Avis juridique important
Urteil des Gerichtshofes vom 12. Mai 1998. - Eheleute Robert Gilly gegen Directeur des services fiscaux du Bas-Rhin. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Strasbourg - Frankreich. - Artikel 6, 48 und 220 EG-Vertrag - Gleichbehandlungspflicht - Bilaterales Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung - Grenzgänger. - Rechtssache C-336/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-02793
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
1 EG-Vertrag - Artikel 220 zweiter Gedankenstrich - Keine unmittelbare Wirkung
(EG-Vertrag, Artikel 220)
2 Freizuegigkeit - Arbeitnehmer - Gleichbehandlung - Entgelt - Einkommensteuern - Im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats erzielte Einkünfte - Grenzgänger - Anwendung der Vorschriften eines bilateralen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung - Zulässigkeit
(EG-Vertrag, Artikel 48 und 220)
3 Freizuegigkeit - Arbeitnehmer - Gleichbehandlung - Entgelt - Einkommensteuern - Im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats erzielte Einkünfte - Anwendung eines in einem bilateralen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vorgesehenen Steueranrechnungsverfahrens - Zulässigkeit
(EG-Vertrag, Artikel 48)
4 Artikel 220 des Vertrages will keinen unmittelbar geltenden Rechtssatz aufstellen, sondern steckt nur den Rahmen für von den Mitgliedstaaten "soweit erforderlich" untereinander einzuleitende Verhandlungen ab. Als Ziel dieser etwaigen Verhandlungen wird in seinem zweiten Gedankenstrich lediglich die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft angegeben.
Auch wenn die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft also zu den Zielen des Vertrages gehört, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, daß diese dem einzelnen nicht aus sich heraus Rechte gewähren kann, auf die er sich vor den nationalen Gerichten berufen kann.
Daraus folgt, daß Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages keine unmittelbare Wirkung entfaltet.
5 Artikel 48 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des am 21. Juli 1959 unterzeichneten Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen, geändert durch die in Bonn unterzeichneten Zusatzabkommen vom 9. Juni 1969 und vom 28. September 1989, nicht entgegensteht, die eine unterschiedliche Besteuerung zum einen für Grenzgänger vorsehen, je nachdem, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind und, wenn sie im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen Verwaltung sie beschäftigt sind, besitzen oder nicht, und zum anderen für Lehrkräfte, je nachdem, ob ihr Aufenthalt in dem Staat, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben, von kurzer Dauer ist oder nicht.
Die durch diese Bestimmungen vorgenommenen Unterscheidungen können - selbst wenn diejenige, die die Vergütungen aus öffentlichen Kassen betrifft, an die Staatsangehörigkeit anknüpft - nicht so gewertet werden, als begründeten sie eine durch Artikel 48 des Vertrages verbotene unterschiedliche Behandlung. Sie ergeben sich nämlich, in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen insbesondere nach Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages, aus der Befugnis der Vertragsparteien, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit untereinander festzulegen, um Doppelbesteuerungen zu beseitigen.
6 Artikel 48 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen nicht entgegensteht.
Eine solche Bestimmung soll lediglich verhindern, daß ein und dieselben Einkünfte in beiden Staaten besteuert werden. Sie soll nicht gewährleisten, daß die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen Staat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben werden. Die nachteiligen Auswirkungen, die in manchen Fällen mit dem durch das bilaterale Abkommen eingeführten Steueranrechnungsverfahren, so wie es im Rahmen des Steuersystems des Wohnsitzstaats angewendet wird, möglicherweise verbunden sind, ergeben sich jedoch unstreitig in erster Linie aus den unterschiedlichen Steuersätzen der betreffenden Mitgliedstaaten, deren Festsetzung in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung auf diesem Gebiet in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.
1 Das Tribunal administratif Straßburg hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 10. Oktober 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Oktober 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag sechs Fragen nach der Auslegung der Artikel 6, 48 und 220 dieses Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich im Rahmen mehrerer Rechtsstreitigkeiten zwischen den Klägern des Ausgangsverfahrens, Herrn und Frau Gilly, und dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, dem Directeur des services fiscaux du Bas-Rhin, über die Berechnung der Einkommensteuer für natürliche Personen für die Jahre 1989, 1990, 1991, 1992 und 1993 aufgrund des am 21. Juli 1959 unterzeichneten Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern (im folgenden: Abkommen), geändert durch in Bonn unterzeichnete Zusatzabkommen vom 9. Juni 1969 und vom 28. September 1989.
