Avis juridique important
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 3. Dezember 1998. - Belgocodex SA gegen Belgischer Staat. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de première instance de Nivelles - Belgien. - Erste und Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Verpachtung und Vermietung von Grundstücken - Recht, für eine Besteuerung zu optieren. - Rechtssache C-381/97.
Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-08153
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
1 Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Befreiungen nach der Sechsten Richtlinie - Befreiung für Vermietungen und Verpachtungen von Grundstücken - Optionsrecht für die Steuerpflichtigen - Nationale Rechtsvorschriften, mit denen das Optionsrecht aufgehoben und die Befreiung wiedereingeführt wird - Zulässigkeit
(Richtlinien des Rates 67/227, Artikel 2, und 77/388, Artikel 13 Teile B und C)
2 Gemeinschaftsrecht - Grundsätze - Vertrauensschutz - Rechtssicherheit - Beachtung im Rahmen der rückwirkenden Aufhebung eines Gesetzes, mit dem für die Mehrwertsteuerpflichtigen ein Optionsrecht eingeführt worden war - Befugnis des nationalen Gerichts
1 Artikel 2 der Ersten Richtlinie 67/227 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer verbietet es einem Mitgliedstaat, der von der in Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie 77/388 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat und demgemäß seinen Steuerpflichtigen das Recht eingeräumt hat, für eine Besteuerung bestimmter Grundstücksvermietungen zu optieren, nicht, dieses Optionsrecht durch ein späteres Gesetz aufzuheben und so die Befreiung wiedereinzuführen.
Es ist Sache der Mitgliedstaaten, denen im Rahmen der Bestimmungen des Artikels 13 Teile B und C der Sechsten Richtlinie ein weites Ermessen zusteht, zu prüfen, ob es ihnen angesichts der zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Land bestehenden Verhältnisse zweckmässig erscheint, das Optionsrecht einzuführen. Die Freiheit, das Optionsrecht einzuführen oder auch nicht, ist weder zeitlich noch dadurch beschränkt, daß in der Vergangenheit eine gegenteilige Entscheidung getroffen wurde. Die Mitgliedstaaten können daher das von ihnen eingeführte Optionsrecht im Rahmen ihrer innerstaatlichen Zuständigkeiten auch wieder aufheben und zu der Grundregel zurückkehren, daß Vermietungen und Verpachtungen von Grundstücken von der Steuer befreit sind.
Hat der nationale Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen das Optionsrecht eingeräumt, so lässt sich aus dem Grundsatz der Steuerneutralität, der in Artikel 2 der Ersten Richtlinie Ausdruck gefunden hat und im übrigen dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegt, nicht ableiten, daß diese Entscheidung des Gesetzgebers unwiderruflich ist. Von dem durch die Sechste Richtlinie eingeführten harmonisierten System von Steuerbefreiungen kann nämlich seither nicht mehr unter Berufung auf eine Bestimmung der Ersten Richtlinie abgewichen werden.
2 Zwar sind die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung und müssen von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien einräumen, beachtet werden; jedoch ist es nicht Sache des Gerichtshofes, sondern des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in der rückwirkenden Aufhebung eines Gesetzes, mit dem ein Optionsrecht für die Besteuerung von Vermietungen und Verpachtungen eingeführt worden ist und zu dem nie eine Durchführungsverordnung erlassen wurde, ein Verstoß gegen diese Grundsätze liegt.
1 Das Tribunal de première instance Nivelles hat mit Urteil vom 3. November 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 7. November 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301; im folgenden: Erste Richtlinie) und Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft belgischen Rechts Belgocodex SA (im folgenden: Klägerin) und der Verwaltung für Mehrwertsteuer, Registrierung und Staatsbesitz des belgischen Staates (im folgenden: Verwaltung) über das Recht, im Fall der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken für eine Besteuerung zu optieren.
3 Artikel 2 der Ersten Richtlinie bestimmt:
"Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, daß auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.
Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.
..."
4 Die Sechste Richtlinie sieht in Artikel 13 Teil B vor:
"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen, von der Steuer:
...
b) die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken ...
...
Die Mitgliedstaaten können weitere Ausnahmen vom Geltungsbereich dieser Befreiung vorsehen."
5 Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie, der die Überschrift "Optionen" trägt, bestimmt:
"Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren:
a) bei der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken;
...
Die Mitgliedstaaten können den Umfang des Optionsrechts einschränken; sie bestimmen die Modalitäten seiner Ausübung."
