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61993J0454

URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1995. - RIJKSDIENST VOOR ARBEIDSVOORZIENING GEGEN JOOP VAN GESTEL. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEIDSHOF BRUSSEL - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - BESTIMMUNG DES ZUSTAENDIGEN STAATES GEMAESS ARTIKEL 17 DER VERORDNUNG (EWG) NR. 1408/71 - WOHNORT UND BESCHAEFTIGUNG IN EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT ALS DEM ZUSTAENDIGEN STAAT - AUFGRUND DES ARTIKELS 71 ABSATZ 1 BUCHSTABE B ZIFFER II GEWAEHRTE LEISTUNGEN BEI ARBEITSLOSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-454/93.

Sammlung der Rechtsprechung 1995 Seite I-01707


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


++++

1. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ° Arbeitslosigkeit ° Arbeitnehmer, der aufgrund einer Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem er beschäftigt ist und wohnt, versichert ist ° Anwendbarkeit von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 17 und 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii)

2. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ° Anwendbare Rechtsvorschriften ° Bestimmung durch Vereinbarung zwischen zwei Mitgliedstaaten ° Rückwirkung ° Zulässigkeit

(Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 17 und 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii)

Leitsätze


1. Das für die Anwendung von Artikel 71 der Verordnung Nr. 1408/71 insgesamt bestimmende Merkmal ist, daß der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen wohnt, dessen Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten haben. Daraus folgt, daß Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii dieser Vorschrift auf arbeitslose Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die während ihrer letzten Beschäftigung in dem Mitgliedstaat wohnten, in dem sie beschäftigt waren, auch dann anwendbar ist, wenn die zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten als Ausnahme von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung gemäß Artikel 17 der Verordnung vereinbart haben, daß der Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit eines dieser Mitgliedstaaten unterliegen soll, der nicht derjenige ist, in dessen Gebiet der Arbeitslose beschäftigt war.

2. Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 ist auf arbeitslose Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die während ihrer letzten Beschäftigung zwar in dem Mitgliedstaat, in dem sie beschäftigt waren, wohnten, aber aufgrund einer Vereinbarung zwischen den zuständigen Behörden nach Artikel 17 der Verordnung Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats unterlagen, auch dann anwendbar, wenn die genannte Vereinbarung zu einer Zeit geschlossen wurde, als der Arbeitnehmer schon in ein und demselben Mitgliedstaat wohnte und arbeitete.

Im Wortlaut des Artikels 17 deutet nämlich nichts darauf hin, daß die Mitgliedstaaten die ihnen durch diese Bestimmung eingeräumte Möglichkeit abweichender Vereinbarungen nur für die Zukunft ausüben könnten. Geist und Regelungszusammenhang des Artikels 17 gebieten es vielmehr, daß eine Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung im Interesse des betroffenen Arbeitnehmers auch für bereits abgelaufene Zeiträume geschlossen werden kann.

Entscheidungsgründe


1 Der Arbeidshof Brüssel hat mit Urteil vom 18. November 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 29. November 1993, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 17 und 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) geänderten und aktualisierten Fassung (im folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Rijksdienst voor Arbeidsvoorziening (Staatliches Arbeitsamt; im folgenden: RVA) und dem niederländischen Staatsangehörigen J. van Gestel wegen der Weigerung des RVA, Herrn van Gestel aufgrund des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Leistungen wegen Arbeitslosigkeit zu gewähren.

3 Herr van Gestel arbeitete vom 1. Juni 1980 an für die Firma Smithkline Beecham BV mit Sitz in den Niederlanden, wo er selbst wohnte.

4 Im Hinblick auf seine vorübergehende Versetzung zu einer Schwestergesellschaft, der SA Norden Europe mit Sitz in Louvain-la-Neuve (Belgien), ließ er sich schon Ende Oktober 1988 in Belgien nieder. Er nahm dort seine Tätigkeit am 1. Dezember 1988 auf.

5 Da Herr van Gestel der niederländischen Sozialversicherung angeschlossen bleiben wollte, wurde zwischen dem belgischen Minister für Soziale Angelegenheiten und dem niederländischen Staatssekretär für Soziale und Arbeitsmarktfragen eine Vereinbarung geschlossen, wonach auf ihm für die Dauer seiner Beschäftigung in Belgien, höchstens jedoch bis zum 30. November 1991, weiterhin das niederländische Recht der sozialen Sicherheit Anwendung finden sollte. Diese zu einer Zeit, als Herr van Gestel schon in Belgien wohnte und arbeitete, geschlossene Vereinbarung war auf Artikel 17 der Verordnung gestützt. Dieser lässt eine Abweichung von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung zu, wonach eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt.