3 Herr und Frau Gilly haben ihren Wohnsitz in Frankreich nahe der deutschen Grenze. Herr Gilly ist französischer Staatsangehöriger und Lehrer im öffentlichen Schulwesen in Frankreich. Frau Gilly ist deutsche Staatsangehörige und hat durch die Eheschließung auch die französische Staatsangehörigkeit erworben; sie ist Lehrerin an einer öffentlichen Schule in Deutschland, die im Grenzgebiet liegt.
4 Zur Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit stellt Artikel 13 Absatz 1 des Abkommens folgenden Grundsatz auf:
"Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit können vorbehaltlich der Vorschriften der nachstehenden Absätze nur in dem Vertragstaate besteuert werden, in dem die persönliche Tätigkeit, aus der die Einkünfte herrühren, ausgeuebt wird. Als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gelten insbesondere Gehälter, Besoldungen, Löhne, Gratifikationen oder sonstige Bezuege sowie alle ähnlichen Vorteile, die von anderen als den in Artikel 14 bezeichneten Personen gezahlt oder gewährt werden."
5 Artikel 13 Absatz 5 Buchstabe a enthält für nichtselbständige Grenzgänger, die im Wohnsitzstaat steuerpflichtig sind, eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Besteuerung im Beschäftigungsland erfolgt:
"Abweichend von den Absätzen 1, 3 und 4 können Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaats arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie in der Regel jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaats haben, nur in diesem anderen Staat besteuert werden".
6 Für Steuerpflichtige, die Gehälter und Ruhegehälter des öffentlichen Sektors erhalten, bestimmt Artikel 14 Absatz 1 des Abkommens jedoch, daß diese grundsätzlich im Kassenstaat der Steuerpflicht unterliegen:
"Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen sowie Ruhegehälter, die einer der Vertragsstaaten, ein Land oder eine juristische Person des öffentlichen Rechtes dieses Staates oder Landes an in dem anderen Staat ansässige natürliche Personen für gegenwärtige oder frühere Dienstleistungen in der Verwaltung oder in den Streitkräften zahlt, können nur in dem erstgenannten Staate besteuert werden. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Vergütungen an Personen gezahlt werden, die die Staatsangehörigkeit des anderen Staates besitzen, ohne zugleich Staatsangehörige des erstgenannten Staates zu sein; in diesem Falle können die Vergütungen nur von dem Staate besteuert werden, in dem diese Personen ansässig sind."
7 Artikel 16 des Abkommens enthält eine Sonderregelung für Gastlehrkräfte, nach der die Besteuerung weiterhin durch den Herkunftsbeschäftigungsstaat erfolgt:
"Hochschullehrer oder Lehrer, die in einem der Vertragsstaaten ansässig sind und während eines vorübergehenden Aufenthaltes von höchstens zwei Jahren eine Vergütung für eine Lehrtätigkeit an einer Universität, Hochschule, Schule oder einer anderen Lehranstalt in dem anderen Staat erhalten, können hinsichtlich dieser Vergütung nur in dem erstgenannten Staate besteuert werden."
8 Zur Doppelbesteuerung heisst es in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens in der Fassung des Zusatzabkommens vom 28. September 1989:
"(2) Bei Personen, die in Frankreich ansässig sind, wird die Doppelbesteuerung wie folgt vermieden:
a) Gewinne und andere positive Einkünfte, die aus der Bundesrepublik stammen und die dort nach diesem Abkommen besteuert werden können, können auch in Frankreich besteuert werden, wenn sie einer in Frankreich ansässigen Person zufließen. Die deutsche Steuer ist für die Berechnung der in Frankreich steuerpflichtigen Einkünfte nicht abzugsfähig. Der Empfänger hat jedoch Anspruch auf einen Anrechnungsbetrag bei der französischen Steuer, in deren Bemessungsgrundlage diese Einkünfte enthalten sind. Dieser Steueranrechnungsbetrag entspricht
...
cc) bei allen anderen Einkünften dem Betrag der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer. Diese Bestimmung gilt insbesondere auch für die Einkünfte, die unter Artikel ... 13 Absätze 1 und 2 und Artikel 14 fallen."
