Avis juridique important
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 17. September 1997. - Fazenda Pública gegen Solisnor-Estaleiros Navais SA, Beteiligter: Ministério Pùblico. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Supremo Tribunal Administrativo - Portugal. - Mehrwertsteuer - Artikel 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie - Beibehaltung von Eintragungsgebühren - Stempelsteuern auf den Wert von Verträgen über den Bau eines Tankschiffs. - Rechtssache C-130/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-05053
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Verbot, andere nationale Steuern zu erheben, die den Charakter von Umsatzsteuern haben - Zweck - Begriff der "Umsatzsteuern" - Bedeutung - Stempelsteuer, die nur einen Teil der Umsätze erfasst - Ausschluß
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 33)
Da Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern verhindern soll, daß das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems durch steuerliche Maßnahmen eines Mitgliedstaats beeinträchtigt wird, die den Waren- und Dienstleistungsverkehr belasten und kommerzielle Umsätze in der die Mehrwertsteuer kennzeichnenden Art und Weise erfassen, steht er der Beibehaltung einer nationalen Steuer nicht entgegen, die die Merkmale einer auf Werkverträge und Verträge über die Lieferung von Materialien oder anderen Verbrauchsgegenständen unter Ausschluß eines erheblichen Teils der Umsätze in diesem Mitgliedstaat erhobenen Stempelsteuer aufweist und keine allgemeine Steuer ist, da sie nicht darauf abzielt, die Gesamtheit der wirtschaftlichen Vorgänge in dem beteiligten Mitgliedstaat zu erfassen, und somit keines der wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweist.
1 Das Supremo Tribunal Administrativo hat mit Urteil vom 28. Februar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 24. April 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) sowie des Artikels 378 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1985, L 302, S. 23; im folgenden: Beitrittsakte) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Solisnor-Estaleiros Navais SA (im folgenden: Klägerin) und der Fazenda Pública (Finanzverwaltung; im folgenden: Beklagte) über die Erhebung einer in Artikel 91 der Tabela Geral do Imposto do Selo (allgemeine Tabelle der Stempelsteuer; im folgenden: TGIS) vorgesehenen Abgabe in Form einer Stempelsteuer.
3 Die Klägerin zahlte am 4. Juni 1992 Stempelsteuer in Höhe von 43 586 400 ESC für einen am 28. Dezember 1989 mit der Sociedade Portugüsa de Navios e Tanques SA geschlossenen Werkvertrag über den Bau eines Tankschiffs zur Beförderung von Rohöl.
4 Sie erhob sodann beim Tribunal Tributário de Primeira Instância Setúbal Klage auf Aufhebung dieser Steuer; dieses Gericht gab ihrer Klage mit der Begründung statt, die Steuer verstosse gegen Artikel 33 der Sechsten Richtlinie.
5 Diese Vorschrift lautet wie folgt: "Unbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen hindern die Bestimmungen dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, auf Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern, sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen."
6 Die Beklagte hat gegen das Urteil des Tribunal Tributário de Primeira Instância Setúbal Berufung beim Supremo Tribunal Administrativo eingelegt und geltend gemacht, die Stempelsteuer sei keine Umsatzsteuer, so daß sie nicht gegen Artikel 33 der Sechsten Richtlinie verstosse.
7 Die Klägerin hat dagegen vorgetragen, die Stempelsteuer sei angesichts ihrer Merkmale als allgemeine, im Verhältnis zum Preis der Leistungen stehende Steuer eine Umsatzsteuer im Sinne der zitierten Vorschrift, so daß sie nicht mit dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem vereinbar sei.
8 Wie sich aus den Akten ergibt, wird diese Steuer nach Artikel 1 der Regelung über die Stempelsteuer, enthalten in der Verordnung Nr. 12700 vom 20. November 1926, allgemein "auf alle in der TGIS genannten Dokumente, Bücher, Papiere, Akten und Erzeugnisse" erhoben. Gemäß Artikel 91 TGIS betrifft sie insbesondere "Werkverträge und Lieferungen von Material oder Verbrauchsartikeln". Die Höhe der Stempelsteuer errechnet sich nach Maßgabe eines je nach Vertragsgegenstand unterschiedlichen Satzes, der auf den Gegenstandswert angewandt wird.