6 Aufgrund einer Umorganisation der SA Norden Europe wurde Herr van Gestel zum 31. Oktober 1990 entlassen. Ihm wurde in den Niederlanden eine Entlassungsentschädigung gezahlt. In der Folgezeit beantragte er bei der belgischen Hulpkas voor Werkloosheidsuitkeringen (Hilfskasse für Arbeitslosenunterstützung) Leistungen wegen Arbeitslosigkeit ab 1. November 1990. Dabei erklärte er, daß er in Anbetracht der in den Niederlanden gezahlten Entschädigung seinen Leistungsantrag vorläufig zurückstelle, aber unter die Versicherung des Rijksdienst voor sociale Zekerheid (belgische Staatliche Anstalt für soziale Sicherheit) fallen möchte.

7 Dieser Antrag wurde am 7. Februar 1991 durch Bescheid des Regionalinspektors für Arbeitslosenfragen von Vilvorde mit der Begründung abgelehnt, daß Herr van Gestel nicht die Voraussetzungen des nach Artikel 67 der Verordnung anzuwendenden belgischen Rechts erfuelle.

8 Herr van Gestel erhob gegen diesen Bescheid Klage bei der Arbeidsrechtbank Brüssel, die dem Bescheid mit Urteil vom 2. Dezember 1991 aufhob und feststellte, daß Herr van Gestel ab 1. November 1990 Anspruch auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit habe. In dem Urteil wurde ausgeführt, daß "zuständiger Träger" im Sinne der Verordnung der niederländische Träger sei und daß Herr van Gestel während des gesamten Zeitraums seiner Beschäftigung in Belgien gewohnt habe, so daß für ihn Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii und nicht die Artikel 67 und 69 der Verordnung gälten.

9 Der RVA legte gegen dieses Urteil Berufung beim Arbeidshof Brüssel ein, der es als erwiesen ansieht, daß Herr van Gestel "während seiner letzten Beschäftigung" in Belgien gewohnt und gearbeitet hat.

10 Der Arbeidshof stellt fest, daß der Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. Oktober 1984 in der Rechtssache 128/83 (Guyot, Slg. 1984, 3507) für Recht erkannt habe, daß Artikel 71 der Verordnung nicht für einen Arbeitslosen gelte, der während seiner letzten Beschäftigung in dem Mitgliedstaat gewohnt habe, in dem er beschäftigt gewesen sei. Er stellt sich die Frage, ob diese Auslegung des Geltungsbereichs des Artikels 71 auch in einem Fall gilt, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt.

11 Da der Ausgang des Rechtsstreits seiner Ansicht nach von der Auslegung der Verordnung abhängt, hat der Arbeidshof Brüssel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 71 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 so auszulegen, daß er auf Arbeitslose, die während ihrer letzten Beschäftigung in dem Mitgliedstaat wohnten, in dem sie beschäftigt waren, auch dann nicht anwendbar ist, wenn die zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten als Ausnahme von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a dieser Verordnung gemäß Artikel 17 dieser Verordnung vereinbart haben, daß der Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit eines dieser Mitgliedstaaten unterliegen soll, der nicht derjenige ist, in dessen Gebiet der Arbeitslose beschäftigt war?

Falls der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen sollte, daß in einem solchen Fall der in der Ausnahmevereinbarung bezeichnete Staat, der nicht derjenige ist, in dem der Arbeitslose zuletzt arbeitete, der zuständige Staat im Sinne von Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii ist: Gilt dies auch dann und kann Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii auch dann angewendet werden, wenn die genannte Vereinbarung zu einer Zeit zustande kam, als der Arbeitnehmer in ein und demselben Mitgliedstaat wohnte und arbeitete, wenn er während dieser letzten Beschäftigung in eben diesem Mitgliedstaat, in dem auch sein Arbeitgeber niedergelassen war, ununterbrochen wohnte und arbeitete und wenn dieser Mitgliedstaat nicht derjenige ist, dessen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer während dieser Beschäftigung aufgrund der Vereinbarung unterlag?

Zur ersten Frage

12 Für den im Vorlageurteil angesprochenen Fall der Vollarbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers, der nicht Grenzgänger ist, bestimmt Artikel 71 Absatz 1 der Verordnung:

"(1) Für die Gewährung der Leistungen an einen arbeitslosen Arbeitnehmer, der während seiner letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des zuständigen Staates wohnte, gilt folgendes:

a) ...

b) i) ...

ii) Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind und die sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dessen Gebiet sie wohnen, oder in das Gebiet dieses Staates zurückkehren, erhalten bei Vollarbeitslosigkeit Leistungen nach den Rechtvorschriften dieses Staates, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären; diese Leistungen gewährt der Träger des Wohnorts zu seinen Lasten. Der Arbeitslose erhält jedoch Leistungen nach Maßgabe des Artikels 69, wenn ihm bereits Leistungen zu Lasten des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats zuerkannt worden waren, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben. Die Gewährung von Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem er wohnt, wird für den Zeitraum ausgesetzt, für den der Arbeitslose gemäß Artikel 69 Leistungen nach den Rechtsvorschriften beanspruchen kann, die zuletzt für ihn gegolten haben."