6 In Belgien wurde durch das Gesetz vom 28. Dezember 1992 zur Änderung des Mehrwertsteuergesetzbuchs und der Gebührenordnung für Eintragungs-, Hypotheken- und Kanzleigebühren (Moniteur belge vom 31. Dezember 1992, S. 27577) Artikel 44 Absatz 3 Unterabsatz 2 Buchstabe c in das belgische Mehrwertsteuergesetzbuch eingeführt; nach dieser Bestimmung unterliegen der Mehrwertsteuer "Vermietungen von Gebäuden, für die kein (Miet-Finanzierungs-)Vertrag besteht, an einen Steuerpflichtigen für die Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, wenn der Vermieter seine Absicht, das Gebäude unter Anwendung der Steuer zu vermieten, zum Ausdruck gebracht hat; der König bestimmt die Form dieser Option, die Art und Weise ihrer Ausübung und die Voraussetzungen, die der Mietvertrag erfuellen muß". Dieses Gesetz trat am 1. Januar 1993 in Kraft. Die im Gesetz vorgesehenen Durchführungsbestimmungen wurden jedoch nicht erlassen.
7 Die vorgenannte Bestimmung wurde durch das Gesetz vom 6. Juli 1994 über steuerrechtliche Bestimmungen (Moniteur belge vom 16. Juli 1994, S. 18705, sogenanntes "Wiederherstellungsgesetz") aufgehoben. Nach Artikel 91 dieses Gesetzes galt diese Aufhebung rückwirkend zum 1. Januar 1993.
8 Dem Vorlagebeschluß zufolge erwarb die Klägerin 1990 einen Miteigentumsanteil von 25 % an einem Grundstück mit Gebäuden, die renoviert werden sollten, damit dort Büros und Läden eingerichtet werden konnten. Die Renovierungsarbeiten, die 1990 begannen und bis 1993 andauerten, wurden von einem Unternehmer ausgeführt, der seine Leistungen unter Ansatz der Mehrwertsteuer in Rechnung stellte.
9 Da die Klägerin das Gebäude an einen Steuerpflichtigen vermietet hatte, der es im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten nutzt, zog sie die Steuern, mit denen die Kosten der Arbeiten zur Renovierung und zum Ausbau des vermieteten Gebäudes belastet gewesen waren, gemäß Artikel 44 Absatz 3 Unterabsatz 2 Buchstabe c des belgischen Mehrwertsteuergesetzbuchs als Vorsteuer ab.
10 Im Anschluß an eine 1995 durchgeführte Steuerprüfung beanstandete die Verwaltung die zwischen dem 1. Juli 1990 und dem 31. Dezember 1994 vorgenommenen Vorsteuerabzuege in Höhe von 1 852 365 BFR und verlangte die Zahlung dieses Betrages zuzueglich Verzugszinsen und Geldbussen. Nach ihrer Auffassung handelte es sich um eine befreite Tätigkeit, die einen Vorsteuerabzug nicht zulasse.
11 Die Klägerin erhob am 3. Juni 1996 gegen diese Entscheidung Klage vor dem Tribunal de première instance Nivelles und machte geltend, sie habe die Vorsteuer nach dem Gesetz vom 28. Dezember 1992 abziehen dürfen, mit dem ein Optionsrecht auf diesem Gebiet eingeführt worden sei. Das Wiederherstellungsgesetz, mit dem das Optionsrecht aufgehoben und damit die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs abgeschafft worden sei, verstosse gegen die Mehrwertsteuerrichtlinien der Gemeinschaft.
12 Da das Tribunal de première instance Nivelles der Auffassung ist, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Ersten und der Sechsten Richtlinie abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:
Verbietet es Artikel 2 der Ersten Richtlinie des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer, der den Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems aufstellt, einem Mitgliedstaat - hier Belgien -, der von der in Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht und demgemäß seinen Steuerpflichtigen das Recht eingeräumt hat, für eine Besteuerung bestimmter Grundstücksvermietungen zu optieren, dieses Optionsrecht durch ein späteres Gesetz aufzuheben und so die Befreiung uneingeschränkt wiedereinzuführen?
Zur Vorlagefrage
13 Nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens ist diese Frage zu bejahen. Die Mehrwertsteuerbefreiung für die Vermietung von Grundstücken an Steuerpflichtige widerspreche dem in Artikel 2 der Ersten Richtlinie aufgestellten Grundsatz der Steuerneutralität, da sie die Kette der Vorsteuerabzuege unterbreche und die steuerliche Belastung erhöhe. Wegen ihres Ausnahmecharakters sei diese Befreiung eng auszulegen. Daß die Sechste Richtlinie in Artikel 13 Teil C den Mitgliedstaaten anheimgebe, den Geltungsbereich der Befreiung für Grundstücksvermietungen zu beschränken, indem sie ihnen erlaube, den Steuerpflichtigen die Möglichkeit einzuräumen, für eine Besteuerung zu optieren, zeige, daß die Annäherung und Harmonisierung in der Gemeinschaft auf eine Besteuerung dieser Vermietungen gerichtet sein müssten. Daher dürfe ein Mitgliedstaat, der beschlossen habe, den Geltungsbereich der Befreiung zu beschränken, nicht später seine Meinung wieder ändern und die Befreiung wiedereinführen.