9 Wie sich aus dem Vorlageurteil ergibt, entspricht der Steueranrechnungsbetrag nach der sogenannten Regel des Effektivsteuersatzes dem Produkt des Betrages der in Deutschland besteuerten Nettöinkünfte und des Steuersatzes, der sich aus dem Verhältnis zwischen der Steuer, die aufgrund der nach den französischen Rechtsvorschriften zu besteuernden Nettogesamteinkünfte tatsächlich geschuldet wird, und dem Betrag dieser Nettogesamteinkünfte ergibt.
10 Dieser auf die französische Steuer anrechenbare Betrag kann dem vorlegenden Gericht zufolge wegen der stärkeren Progression des deutschen Steuersystems niedriger sein als die in Deutschland tatsächlich gezahlte Steuer. Bei den französischen Grenzgängern, die sowohl in Deutschland mit ihren dort erzielten Einkünften als auch in Frankreich mit ihren Gesamteinkünften nach Abzug des oben genannten Steueranrechnungsbetrags der Steuer unterlägen, könne die Besteuerung somit höher sein als bei Personen, die die gleichen Einkünfte erzielt hätten, dies aber ausschließlich in Frankreich.
11 Im vorliegenden Fall sind die von Frau Gilly in den Jahren 1989, 1990, 1991, 1992 und 1993 in Deutschland empfangenen Dienstbezuege nach Artikel 14 Absatz 1 des Abkommens in Deutschland besteuert worden, da sie deutsche Staatsangehörige ist. Diese Bezuege sind aufgrund von Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a des Abkommens auch in Frankreich besteuert worden. Nach Doppelbuchstabe cc dieser Vorschrift hat die Besteuerung dieser Einkünfte in Deutschland jedoch einen Anspruch auf Steueranrechnung in Höhe der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer eröffnet.
12 In ihren mit Klageschriften vom 8. Juli 1992 und vom 21. Juli 1995 beim Tribunal administratif Straßburg erhobenen Klagen haben die Kläger geltend gemacht, die Anwendung der genannten Bestimmungen des Abkommens habe zu einer ungerechtfertigten und diskriminierenden Höherbesteuerung geführt, die insbesondere gegen die Artikel 6 (ehemals Artikel 7 EWG-Vertrag), 48 und 220 EG-Vertrag verstosse. Sie haben daher die Befreiung von den streitigen Steuern und die Erstattung der ihrer Auffassung nach zu Unrecht erhobenen Steuern durch die Finanzverwaltung beantragt.
13 Da das Tribunal administratif Straßburg der Ansicht ist, daß die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten von der Auslegung der Artikel 6, 48 und 220 des Vertrages abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Vorabentscheidungsfragen vorgelegt:
1. Verstösst eine für Grenzgänger geltende steuerliche Regelung der im deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehenen Art insofern gegen den Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, wie er sich aus dem EWG-Vertrag und seinen Durchführungsvorschriften ergibt, als sie für Personen, deren Vergütung von einer öffentlichen Einrichtung stammt, und für Personen, die von Privatpersonen eine Vergütung erhalten, unterschiedliche Modalitäten der Besteuerung vorsieht und aus diesem Grund in Abhängigkeit davon, ob sich der Wohnort im einen oder im anderen Staat befindet, Einfluß auf den Zugang zu öffentlichen oder privaten Arbeitsplätzen haben kann?
2. Ist eine Vorschrift, nach der ein Grenzgänger, der eine Vergütung von einem Staat oder von einer ihm unterstehenden Person des öffentlichen Rechts bezieht, in diesem Staat besteuert wird, während die Vergütung in dem Staat besteuert wird, in dem der Grenzgänger ansässig ist, wenn er die Staatsangehörigkeit des anderen Staates besitzt, ohne zugleich Staatsangehöriger des erstgenannten Staates zu sein, mit dem Grundsatz der Freizuegigkeit und der Abschaffung jeder Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vereinbar?
3. Ist eine steuerrechtliche Vorschrift, nach der Grenzgänger, die bei Personen des öffentlichen Rechts beschäftigt und in einem der Mitgliedstaaten ansässig sind, unterschiedlich besteuert werden, je nachdem, ob sie ausschließlich Staatsangehörige dieses Staates sind oder die doppelte Staatsangehörigkeit haben, mit Artikel 7 [nunmehr Artikel 6] des Vertrages vereinbar?
4. Verstossen steuerliche Vorschriften, die - in Anbetracht der Unterschiede bei den steuerlichen Regelungen der Vertragsstaaten je nach der Dauer der Beschäftigung - die Entscheidung der Lehrkräfte der fraglichen Staaten beeinflussen können, ihre Beschäftigung mehr oder weniger dauerhaft in einem anderen Staat auszuüben, gegen den Grundsatz der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer, wie er sich aus dem Vertrag ergibt?