13 Diese Vorschrift betrifft den Fall, daß der für die Gewährung der Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Staat nicht der Staat ist, in dem der arbeitslose Arbeitnehmer wohnt. Sie differenziert nicht danach, ob sich die Zuständigkeit des bestreffenden Staates aus dem Umstand, daß der Arbeitnehmer dort seine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeuebt hat, oder aus einem anderen Grund ergibt. Daher stellt sich die Frage, welcher Staat in einem Fall, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, der zuständige Staat ist.

14 Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus den Artikeln 13 ff. der Verordnung.

15 Zwar ist nach Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung grundsätzlich der Staat für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständig, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist; doch steht dieser Grundsatz unter dem Vorbehalt der insbesondere in Artikel 17 der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen.

16 Nach der letztgenannten Vorschrift können zwei oder mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Staaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Stellen die Zuständigkeit eines anderen Staates als des Beschäftigungsstaats vereinbaren. Eine solche Vereinbarung ist in dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Fall geschlossen worden, wobei statt des Königreichs Belgien, das grundsätzlich nach Artikel 13 wegen der Lage des Beschäftigungsorts zuständig gewesen wäre, das Königreich der Niederlande als zuständiger Staat bestimmt wurde.

17 Demgemäß ist Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b anwendbar, wenn der zuständige Staat in Abweichung von Artikel 13 aufgrund einer Vereinbarung nach Artikel 17 der Verordnung bestimmt worden ist.

18 Zwar hat der Gerichtshof in seinem Urteil Guyot (a. a. O., Randnr. 8) festgestellt, daß Artikel 71 Absatz 1 der Verordnung nur die Arbeitnehmer betrifft, die in einem anderen als demjenigen Mitgliedstaat wohnten, in dem sie zuletzt beschäftigt waren, und somit zwischen Beschäftigungsstaat und Wohnstaat und nicht zwischen zuständigem Staat und Wohnstaat zu unterscheiden scheint. Dieses Urteil steht aber der oben vorgenommenen Auslegung des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung nicht entgegen. Es bezieht sich lediglich auf den gewöhnlichen durch die Vorschrift erfassten Fall, daß der zuständige Staat der Staat ist, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt war. Es schließt nicht aus, daß der zuständige Staat gegebenenfalls durch eine Vereinbarung nach Artikel 17 der Verordnung bestimmt worden ist.

19 In einem Fall, wie er dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, steht somit der Umstand, daß der Staat der letzten Beschäftigung des Arbeitnehmers mit dessen Wohnstaat identisch ist, der Anwendung von Artikel 71 Absatz 1 der Verordnung nicht entgegen, da der zuständige Staat nicht zugleich der Wohnstaat ist.

20 Diese Auslegung wird durch den Zweck des Artikels 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii bestätigt, der darin besteht, dem Wanderarbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu den Bedingungen zu garantieren, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten sind (Urteil vom 22. September 1988 in der Rechtssache 236/87, Bergemann, Slg. 1988, 5125, Randnr. 18).

21 Durch diese Vorschrift soll es den Wanderarbeitnehmern nämlich ermöglicht werden, Leistungen bei Arbeitslosigkeit in ihrem Wohnstaat zu beziehen.

22 Diese Möglichkeit ist bei einzelnen Gruppen von Arbeitnehmern gerechtfertigt, die enge ° insbesondere persönliche und berufliche ° Bindungen zu dem Land haben, in dem sie sich niedergelassen haben und gewöhnlich aufhalten. Denn normalerweise haben Arbeitnehmer mit derartigen Bindungen zu dem Staat, in dem sie wohnen, in diesem Staat auch die besten Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung (siehe z. B. Urteil Bergemann, a. a. O., Randnr. 20).

