Avis juridique important
Urteil des Gerichtshofes vom 15. Februar 2000. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik. - Soziale Sicherheit - Finanzierung - Anwendbare Rechtsvorschriften. - Rechtssache C-169/98.
Sammlung der Rechtsprechung 2000 Seite I-01049
Leitsätze
Parteien
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und -selbständigen - Gleichbehandlung - Anwendung eines "allgemeinen Sozialbeitrags" durch einen Mitgliedstaat auf die dort wohnenden Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten - Unzulässigkeit
(EG-Vertrag, Artikel 48 und 52 [nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG]; Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 13)
$$Ein Mitgliedstaat, der einen "allgemeinen Sozialbeitrag", dessen Aufkommen den für die Gewährung der Leistungen bei Alter, an Hinterbliebene und bei Krankheit sowie der Familienleistungen zuständigen Einrichtungen zufließt, auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen anwendet, die in diesem Staat wohnen, aber in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten und nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den Rechtsvorschriften des Wohnstaats über die soziale Sicherheit unterliegen, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 13 dieser Verordnung und aus den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG).
Da ein solcher Beitrag nämlich speziell und unmittelbar für die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit dieses Staates verwendet wird, fällt er in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 und stellt eine Abgabe dar, die von dem Verbot der doppelten Beitragsleistung erfaßt wird, das in Artikel 13 der Verordnung und den genannten Bestimmungen des Vertrages, die mit Artikel 13 durchgeführt werden sollen, vorgesehen ist.
Weder der Umstand, daß durch die Zahlung des Beitrags kein Anspruch auf irgendeine unmittelbare und bestimmbare Gegenleistung entsteht, noch die beschränkte Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer und Selbständigen oder der sehr geringe Abgabensatz können diese Feststellung widerlegen. (vgl. Randnrn. 31, 34-35, 37-38, 45-46, 48 und Tenor)
In der Rechtssache C-169/98
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater P. Hillenkamp und H. Michard, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: C. Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Französische Republik, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und C. Chavance, Berater für Auswärtige Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
Beklagte,
wegen Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG) und Artikel 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung verstoßen hat, daß sie den allgemeinen Sozialbeitrag auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen angewandt hat, die in Frankreich wohnen, aber nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida (Berichterstatter), D. A. O. Edward, L. Sevón und R. Schintgen sowie der Richter C. Gulmann, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann, H. Ragnemalm und M. Wathelet,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 4. Mai 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 1999,
folgendes
Urteil
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 7. Mai 1998 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) Klage erhoben auf Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG) und Artikel 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) verstoßen hat, daß sie den allgemeinen Sozialbeitrag (contribution sociale généralisée; im folgenden: CSG) auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen angewandt hat, die in Frankreich wohnen, aber nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen.
Die Gemeinschaftsregelung
2 Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
"(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:
a) Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,
b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,
c) Leistungen bei Alter,
d) Leistungen an Hinterbliebene,
e) Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten,
f) Sterbegeld,
g) Leistungen bei Arbeitslosigkeit,
h) Familienleistungen.
(2) Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Absatz 1 verpflichtet sind."
3 Artikel 1 Buchstabe j der Verordnung Nr. 1408/71 definiert den Begriff "Rechtsvorschriften" als "in jedem Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in bezug auf die in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit oder die in Artikel 4 Absatz 2a erfaßten beitragsunabhängigen Sonderleistungen".
4 Artikel 13 der Verordnung bestimmt:
"(1) Vorbehaltlich des Artikels 14c unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
(2) Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:
a) Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;
b) eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt;
..."
Die nationale Regelung
5 Der CSG wurde durch das Haushaltsgesetz Nr. 90-1168 vom 29. Dezember 1990 (JORF vom 30. Dezember 1990, S. 16387) eingeführt. Die einschlägigen Vorschriften über den CSG, die Artikel 127 bis 135 dieses Gesetzes, wurden durch das Gesetz Nr. 93-936 vom 22. Juli 1993 über die Altersrenten und die Sicherung des sozialen Schutzes (JORF vom 23. Juli 1993, S. 10374) in den Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch, Artikel L. 136-1 bis L. 136-9) aufgenommen.
6 Natürliche Personen, die ihren steuerlichen Wohnsitz für die Zwecke der Einkommensteuerveranlagung in Frankreich haben, müssen den CSG insbesondere auf ihre Erwerbs- und Ersatzeinkünfte entrichten.
7 Nach Artikel 4 B des Code général des impôts (Abgabenordnung) wird davon ausgegangen, daß Personen, deren Haushalt oder Hauptaufenthaltsort sich in Frankreich befindet, Personen, die in Frankreich eine unselbständige oder selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, sofern sie nicht nachweisen, daß es sich dabei nur um eine Nebentätigkeit handelt, sowie Personen, bei denen der Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen Betätigung in Frankreich liegt, ihren steuerlichen Wohnsitz in Frankreich haben.