5. Ist zum einen dem in Artikel 220 des Vertrages festgelegten Ziel der Beseitigung der Doppelbesteuerung in Anbetracht der den Staaten zu seiner Verwirklichung gesetzten Fristen nunmehr der Charakter einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift beizumessen, nach der die Doppelbesteuerung nicht mehr stattfinden darf, und verstösst zum anderen ein Doppelbesteuerungsabkommen, nach dem die für Grenzgänger der Vertragsstaaten des Abkommens geltende steuerliche Regelung von ihrer Staatsangehörigkeit und vom öffentlichen oder privaten Charakter der ausgeuebten Beschäftigung abhängt, gegen das den Mitgliedstaaten durch Artikel 220 gesteckte Ziel der Beseitigung der Doppelbesteuerung? Wird eine Regelung zur Steueranrechnung, die für in einem Staat ansässige Ehegatten gilt und nach der nicht der genaue Betrag der in einem anderen Staat gezahlten Steuer berücksichtigt wird, sondern nur ein unter Umständen niedrigerer Steueranrechnungsbetrag, dem den Mitgliedstaaten gesteckten Ziel der Vermeidung der Doppelbesteuerung gerecht?
6. Ist Artikel 48 dahin auszulegen, daß er es nicht zulässt, daß Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die als Grenzgänger in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, aufgrund eines Steueranrechnungsverfahrens der im deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommen vorgesehenen Art stärker besteuert werden als Personen, die in ihrem Wohnsitzstaat erwerbstätig sind?
Zur fünften Frage
14 Die fünfte Frage des vorlegenden Gerichts, die als erste zu behandeln ist, betrifft die unmittelbare Anwendbarkeit von Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages.
15 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat (Urteil vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681, Randnr. 11), will Artikel 220 keinen unmittelbar geltenden Rechtssatz aufstellen, sondern steckt nur den Rahmen für von den Mitgliedstaaten "soweit erforderlich" untereinander einzuleitende Verhandlungen ab. Als Ziel dieser etwaigen Verhandlungen wird in seinem zweiten Gedankenstrich lediglich die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft angegeben.
16 Auch wenn die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft also zu den Zielen des Vertrages gehört, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, daß diese dem einzelnen nicht aus sich heraus Rechte gewähren kann, auf die er sich vor den nationalen Gerichten berufen kann.
17 Folglich ist auf die fünfte Frage zu antworten, daß Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages keine unmittelbare Wirkung entfaltet.
Zur ersten, zweiten und vierten Frage
18 Die erste, zweite und vierte Frage des vorlegenden Gerichts gehen dahin, ob Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des Abkommens entgegensteht, die eine unterschiedliche Besteuerung zum einen für Grenzgänger vorsehen, je nachdem, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, und, wenn sie im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen Verwaltung sie beschäftigt sind, besitzen oder nicht, und zum anderen für Lehrkräfte, je nachdem, ob ihr Aufenthalt in dem Staat, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben, von kurzer Dauer ist oder nicht.
Anwendbarkeit von Artikel 48 des Vertrages
19 Vorab ist zu prüfen, ob eine Situation wie diejenige, in der sich die Kläger des Ausgangsverfahrens befinden, unter die Bestimmungen des Vertrages über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer fällt.
20 In der mündlichen Verhandlung hat die französische Regierung die Auffassung vertreten, Frau Gilly habe die ihr durch Artikel 48 des Vertrages übertragenen Rechte nicht in Frankreich ausgeuebt, da sie in ihrem Herkunftsland Deutschland gearbeitet habe.
21 Hierzu genügt die Feststellung, daß Frau Gilly durch ihre Eheschließung die französische Staatsangehörigkeit erworben hat und ihre berufliche Tätigkeit in Deutschland ausübt, ihren Wohnsitz aber in Frankreich hat. Aufgrund dessen ist sie im letztgenannten Staat als Arbeitnehmer anzusehen, der von seinem durch den Vertrag gewährleisteten Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch macht, um einer Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nachzugehen. Der Umstand, daß sie die Staatsangehörigkeit des Beschäftigungsstaats behalten hat, ändert nichts daran, daß sie für die französischen Behörden als französische Staatsangehörige ihre berufliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ausübt (vgl. in diesem Sinn Urteil vom 19. Januar 1988 in der Rechtssache 292/86, Gullung, Slg. 1988, 111, Randnr. 12).