23 Damit der genannte Zweck erreicht wird, eröffnet die fragliche Vorschrift dem Arbeitnehmer, der am besten in der Lage ist, die Möglichkeiten einer beruflichen Wiedereingliederung zu beurteilen, eine Wahlmöglichkeit. Er kann sich dem System der Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Staat seiner letzten Beschäftigung unterstellen oder die Leistungen seines Wohnstaats in Anspruch nehmen. Die Wahlmöglichkeit wird bei einem Vollarbeitslosen, der sich für die Rechtsvorschriften des Staates entscheidet, in dem er wohnt, insbesondere und sogar ausschließlich dadurch ausgeuebt, daß der Betroffene sich der Arbeitsverwaltung des Staates zur Verfügung stellt, von dem die Gewährung von Leistungen verlangt wird. Dagegen kann der Arbeitnehmer weder die Beträge der Arbeitslosenunterstützung beider Staaten kumulieren noch, wenn er sich nur der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, zur Verfügung gestellt hat, die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit von dem Staat fordern, in dem er zuletzt beschäftigt war (Urteil vom 27. Mai 1982 in der Rechtssache 227/81, Aubin, Slg. 1982, 1991, Randnr. 19).

24 Im übrigen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes das für die Anwendung von Artikel 71 insgesamt bestimmende Merkmal, daß der Betroffene in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen wohnt, dessen Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung gegolten haben (zuletzt Urteil vom 27. Januar 1994 in der Rechtssache C-287/92, Maitland Toosey, Slg. 1994, I-279, Randnr. 13).

25 Daraus folgt, daß Artikel 71 selbst dann anwendbar ist, wenn der Arbeitnehmer während seiner letzten Beschäftigung ° ununterbrochen oder mit Unterbrechungen ° im Gebiet des Mitgliedstaats gewohnt und gearbeitet hat, in dem auch sein Arbeitgeber niedergelassen ist.

26 Zwar wird es dem Arbeitnehmer durch die Anwendung der ausgelegten Vorschrift ermöglicht, Leistungen bei Arbeitslosigkeit in einem Mitgliedstaat zu erhalten, in dem er während seiner letzten Beschäftigung keine Beiträge entrichtet hat. Dabei handelt es sich aber um eine Auswirkung, die der Gemeinschaftsgesetzgeber aufgrund seines Bestrebens, dem Arbeitnehmer möglichst gute Chancen für die berufliche Wiedereingliederung zu sichern, gewollt hat.

27 Somit ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung so auszulegen ist, daß er auf Arbeitslose, die während ihrer letzten Beschäftigung in dem Mitgliedstaat wohnten, in dem sie beschäftigt waren, auch dann anwendbar ist, wenn die zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten als Ausnahme von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a dieser Verordnung gemäß Artikel 17 dieser Verordnung vereinbart haben, daß der Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit eines dieser Mitgliedstaaten unterliegen soll, der nicht derjenige ist, in dessen Gebiet der Arbeitslose beschäftigt war.

Zur zweiten Frage

28 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung auch dann anwendbar ist, wenn die auf Artikel 17 der Verordnung gestützte Vereinbarung zu einer Zeit geschlossen wurde, als der Arbeitnehmer schon in ein und demselben Mitgliedstaat arbeitete und wohnte.

29 Wie in dem Urteil von 17. Mai 1984 in der Rechtssache 101/83 (Brusse, Slg. 1984, 2223, Randnr. 20) ausgeführt worden ist, deutet im Wortlaut des Artikels 17 nichts darauf hin, daß die Mitgliedstaaten die ihnen durch diese Bestimmung eingeräumte Möglichkeit abweichender Vereinbarungen nur für die Zukunft ausüben könnten. Geist und Regelungszusammenhang des Artikels 17 gebieten es vielmehr, daß eine Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung im Interesse des oder der betroffenen Arbeitnehmer auch für bereits abgelaufene Zeiträume geschlossen werden kann (ebenda, Randnr. 21).

30 Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, daß Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b auch dann anwendbar ist, wenn die auf Artikel 17 der Verordnung gestützte Vereinbarung zu einer Zeit geschlossen wurde, als der Arbeitnehmer schon in ein und demselben Mitgliedstaat arbeitete und wohnte.

Kostenentscheidung


Kosten

31 Die Auslagen der deutschen, der französischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren vor dem Gerichtshof ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Arbeidshof Brüssel mit Urteil vom 18. November 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Artikel 71 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 ist so auszulegen, daß er auf Arbeitslose, die während ihrer letzten Beschäftigung in dem Mitgliedstaat wohnten, in dem sie beschäftigt waren, auch dann anwendbar ist, wenn die zuständigen Behörden zweier Mitgliedstaaten als Ausnahme von Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a dieser Verordnung gemäß Artikel 17 dieser Verordnung vereinbart haben, daß der Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit eines dieser Mitgliedstaaten unterliegen soll, der nicht derjenige ist, in dessen Gebiet der Arbeitslose beschäftigt war.

2) Diese Vorschrift ist auch dann anwendbar, wenn die auf Artikel 17 der Verordnung gestützte Vereinbarung zu einer Zeit geschlossen wurde, als der Arbeitnehmer schon in ein und demselben Mitgliedstaat wohnte und arbeitete.