9 Artikel 91 TGIS wurde aufgehoben durch Artikel 3 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 223/91 vom 18. Juni 1991, in deren Begründungserwägungen die Aufhebung der Artikel über Werkverträge - zu denen Artikel 91 gehört - mit deren "Unvereinbarkeit mit der auf die Mehrwertsteuer übergegangenen allgemeinen Besteuerung des Verbrauchs" begründet wurde.
10 In seinem Vorlageurteil weist das Supremo Tribunal Administrativo darauf hin, daß am 28. Dezember 1989, dem Zeitpunkt des steuerbaren Vorgangs, Artikel 91 TGIS noch anwendbar gewesen sei, obwohl die Portugiesische Republik gemäß Artikel 395 und Anhang XXXVI Punkt II der Beitrittsakte seit dem 1. Januar 1989 die erforderlichen Maßnahmen hätte in Kraft setzen müssen, um der Sechsten Richtlinie nachzukommen. Das Gericht fragt sich jedoch, ob die Beibehaltung einer solchen Steuer nicht durch Artikel 378 und Anhang XXXII der Beitrittsakte zugelassen war, die es der Portugiesischen Republik erlauben, eine Steuerbefreiung zu gewähren und verschiedene Befreiungen vorzunehmen.
11 Das Gericht hat es daher für angebracht gehalten, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist eine Stempelsteuer mit den dargestellten Merkmalen als Umsatzsteuer im Sinne des Artikels 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen, möglicherweise unter Vorbehalt des Artikels 378 der Beitrittsakte oder einer anderen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts?
12 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 33 der Sechsten Richtlinie der Beibehaltung einer nationalen Steuer entgegensteht, die die Merkmale einer auf Werkverträge und Verträge über die Lieferung von Material oder Verbrauchsartikeln erhobenen Stempelsteuer aufweist und deren Bemessungsgrundlage der Vertragswert ist. Bejahendenfalls fragt das Gericht, ob die Beibehaltung einer solchen Steuer durch Artikel 378 und Anhang XXXII der Beitrittsakte oder irgendeine andere Bestimmung des Gemeinschaftsrechts zugelassen ist.
13 Nach ständiger Rechtsprechung (siehe u. a. Urteile vom 27. November 1985 in der Rechtssache 295/84, Rousseau Wilmot, Slg. 1985, 3759, Randnr. 16, vom 7. Mai 1992 in der Rechtssache C-347/90, Bozzi, Slg. 1992, I-2947, Randnr. 9, und vom 16. Dezember 1992 in der Rechtssache C-208/91, Beaulande, Slg. 1992, I-6709, Randnr. 12) soll Artikel 33 der Sechsten Richtlinie, indem er den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Beibehaltung oder Einführung bestimmter indirekter Abgaben, wie z. B. von Verbrauchsteuern, belässt, sofern es sich dabei nicht um Abgaben handelt, "die ... den Charakter von Umsatzsteuern haben", verhindern, daß das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems durch steuerliche Maßnahmen eines Mitgliedstaats beeinträchtigt wird, die den Waren- und Dienstleistungsverkehr belasten und kommerzielle Umsätze in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Art und Weise erfassen.
14 Auf jeden Fall sind Steuern, Abgaben und Gebühren, die die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen, als solche Maßnahmen anzusehen. Wie der Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat, handelt es sich um folgende Merkmale: Die Mehrwertsteuer gilt ganz allgemein für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte; sie ist proportional zum Preis dieser Gegenstände und Dienstleistungen; sie wird auf jeder Stufe der Erzeugung und des Vertriebs erhoben, und sie bezieht sich schließlich auf den Mehrwert der Gegenstände und Dienstleistungen, d. h., es wird die bei einem Geschäft fällige Steuer unter Abzug der Steuer berechnet, die bei dem vorhergehenden Geschäft schon entrichtet worden ist (siehe insbesondere Urteile vom 3. März 1988 in der Rechtssache 252/86, Bergandi, Slg. 1988, 1343, Randnr. 15, vom 13. Juli 1989 in den verbundenen Rechtssachen 93/88 und 94/88, Wisselink u. a., Slg. 1989, 2671, Randnr. 18, vom 19. März 1991 in der Rechtssache C-109/90, Giant, Slg. 1991, I-1385, Randnrn. 11 und 12, vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-200/90, Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217, Randnr. 11, Bozzi, a. a. O., Randnr. 12, und Beaulande, a. a. O., Randnrn. 12 und 14).