22 Ein Fall wie derjenige des Ausgangsverfahrens fällt daher in den Anwendungsbereich des Artikels 48 des Vertrages.
Vereinbarkeit der steuerlichen Anknüpfungsfaktoren mit Artikel 48 des Vertrages
23 Zwar gehört die Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der Gemeinschaft, wie sich aus Randnummer 16 ergibt, zu den Zielen des Vertrages, doch ist festzustellen, daß bis heute - abgesehen vom Übereinkommen vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (ABl. L 225, S. 10) - auf Gemeinschaftsebene keine Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahme zur Beseitigung der Doppelbesteuerung erlassen worden ist und daß die Mitgliedstaaten kein multilaterales Übereinkommen nach Artikel 220 des Vertrages mit diesem Ziel geschlossen haben.
24 Die Mitgliedstaaten, die dafür zuständig sind, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um - gegebenenfalls im Vertragswege - die Doppelbesteuerung zu vermeiden, haben zahlreiche bilaterale Abkommen geschlossen, die sich insbesondere an den von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im folgenden: ÖCD) erarbeiteten Musterabkommen für die Steuern vom Einkommen und Vermögen orientieren.
25 In diesem Zusammenhang sieht das zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland geschlossene Abkommen verschiedene Anknüpfungsfaktoren für die Aufteilung der Zuständigkeit auf dem Gebiet der Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zwischen den Vertragsparteien vor.
26 Während die Arbeitnehmer grundsätzlich nach Artikel 13 Absatz 1 des Abkommens der Besteuerung durch den Staat unterliegen, in dem die persönliche Tätigkeit, aus der die Einkünfte herrühren, ausgeuebt wird, unterwirft Artikel 13 Absatz 5 Buchstabe a die Grenzgänger der Besteuerung durch ihren Wohnsitzstaat.
27 Für Steuerpflichtige, die Einkünfte aus öffentlichen Kassen beziehen, bestimmt Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Abkommens jedoch grundsätzlich, daß diese im Kassenstaat steuerpflichtig sind. Auch von dieser Regel (im folgenden: Kassenstaatsprinzip) gibt es jedoch eine Ausnahme in Artikel 14 Absatz 1 Satz 2, dem zufolge die Vergütungen dann, wenn sie an Personen gezahlt werden, die die Staatsangehörigkeit des anderen Staates besitzen, ohne zugleich Staatsangehörige des erstgenannten Staates zu sein, nur von dem Staat besteuert werden können, in dem die Steuerpflichtigen ansässig sind.
28 Ferner enthält Artikel 16 des Abkommens eine besondere Anknüpfungsregel für Lehrkräfte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten haben und anläßlich eines kurzfristigen Aufenthalts von weniger als zwei Jahren im anderen Vertragsstaat eine Vergütung für eine in diesem Staat ausgeuebte Lehrtätigkeit erhalten. Diese Kategorie von Steuerpflichtigen unterliegt der Besteuerung im Herkunftsbeschäftigungsstaat.
29 Die Artikel 13 Absätze 1 und 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des Abkommens sehen somit unterschiedliche Anknüpfungsfaktoren vor, je nachdem, ob die Steuerpflichtigen Grenzgänger sind oder nicht, ob sie Gastlehrkräfte sind oder nicht, oder ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor arbeiten. Was insbesondere die letztgenannte Gruppe von Arbeitnehmern angeht, unterliegen sie grundsätzlich der Besteuerung im Kassenstaat, sofern sie nicht die Staatsangehörigkeit des anderen Vertragsstaats besitzen, ohne zugleich Angehörige des Kassenstaats zu sein, in welchem Fall sie in ihrem Wohnsitzstaat der Besteuerung unterliegen.
30 Auch wenn das Kriterium der Staatsangehörigkeit in Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 als solches im Zusammenhang mit der Aufteilung der Steuerhoheit aufgeführt wird, können derartige Unterscheidungen nicht so gewertet werden, als begründeten sie eine durch Artikel 48 des Vertrages verbotene unterschiedliche Behandlung. Sie ergeben sich nämlich, in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen insbesondere nach Artikel 220 zweiter Gedankenstrich des Vertrages, aus der Befugnis der Vertragsparteien, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit untereinander festzulegen, um Doppelbesteuerungen zu beseitigen.
