Avis juridique important
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 28. Mai 1998. - Strafverfahren gegen John Charles Goodwin und Edward Thomas Unstead. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Court of Appeal (England) - Vereinigtes Königreich. - Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Sechste Richtlinie 77/388/EWG - Geltungsbereich - Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren. - Rechtssache C-3/97.
Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-03257
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Sechste Richtlinie - Geltungsbereich - Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren - Einbeziehung
(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 2)
Zwar stehen rechtswidrige Einfuhren oder Lieferungen von Waren, die wegen ihres Wesens oder ihrer besonderen Eigenschaften weder in den Handelsverkehr gebracht noch in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden können, wie Betäubungsmittel oder Falschgeld, zu den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in keiner Beziehung; dies ist jedoch bei nachgeahmten Parfümeriewaren nicht der Fall.
Denn Geschäfte mit nachgeahmten Waren verstossen zwar gegen gewerbliche Schutzrechte, doch steht das daraus folgende Verbot zum einen nicht im Zusammenhang mit der Art oder den wesentlichen Eigenschaften der Erzeugnisse, sondern mit der Beeinträchtigung der Rechte Dritter, und ist zum anderen bedingt, nicht absolut.
Im übrigen sind nachgeahmte Parfümeriewaren nicht vom Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen, da zwischen nachgeahmten und solchen Parfümeriewaren, die sich rechtmässig im Handel befinden, ein Wettbewerb bestehen kann.
Daher unterliegt die Lieferung nachgeahmter Parfümeriewaren nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer.
1 Der Court of Appeal - Criminal Division, London, hat mit Beschluß vom 24. Dezember 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Januar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen die Herren Goodwin und Unstead, die angeklagt sind, Mehrwertsteuer beim Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren hinterzogen zu haben.
3 Nach den Akten des Ausgangsverfahrens ist Herr Goodwin angeklagt, nachgemachte Parfümeriewaren gekauft und sie weiterverkauft zu haben, ohne in das Mehrwertsteuerregister eingetragen zu sein. Herr Unstead ist angeklagt, an der Herstellung, der Erzeugung, dem Vertrieb und dem Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren im Rahmen eines Unternehmens teilgenommen zu haben, das er gemeinsam mit anderen Personen betrieb und das ebenfalls nicht in das Mehrwertsteuerregister eingetragen war.
4 Der im ersten Rechtszug befasste Inner London Crown Court ging davon aus, daß die Sechste Richtlinie nicht die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die Herstellung, die Erzeugung, den Vertrieb und den Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren untersage; er hat daher die Herren Goodwin und Unstead für schuldig befunden, gegen Section 72 (1) und (8) des Valü Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz 1994) verstossen zu haben.
5 Die Angeklagten legten gegen dieses Urteil Berufung zum Court of Appeal ein; zur Begründung machten sie insbesondere geltend, daß das Gemeinschaftsrecht der Erhebung von Mehrwertsteuer in einem Fall wie dem ihrigen entgegenstehe.
6 Der Court of Appeal ist der Ansicht, daß nach Gemeinschaftsrecht im Fall einer entgeltlichen Lieferung nachgemachter Parfümeriewaren Mehrwertsteuer geschuldet werde. Da er jedoch in dieser Beziehung einige Zweifel hegt, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Fällt die Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren unter die Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Sechste Richtlinie)?
7 Mit seiner Frage begehrt das vorlegende Gericht Auskunft darüber, ob die Lieferung nachgemachter Parfümeriewaren nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer unterliegt.
8 Diese Bestimmung lautet:
"Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
2. die Einfuhr von Gegenständen."
9 Nach ständiger Rechtsprechung beruht die Sechste Richtlinie, mit der eine umfassende Harmonisierung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer angestrebt wird, auf dem Grundsatz der steuerlichen Wertneutralität. Dieser Grundsatz verbietet eine allgemeine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften; er gestattet sie nur in den Fällen, in denen aufgrund der besonderen Merkmale bestimmter Waren jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen ist (insbes. Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-111/92, Lange, Slg. 1993, I-4677, Randnr. 16).