14 Die belgische Regierung und die Kommission vertreten dagegen die Auffassung, daß die Mitgliedstaaten jederzeit ihre Entscheidung über die Einräumung eines Optionsrechts rückgängig machen könnten, um die Befreiungsregelung des Artikels 13 Teil B der Sechsten Richtlinie anzuwenden, und daß Artikel 2 der Ersten Richtlinie der Vorgehensweise des belgischen Gesetzgebers nicht entgegenstehe. Die den Mitgliedstaaten in Artikel 13 Teil C eingeräumte Befugnis, den Steuerpflichtigen das Recht zuzuerkennen, für eine Besteuerung bestimmter Grundstücksvermietungen zu optieren, schließe auch die gegenteilige Möglichkeit ein, diese Optionsregelung abzuschaffen und die in Artikel 13 Teil B vorgesehene Befreiung wiedereinzuführen.
15 Die Sechste Richtlinie führt in Abschnitt X (Artikel 13 bis 16) eine Regelung über die Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter Umsätze ein. Zu den Befreiungstatbeständen zählen nach Artikel 13 Teil B Buchstabe b die Vermietung und die Verpachtung von Grundstücken. Hinsichtlich dieser Umsätze sind die Mitgliedstaaten jedoch nach Artikel 13 Teil C Absatz 1 Buchstabe a ermächtigt, die Besteuerung dadurch wiedereinzuführen, daß sie ihren Steuerpflichtigen ein Optionsrecht einräumen. Nach Artikel 13 Teil C Absatz 2 können die Mitgliedstaaten den Umfang dieses Optionsrechts einschränken und die Modalitäten seiner Ausübung bestimmen.
16 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes können die Mitgliedstaaten kraft dieser Befugnis den Steuerpflichtigen, die unter die Steuerbefreiungen der Sechsten Richtlinie fallen, gestatten, in allen Fällen, in bestimmten Grenzen oder auch nach bestimmten Modalitäten auf die Befreiung zu verzichten (Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Randnr. 38).
17 Daraus folgt, wie auch die Kommission hervorhebt, daß den Mitgliedstaaten im Rahmen der Bestimmungen des Artikels 13 Teile B und C ein weites Ermessen zusteht. Es ist nämlich ihre Sache, zu prüfen, ob es ihnen angesichts der zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Land bestehenden Verhältnisse zweckmässig erscheint, das Optionsrecht einzuführen. Die Freiheit, das Optionsrecht einzuführen oder auch nicht, ist weder zeitlich noch dadurch beschränkt, daß in der Vergangenheit eine gegenteilige Entscheidung getroffen wurde. Die Mitgliedstaaten können daher das von ihnen eingeführte Optionsrecht im Rahmen ihrer innerstaatlichen Zuständigkeiten auch wieder aufheben und zu der Grundregel zurückkehren, daß Vermietungen und Verpachtungen von Grundstücken von der Steuer befreit sind.
18 Dieses Ergebnis wird entgegen dem Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht durch den Grundsatz der Steuerneutralität in Frage gestellt. Dieser Grundsatz, der in Artikel 2 der Ersten Richtlinie Ausdruck gefunden hat und im übrigen dem Gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegt, wie sich auch der vierten und der fünften Begründungserwägung der Sechsten Richtlinie entnehmen lässt, besagt zwar, daß alle wirtschaftlichen Tätigkeiten gleich zu behandeln sind (Urteil vom 20. Juni 1996 in der Rechtssache C-155/94, Wellcome Trust, Slg. 1996, I-3013, Randnr. 38).
19 Er hat jedoch nicht die Bedeutung, die ihm die Klägerin des Ausgangsverfahrens beimisst. Von dem durch die Sechste Richtlinie eingeführten harmonisierten System von Steuerbefreiungen kann nämlich seither nicht mehr unter Berufung auf eine Bestimmung der Ersten Richtlinie abgewichen werden. Ausserdem steht der Grundsatz der Steuerneutralität der Einführung bestimmter Ausnahmen vom Besteuerungsgrundsatz durch den nationalen Gesetzgeber nicht entgegen, die im übrigen in Abschnitt X der Sechsten Richtlinie ausdrücklich vorgesehen sind. Hat jedoch der nationale Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen das Optionsrecht eingeräumt, so lässt sich aus dem Grundsatz der Steuerneutralität nicht ableiten, daß diese Entscheidung des Gesetzgebers unwiderruflich ist.
20 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens kann sich für ihren Standpunkt nicht auf das Urteil vom 17. Oktober 1991 in der Rechtssache C-35/90 (Kommission/Spanien, Slg. 1991, I-5073) berufen.