31 Für die Mitgliedstaaten ist es ferner nicht abwegig, sich für die Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit an der völkerrechtlichen Praxis und dem von der ÖCD erarbeiteten Musterabkommen zu orientieren, das insbesondere in Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe a in der Fassung von 1994 die Anwendung des Kassenstaatsprinzips vorsieht. Nach der Kommentierung zu diesem Artikel hat dieser Grundsatz seine Grundlage in den Regeln der internationalen Courtoisie und des gegenseitigen Respekts souveräner Hoheitsträger und "ist in so vielen Abkommen zwischen Mitgliedstaaten der ÖCD enthalten, daß er bereits als international anerkannt angesehen werden kann".
32 Im vorliegenden Fall gibt Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Abkommens den Inhalt des Artikels 19 Absatz 1 Buchstabe a des ÖCD-Musterabkommens wieder. Gewiß sieht Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 eine Ausnahme vom Kassenstaatsprinzip für den Fall vor, daß der Steuerpflichtige die Staatsangehörigkeit des anderen Vertragsstaats besitzt, ohne zugleich Staatsangehöriger des erstgenannten Staates zu sein; eine gleichartige, zumindest teilweise auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit gestützte Ausnahme findet sich jedoch auch in Artikel 19 Absatz 1 Buchstabe b des Musterabkommens für den Fall, daß die Dienste im anderen Vertragsstaat geleistet werden und der Steuerpflichtige in diesem Staat ansässig ist und "i) ein Staatsangehöriger dieses Staates ist oder ii) nicht ausschließlich deshalb in diesem Staat ansässig geworden ist, um die Dienste zu leisten".
33 In jedem Fall bliebe die steuerliche Situation von Frau Gilly, selbst wenn der von ihr als rechtswidrig angesehene Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 unberücksichtigt bleiben müsste, unverändert, da das Kassenstaatsprinzip weiterhin auf ihre in Deutschland durch ihre Tätigkeit im öffentlichen Schulwesen erzielten Einkünfte angewandt werden müsste.
34 Ausserdem ist im vorliegenden Fall nicht erwiesen, daß die Festlegung des Kassenstaats als des für die Besteuerung der im öffentlichen Sektor erzielten Einkünfte zuständigen Staates als solche nachteilige Auswirkungen auf die betroffenen Steuerpflichtigen haben könnte. Wie die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, und die Kommission vorgetragen haben, ergibt sich die Vorteilhaftigkeit oder Nachteiligkeit der steuerlichen Behandlung der betroffenen Steuerpflichtigen nicht so sehr aus der Wahl des Anknüpfungsfaktors, sondern aus dem Niveau der Besteuerung in dem angesichts der mangelnden gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung der Steuersätze für die direkten Steuern zuständigen Staat.
35 Auf die erste, zweite und vierte Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des Abkommens nicht entgegensteht, die eine unterschiedliche Besteuerung zum einen für Grenzgänger vorsehen, je nachdem, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, und, wenn sie im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen Verwaltung sie beschäftigt sind, besitzen oder nicht, und zum anderen für Lehrkräfte, je nachdem, ob ihr Aufenthalt in dem Staat, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben, von kurzer Dauer ist oder nicht.
Zur dritten Frage
36 Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Artikel 7 EWG-Vertrag, nunmehr Artikel 6 EG-Vertrag, dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung einer Vorschrift wie derjenigen des Artikels 14 Absatz 1 Satz 2 des Abkommens entgegensteht, die für die im öffentlichen Sektor eines Mitgliedstaats beschäftigten Grenzgänger eine unterschiedliche Besteuerung vorsieht, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des letztgenannten Staates besitzen oder nicht.
37 Nach ständiger Rechtsprechung kann Artikel 6 des Vertrages, in dem das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit niedergelegt ist, autonom nur in durch das Gemeinschaftsrecht geregelten Fällen angewendet werden, für die der Vertrag kein besonderes Diskriminierungsverbot vorsieht (vgl. u. a. Urteil vom 25. Juni 1997 in der Rechtssache C-131/96, Mora Romero, Slg. 1997, I-3659, Randnr. 10).
38 Im Bereich der Freizuegigkeit der Arbeitnehmer ist das Diskriminierungsverbot durch Artikel 48 des Vertrages und durch Rechtsakte des abgeleiteten Rechts, insbesondere durch die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), umgesetzt und konkretisiert worden.
39 Aus der Antwort auf die erste, zweite und vierte Frage ergibt sich, daß ein Fall wie derjenige des Ausgangsverfahrens unter Artikel 48 des Vertrages fällt. Daher ist auf die Auslegung von Artikel 6 des Vertrages nicht einzugehen.