15 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie der Beibehaltung oder Einführung von Eintragungsgebühren oder von Steuern, Abgaben und Gebühren anderer Art nicht entgegensteht, sofern diese nicht die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen.
16 Daher ist zu prüfen, ob eine Steuer der vom vorlegenden Gericht ewähnten Art, solche Merkmale aufweist.
17 Hierzu genügt der Hinweis, daß eine Stempelsteuer, wie sie das vorlegende Gericht beschreibt, keine allgemeine Steuer ist, da sie nicht darauf abzielt, die Gesamtheit der wirtschaftlichen Vorgänge in dem beteiligten Mitgliedstaat zu erfassen (vgl. in diesem Sinne Urteil Beaulande, a. a. O., Randnr. 16). Diese Steuer wird nämlich nach Artikel 1 der Regelung über die Stempelsteuer nur auf die "in der TGIS genannten Dokumente, Bücher, Papiere, Akte und Erzeugnisse" erhoben, und zwar gemäß Artikel 91 TGIS insbesondere auf "Werkverträge und Lieferungen von Material oder Verbrauchsartikeln", unter Ausschluß eines erheblichen Teils der wirtschaftlichen Vorgänge in dem beteiligten Mitgliedstaat, wie etwa der Dienstleistungsverträge oder der Kaufverträge über bewegliche Sachen, die unter die - heute aufgehobenen - ehemaligen Artikel 141 bzw. 50 Absatz 1 Buchstabe a TGIS fielen.
18 Aus den Akten ergibt sich zwar, daß Artikel 91 TGIS Teil eines Besteuerungssystems war, das sämtliche Umsätze betreffend Gegenstände und Leistungen erfassen sollte. Jedoch sind verschiedene Kategorien von Umsätzen schrittweise aus dem Anwendungsbereich dieses Systems herausgenommen worden, und zwar infolge der Aufhebung verschiedener Artikel der TGIS, etwa der erwähnten Artikel 50 Absatz 1 Buchstabe a oder 141 im Augenblick des Inkrafttretens des Mehrwertsteuergesetzes in der portugiesischen Rechtsordnung (vgl. Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe d der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 394-B/84 vom 26. Dezember 1984, D. R., Serie I, Nr. 297, in der Fassung des Gesetzes Nr. 3/86 vom 7. Februar 1986, D. R., Serie I, Nr. 32).
19 Aufgrund dessen ist - ohne daß ihre sonstigen Besonderheiten geprüft werden müssten - festzustellen, daß eine Steuer der vom vorlegenden Gericht erwähnten Art keines der wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweist.
20 Somit ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, daß er der Beibehaltung einer nationalen Steuer nicht entgegensteht, die die Merkmale einer Stempelsteuer aufweist, die auf Werkverträge und Verträge über die Lieferung von Material oder Verbrauchsartikeln unter Ausschluß eines erheblichen Teils der wirtschaftlichen Vorgänge in dem beteiligten Mitgliedstaat erhoben wird.
Kosten
21 Die Auslagen der portugiesischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Erste Kammer)
auf die ihm vom Supremo Tribunal Administrativo mit Urteil vom 28. Februar 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß er der Beibehaltung einer nationalen Steuer nicht entgegensteht, die die Merkmale einer Stempelsteuer aufweist, die auf Werkverträge und Verträge über die Lieferung von Material oder Verbrauchsartikeln unter Ausschluß eines erheblichen Teils der wirtschaftlichen Vorgänge in dem beteiligten Mitgliedstaat erhoben wird.