21 Der Gerichtshof hat in diesem Urteil zwar festgestellt, daß ein Mitgliedstaat, der eine in Artikel 28 der Sechsten Richtlinie genannte Steuerbefreiung abschafft, diese nicht später wiedereinführen darf. Dieses Urteil betrifft jedoch eine Bestimmung der Sechsten Richtlinie, die mit Artikel 13 Teil C nicht vergleichbar ist. Artikel 28 betrifft nämlich den auf den Erlaß der Sechsten Richtlinie folgenden Übergangszeitraum. Während des Übergangszeitraums durften die Mitgliedstaaten bestimmte Umsätze für eine gewisse Zeit weiter von der Mehrwertsteuer befreien, um den Übergang zu erleichtern und eine schrittweise Anpassung der nationalen Rechtsvorschriften in den betreffenden Bereichen zu ermöglichen (Urteil Kommission/Spanien, Randnr. 9). Nach Ablauf des Übergangszeitraums waren die Mitgliedstaaten jedoch verpflichtet, die Befreiungen völlig abzuschaffen, was die Möglichkeit ausschloß, eine vorher abgeschaffte Befreiung wiedereinzuführen.
22 Dies ist in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anders, der ein Optionsrecht betrifft, das keiner zeitlichen Beschränkung unterliegt. Wie der Generalanwalt in Nummer 24 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die genannte Rechtsprechung nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden.
23 Schließlich legt die Klägerin des Ausgangsverfahrens dem Gerichtshof nahe, festzustellen, daß die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit der rückwirkenden Aufhebung der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften entgegenstuenden. Mit dem Erlaß des belgischen Gesetzes vom 28. Dezember 1992 habe sie unabhängig vom Erlaß einer Königlichen Verordnung zur Durchführung von Artikel 44 Absatz 3 Unterabsatz 2 Buchstabe c des belgischen Mehrwertsteuergesetzbuchs mit der Einräumung des Optionsrechts rechnen dürfen.
24 Auch die Kommission macht geltend, zwar habe es dem betreffenden Mitgliedstaat freigestanden, seine Entscheidung, das Optionsrecht einzuführen, zu ändern, doch dürfe er nicht das Bestehen von Rechten auf Vorsteuerabzug in Abrede stellen, die durch die Sechste Richtlinie begründet worden seien. Da nämlich Artikel 17 der Sechsten Richtlinie vorsehe, daß das Recht auf Vorsteuerabzug mit Entstehung des Anspruchs auf die abziehbare Steuer entstehe, könne sich ein Mitgliedstaat, nachdem ein solches Recht einmal begründet worden sei, nicht rückwirkend über die Vorschriften über den Vorsteuerabzug hinwegsetzen.
25 Die belgische Regierung hat in der Sitzung darauf hingewiesen, daß zwar vom Erlaß der genannten Königlichen Verordnung nicht das Inkrafttreten der das Optionsrecht einführenden Bestimmung abhängig gewesen sei, daß jedoch das Ausbleiben der Verordnung, die diese Bestimmung hätte durchführen sollen, der Ausübung eines solchen Optionsrechts durch einen Steuerpflichtigen entgegengestanden habe.
26 Die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sind Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung und müssen von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien einräumen, beachtet werden. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist es jedoch nicht Sache des Gerichtshofes, sondern des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in der rückwirkenden Aufhebung eines Gesetzes, zu dem nie eine Durchführungsverordnung erlassen wurde, ein Verstoß gegen diese Grundsätze liegt.
27 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß es Artikel 2 der Ersten Richtlinie einem Mitgliedstaat,
- der von der in Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat und
- der demgemäß seinen Steuerpflichtigen das Recht eingeräumt hat, für eine Besteuerung bestimmter Grundstücksvermietungen zu optieren,
nicht verbietet, dieses Optionsrecht durch ein späteres Gesetz aufzuheben und so die Befreiung wiedereinzuführen.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in der rückwirkenden Aufhebung eines Gesetzes, zu dem nie eine Durchführungsverordnung erlassen wurde, ein Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes oder der Rechtssicherheit liegt.
Kosten
28 Die Auslagen der belgischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Tribunal de première instance Nivelles mit Urteil vom 3. November 1997 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer verbietet es einem Mitgliedstaat,
- der von der in Artikel 13 Teil C der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat und
- der demgemäß seinen Steuerpflichtigen das Recht eingeräumt hat, für eine Besteuerung bestimmter Grundstücksvermietungen zu optieren,
nicht, dieses Optionsrecht durch ein späteres Gesetz aufzuheben und so die Befreiung wiedereinzuführen.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in der rückwirkenden Aufhebung eines Gesetzes, zu dem nie eine Durchführungsverordnung erlassen wurde, ein Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes oder der Rechtssicherheit liegt.