Zur sechsten Frage
40 Die sechste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens entgegensteht.
41 Das durch Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens eingeführte Steueranrechnungsverfahren, das sich an den entsprechenden Modalitäten des ÖCD-Musterabkommens orientiert, soll die Doppelbesteuerung vermeiden, der französische Staatsangehörige unterlägen, die in Deutschland Gewinne oder andere Einkünfte erzielen, die zugleich in Deutschland und in Frankreich besteuert würden.
42 Dieses Verfahren besteht darin, daß die in Deutschland erzielten Arbeitseinkünfte in die nach französischem Recht berechnete Bemessungsgrundlage einbezogen werden und dann ein Steueranrechnungsbetrag im Hinblick auf die in Deutschland entrichtete Steuer gewährt wird, der, insbesondere bei den unter Artikel 14 des Abkommens fallenden Einkünften, dem Betrag der diesen Einkünften entsprechenden französischen Steuer entspricht. Dieser Betrag entspricht dem Anteil des in Deutschland besteuerten Nettoeinkommens an den gesamten in Frankreich besteuerten Nettöinkünften.
43 Ferner ergibt sich aus den Akten, daß die persönliche und familiäre Situation von Frau Gilly in den streitigen Besteuerungszeiträumen in Deutschland nicht bei der Berechnung der Steuer auf ihre Arbeitseinkünfte berücksichtigt wurde, während diese Situation in Frankreich bei der Berechnung der aufgrund der gesamten gemeinsamen Einkünfte geschuldeten Steuer und bei der Gewährung verschiedener Steuerfreibeträge und -ermässigungen berücksichtigt wurde.
44 Nach Auffassung der Kläger des Ausgangsverfahrens benachteiligt das streitige Steueranrechnungsverfahren diejenigen, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch machen, da es eine Doppelbesteuerung bestehen lasse. Aufgrund der höheren Progression der deutschen Steuer gegenüber der französischen Steuer und des Anteils der Arbeitseinkünfte von Frau Gilly an der Gesamtheit der in Frankreich besteuerten gemeinsamen Einkünfte bleibe der Steueranrechnungsbetrag stets niedriger als die tatsächlich in Deutschland gezahlte Steuer. Ferner habe der Umstand, daß die persönliche und familiäre Situation von Frau Gilly in Deutschland nicht berücksichtigt werde, während dies in Frankreich bei der Berechnung der Steuer auf die Gesamteinkünfte der Fall sei, zur Folge, daß der im Wohnsitzstaat berücksichtigte Steueranrechnungsbetrag niedriger sei als der Betrag der tatsächlich im Beschäftigungsstaat gezahlten Steuer, wenn man die im erstgenannten Staat gewährten Freibeträge und Ermässigungen berücksichtige.
45 Nur ein Steueranrechnungsbetrag in Höhe der in Deutschland erhobenen Steuer ermögliche eine vollständige Vermeidung der Doppelbesteuerung.
46 Hierzu ist - wie dies der Generalanwalt in Nummer 66 seiner Schlussanträge getan hat, - festzustellen, daß ein Abkommen wie das hier streitige lediglich verhindern soll, daß ein und dieselben Einkünfte in beiden Staaten besteuert werden. Es soll nicht gewährleisten, daß die Steuern, die von dem Steuerpflichtigen in dem einen Staat erhoben werden, nicht höher sind als diejenigen, die von ihm in dem anderen Staat erhoben werden.
47 Nun steht fest, daß die nachteiligen Auswirkungen, die im vorliegenden Fall mit dem durch das bilaterale Abkommen eingeführten Steueranrechnungsverfahren, so wie es im Rahmen des Steuersystems des Wohnsitzstaats angewendet wird, möglicherweise verbunden sind, sich in erster Linie aus den unterschiedlichen Steuersätzen der betreffenden Mitgliedstaaten ergeben, deren Festsetzung in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung auf diesem Gebiet in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.
48 Im übrigen wäre - wie die französische, die belgische, die dänische, die finnische und die schwedische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs ausgeführt haben - der Wohnsitzstaat, wenn er als Steueranrechnungsbetrag einen höheren Betrag als den den Einkünften aus ausländischer Quelle entsprechenden Teilbetrag der nationalen Steuer berücksichtigen müsste, gezwungen, seine Steuer auf die übrigen Einkünfte entsprechend zu verringern, was für diesen Staat zu einem Verlust an Steuereinnahmen führen und damit seine Souveränität auf dem Gebiet der direkten Steuern beeinträchtigen würde.