10 Die Herren Goodwin und Unstead meinen unter Berufung auf die Urteile vom 28. Februar 1984 in der Rechtssache 294/82 (Einberger, Slg. 1984, 1177), vom 5. Juli 1988 in den Rechtssachen 269/86 (Mol, Slg. 1988, 3627) und 289/86 (Happy Family, Slg. 1988, 3655) sowie vom 6. Dezember 1990 in der Rechtssache C-343/89 (Witzemann, Slg. 1990, I-4477), da kein legaler Markt für nachgemachte Parfümeriewaren existiere, falle der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt unter die erwähnte Ausnahme. Denn im Vereinigten Königreich sei ein Vertrag über den Verkauf nachgemachter Parfümeriewaren nicht nur nichtig, weil rechtswidrig, sondern er verletze auch eine grosse Anzahl von gewerblichen Schutzrechten. Ferner beeinträchtige das Inverkehrbringen solcher Parfümeriewaren das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erheblich, da der Handel mit ihnen anders als der Handel mit Betäubungsmitteln niemals erlaubt sei.
11 In den Urteilen Einberger, Mol und Happy Family hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß bei der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in die Gemeinschaft oder der unerlaubten entgeltlichen Lieferung gleichartiger Erzeugnisse innerhalb eines Mitgliedstaats keine Mehrwertsteuerschuld entstehe, wenn diese Erzeugnisse nicht Gegenstand des von den zuständigen Stellen streng überwachten Vertriebs zur Verwendung für medizinische und wissenschaftliche Zwecke seien. In dem Urteil Witzemann (Randnr. 20) hat der Gerichtshof entschieden, daß seine zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln angestellten Erwägungen erst recht für die Einfuhr von Falschgeld gälten.
12 In diesen vier Urteilen hat der Gerichtshof ferner festgestellt, daß rechtswidrige Einfuhren oder Lieferungen von Waren der damals in Rede stehenden Art, deren Einführung in den Wirtschafts- und Handelskreislauf der Gemeinschaft per definitionem völlig ausgeschlossen ist und die nur Anlaß zu Strafverfolgungsmaßnahmen geben können, zu den Bestimmungen der Sechsten Richtlinie in keiner Beziehung stehen (Urteile Einberger, Randnrn. 19 und 20, Mol, Randnr. 15, Happy Family, Randnr. 17, und Witzemann, Randnr. 19). Diese Rechtsprechung gilt somit für Waren, die wegen ihrer besonderen Eigenschaften weder in den Handelsverkehr gebracht noch in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden können.
13 Dies ist jedoch bei den Waren, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht der Fall. Wie die griechische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission ausgeführt haben, handelt es sich nicht um Waren, deren Vermarktung wegen ihres Wesens oder ihrer besonderen Eigenschaften untersagt ist.
14 Wie der Generalanwalt in Nummer 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verstossen Geschäfte mit nachgeahmten Waren zwar gegen gewerbliche Schutzrechte, doch steht das daraus folgende Verbot nicht im Zusammenhang mit der Art oder den wesentlichen Eigenschaften dieser Erzeugnisse, sondern mit der Beeinträchtigung der Rechte Dritter. Auch ist, wie die Kommission in ihren Erklärungen ausführt, das Verbot, das sich aus der Verletzung gewerblicher Schutzrechte ergibt, bedingt und nicht wie das Verbot von Betäubungsmitteln oder Falschgeld absolut. Das Verbot nachgemachter Erzeugnisse, das auf der Verletzung gewerblicher Schutzrechte beruht, reicht daher nicht aus, um den Handel mit diesen Erzeugnissen vom Geltungsbereich der Sechsten Richtlinie auszunehmen.
15 Im übrigen ist, wie die Kommission ebenfalls ausgeführt hat, in einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens ein Wettbewerb zwischen nachgeahmten und solchen Erzeugnissen, die sich rechtmässig im Handel befinden, nicht ausgeschlossen, da es einen rechtmässigen Markt für Parfümeriewaren gibt, der gerade von den nachgeahmten Erzeugnissen beeinträchtigt wird. Daher sind diese Waren anders als Betäubungsmittel und Falschgeld nicht vom Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen.
16 Somit ist auf die gestellte Frage zu antworten, daß die Lieferung nachgeahmter Parfümeriewaren nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie der Mehrwertsteuer unterliegt.
Kosten
17 Die Auslagen der griechischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Erste Kammer)
auf die ihm vom Court of Appeal - Criminal Division, London, mit Beschluß vom 24. Dezember 1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Nach Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage unterliegt die Lieferung nachgeahmter Parfümeriewaren der Mehrwertsteuer.