rechtsanwälte die gezahlte Vorsteuer abziehen könnten, auf ihn anzuwenden seien.

9 Das vorlegende Gericht hat in Abschnitt 6.2 seines Vorlageurteils die Ansicht vertreten, daß die Entscheidung dieses Rechtsstreits von der Auslegung der Artikel 3 Buchstabe b und 5 Absatz 1 der Achten Richtlinie in Verbindung mit Artikel 17 Absätze 2 und 3 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie abhänge.

10 Es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht:

Wie sind die ° insbesondere unter 6.2 genannten ° Bestimmungen der Sechsten und der Achten Richtlinie in ihrem wechselseitigen Zusammenhang auszulegen, um den oben näher dargestellten Antrag auf Erstattung der Umsatzsteuer beurteilen zu können?

11 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Artikel 3 Buchstabe b und 5 Absatz 1 der Achten Richtlinie sowie Artikel 17 Absätze 2 und 3 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, daß ein Rechtsanwalt, der in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F der Sechsten Richtlinie eine Befreiung von der Mehrwertsteuer erhält, Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer hat, mit der die ihm in einem anderen Mitgliedstaat, in dem die Leistungen der Rechtsanwälte nicht befreit sind, erbrachten Dienstleistungen belastet wurden.

12 Um eine für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nützliche Antwort geben zu können, ist daran zu erinnern, daß der Steuerpflichtige gemäß Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie, um die Erstattung zu erhalten, durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörde des Staates, in dem er ansässig ist, den Nachweis erbringen muß, daß er Mehrwertsteuerpflichtiger dieses Staates ist.

13 Herr Debouche hat den niederländischen Behörden aber unstreitig keine solche Bescheinigung vorgelegt.

14 Insbesondere ist festzustellen, daß ein Mitgliedstaat einem Rechtsanwalt, der im Inland Dienstleistungen erbringt, die in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F der Sechsten Richtlinie befreit sind, zu Recht keine Bescheinigung im Sinne von Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie ausstellt.

15 Gemäß Artikel 3 Buchstabe b letzter Satz der Achten Richtlinie hat nämlich ein Steuerpflichtiger, der eine Steuerbefreiung erhält und der folglich nicht zum Abzug der im Inland gezahlten Vorsteuer berechtigt ist, nach der Zielsetzung des Systems der Mehrwertsteuerrichtlinien auch keinen Anspruch auf Erstattung der in einem anderen Mitgliedstaat gezahlten Mehrwertsteuer.

16 Diese Auslegung entspricht der Auslegung von Artikel 17 der Sechsten Richtlinie durch den Gerichtshof. Wenn ein Steuerpflichtiger nämlich einem anderen Steuerpflichtigen Dienstleistungen erbringt, die dieser für einen steuerfreien Umsatz verwendet, ist der andere Steuerpflichtige ° abgesehen von den in den einschlägigen Richtlinien ausdrücklich vorgesehenen Fällen ° nicht berechtigt, die entrichtete Vorsteuer abzuziehen (vgl. u. a. Urteil vom 6. April 1995 in der Rechtssache C-4/94, BLP Group, Slg. 1995, I-983, Randnr. 28).

17 Aus Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie geht hervor, daß ein Rechtsanwalt, der die Steuerbefreiung gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F erhält, nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.

18 Ferner ist festzustellen, daß die Achte Richtlinie nicht bezweckt, das durch die Sechste Richtlinie geschaffene System in Frage zu stellen. Nach ihrer dritten Begründungserwägung zielt die Achte Richtlinie vielmehr darauf ab, die Unterschiede zwischen den damals in den Mitgliedstaaten geltenden Bestimmungen zu beseitigen, die mitunter Verkehrsverlagerungen und Wettbewerbsverzerrungen verursachten. Gemäß ihrer fünften Begründungserwägung darf die Achte Richtlinie nicht "dazu führen, daß die Steuerpflichtigen, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sie ansässig sind, unterschiedlich behandelt werden".

19 Diese fünfte Begründungserwägung wird von Herrn Debouche allerdings zur Stützung seines Erstattungsbegehrens herangezogen. Wenn diesem Begehren entsprochen würde, würde er jedoch besser gestellt als die niederländischen Rechtsanwälte, die zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, weil sie besteuerte Umsätze bewirken, während Herr Debouche nur befreite Umsätze bewirkt.

20 Auf die Vorlagefrage ist deshalb zu antworten, daß Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß ein Rechtsanwalt, der in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F der Sechsten Richtlinie eine Steuerbefreiung erhält, aus diesem Grund nicht berechtigt ist, von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats die Ausstellung der in Artikel 3 genannten Bescheinigung zu verlangen, und somit keinen Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer hat, mit der die ihm in einem Mitgliedstaat, in dem er nicht ansässig ist und in dem die Leistungen der Rechtsanwälte nicht befreit sind, erbrachten Dienstleistungen belastet wurden.

Kostenentscheidung


Kosten

21 Die Auslagen der niederländischen, der deutschen und der portugiesischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Gerechtshof Den Haag mit Urteil vom 19. Mai 1993 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 3 Buchstabe b der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige ist dahin auszulegen, daß ein Rechtsanwalt, der in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b und Anhang F der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage eine Steuerbefreiung erhält, aus diesem Grund nicht berechtigt ist, von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats die Ausstellung der in Artikel 3 genannten Bescheinigung zu verlangen, und somit keinen Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer hat, mit der die ihm in einem Mitgliedstaat, in dem er nicht ansässig ist und in dem die Leistungen der Rechtsanwälte nicht befreit sind, erbrachten Dienstleistungen belastet wurden.