49 Zur Auswirkung der Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation des Steuerpflichtigen im Wohnsitzstaat und der fehlenden Berücksichtigung dieser Situation im Beschäftigungsstaat auf den Steueranrechnungsbetrag ist festzustellen, daß dieser Unterschied eine Folge dessen ist, daß sich Gebietsansässige und Gebietsfremde im Hinblick auf die direkten Steuern in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation befinden, da das Einkommen, das ein Gebietsfremder im Hoheitsgebiet eines Staates erzielt, meist nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellt, deren Schwerpunkt an seinem Wohnort liegt (Urteil vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225, Randnrn. 31 f.).
50 Diese Feststellung gilt auch für einen Fall wie den von Frau Gilly, da sie ihre Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zwar, für sich betrachtet, in Deutschland bezieht, diese jedoch in die Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer der mit ihr zusammen veranlagten natürlichen Personen in Frankreich einbezogen werden, wo ihr dementsprechend die nach französischem Recht vorgesehenen Steuervorteile, -freibeträge und -ermässigungen gewährt werden. Dagegen waren die deutschen Steuerbehörden unter diesen Umständen nicht verpflichtet, ihre persönliche und familiäre Situation zu berücksichtigen.
51 Die Kläger des Ausgangsverfahrens tragen ferner vor, die Anwendung des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens auf sie bewirke eine gegen Artikel 48 des Vertrages verstossende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da Frau Gilly, wenn sie nur die französische Staatsangehörigkeit und nicht die doppelte Staatsangehörigkeit besässe, steuerlich unter Artikel 13 Absatz 5 Buchstabe a des Abkommens fiele, der die Einkünfte von Grenzgängern der Besteuerung im Wohnsitzstaat unterwerfe.
52 Hierzu ist festzustellen, daß Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens die Doppelbesteuerung vermeiden soll, die sich in einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens daraus ergibt, daß die von Frau Gilly in Deutschland erzielten Einkünfte nach Artikel 14 Absatz 1 des Abkommens dem Kassenstaatsprinzip unterliegen, das Gesamteinkommen des Haushalts einschließlich der besagten Einkünfte aus deutscher Quelle aber in Frankreich besteuert wird.
53 Wie sich aus der Antwort auf die erste, zweite und vierte Frage ergibt, kann die Auswahl unterschiedlicher Anknüpfungsfaktoren, insbesondere der Staatsangehörigkeit im Zusammenhang mit den im Nichtwohnsitzstaat erhaltenen Vergütungen aus öffentlichen Kassen, durch die Vertragsparteien zum Zweck der Aufteilung ihrer Steuerhoheit als solche keine gemeinschaftsrechtlich verbotene Diskriminierung darstellen.
54 Aufgrund all dessen ist auf die sechste Frage zu antworten, daß Artikel 48 des Vertrages dahin auszulegen ist, daß er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens nicht entgegensteht.
Kosten
55 Die Auslagen der französischen, der belgischen, der dänischen, der deutschen, der italienischen, der niederländischen, der finnischen und der schwedischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Tribunal administratif Straßburg mit Urteil vom 10. Oktober 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 220 zweiter Gedankenstrich EG-Vertrag entfaltet keine unmittelbare Wirkung.
2. Artikel 48 EG-Vertrag ist dahin auszulegen, daß er der Anwendung von Bestimmungen wie den Artikeln 13 Absatz 5 Buchstabe a, 14 Absatz 1 und 16 des am 21. Juli 1959 unterzeichneten Abkommens zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen, geändert durch die in Bonn unterzeichneten Zusatzabkommen vom 9. Juni 1969 und vom 28. September 1989, nicht entgegensteht, die eine unterschiedliche Besteuerung zum einen für Grenzgänger vorsehen, je nachdem, ob sie im privaten oder im öffentlichen Sektor beschäftigt sind und, wenn sie im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, je nachdem, ob sie die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen Verwaltung sie beschäftigt sind, besitzen oder nicht, und zum anderen für Lehrkräfte, je nachdem, ob ihr Aufenthalt in dem Staat, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben, von kurzer Dauer ist oder nicht.
3. Artikel 48 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß er der Anwendung eines Steueranrechnungsverfahrens wie desjenigen des Artikels 20 Absatz 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe cc des Abkommens nicht entgegensteht.