8 Der CSG ist auf Einnahmen aus Vermögen, Anlagegewinne, Spieleinsätze und -einnahmen sowie Erwerbs- und Ersatzeinkünfte einschließlich - vorbehaltlich der von der Französischen Republik geschlossenen internationalen Doppelbesteuerungsabkommen - der im Ausland bezogenen oder aus ausländischen Quellen stammenden Erwerbs- und Ersatzeinkünfte zu entrichten.
9 Das Gesetz Nr. 96-1160 vom 27. Dezember 1996 über die Finanzierung der sozialen Sicherheit für 1997 (JORF vom 29. Dezember 1996, S. 19369) hat die Bemessungsgrundlage des CSG für die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte in der Weise erweitert, daß sie weitgehend der Bemessungsgrundlage des Beitrags zur Begleichung der Sozialschuld (contribution pour le remboursement de la dette sociale) angeglichen wurde, um den es in einem anderen Urteil geht, das heute verkündet worden ist (C-34/98, Kommission/Frankreich). Der CSG betrifft somit insbesondere die Löhne und Gehälter, das Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, die Alters- und Invaliditätsrenten sowie die Arbeitslosenunterstützung.
10 Gemäß Artikel L. 136-8 III des Sozialgesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes Nr. 96-1160 fließt das Aufkommen aus dem CSG der Zentralkasse für Familienzulagen, den Alterssolidaritätsfonds und den gesetzlichen Krankenversicherungssystemen zu.
11 Soweit der CSG die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte betrifft, wird er von den für die Einziehung der Beiträge für das allgemeine System der sozialen Sicherheit zuständigen Einrichtungen nach den Vorschriften und mit den Garantien und Sanktionen erhoben, die bei der gleichen Einkommensgruppe für die Erhebung der Beiträge für das allgemeine System gelten. Für die Anwendung dieser Vorschriften sind die Grenzgänger aufgefordert worden, sich bei den Einrichtungen des Verbandes für die Erhebung der Beiträge der sozialen Sicherheit und der Familienbeihilfen registrieren zu lassen.
Vorverfahren
12 Mit Schreiben vom 25. November 1994 forderte die Kommission die französische Regierung auf, sich zur Vereinbarkeit der Anwendung des CSG auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen, die in Frankreich wohnen, aber in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten und nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen, mit dem Gemeinschaftsrecht zu äußern.
13 Mit Schreiben vom 22. März 1995 antworteten die französischen Behörden, sie teilten nicht die Auffassung der Kommission, daß der CSG, ein Sozialbeitrag, in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle, insbesondere was den Einheitlichkeitsgrundsatz des Artikels 13 der Verordnung angehe. Die französische Regierung beschloß gleichwohl am 28. November 1994, im Hinblick auf eine Reform der fraglichen Rechtsvorschriften die Verwaltungsvorgänge zur Erhebung des CSG bei den Beziehern ausländischer Erwerbs- und Ersatzeinkünfte auszusetzen.
14 Aufgrund dieser Aussetzung verschob die Kommission ihre Entscheidung über eine Fortsetzung des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 169 des Vertrages, und mit Schreiben vom 21. März 1996 forderten die Dienststellen der Kommission die französischen Behörden auf, sie über den Stand der Erhebung des CSG bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbständigen sowie der angekündigten Reformen zu unterrichten.
15 Da die Kommission die Antwort der französischen Regierung nicht für ausreichend hielt, forderte sie die französischen Behörden mit Schreiben vom 6. Oktober 1996 erneut auf, sie innerhalb eines Monats über den Stand der Erhebung des CSG bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbständigen sowie der angekündigten Reformen zu informieren. Dieses Schreiben blieb unbeantwortet.
16 Am 16. Dezember 1997 sandte die Kommission den französischen Behörden eine mit Gründen versehene Stellungnahme, wonach die Französische Republik dadurch gegen die Artikel 48 und 52 des Vertrages und Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 verstößt, daß sie den CSG auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen anwendet, die in Frankreich wohnen, aber nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen. Die Kommission forderte die Französische Republik auf, der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
17 Da die französischen Behörden der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkamen, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
Zur Klage
18 Die Klage betrifft die Erhebung des CSG nur insoweit, als dieser die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der in Frankreich wohnenden und dort der Steuer unterliegenden Arbeitnehmer und Selbständigen erfaßt, die diese Einkünfte im Rahmen einer Erwerbstätigkeit erzielt haben, die sie in einem anderen Mitgliedstaat ausüben oder ausgeübt haben, und die deshalb nach der Verordnung Nr. 1408/71 dem System der sozialen Sicherheit des Beschäftigungsstaats angeschlossen sind.
19 Nach Auffassung der Kommission stellt die Erhebung dieses Beitrags eine doppelte Sozialabgabe dar, die sowohl gegen Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 als auch gegen die Artikel 48 und 52 des Vertrages verstoße.
Zur Rüge des Verstoßes gegen Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71
20 Nach Ansicht der Kommission ist der CSG, der zur Finanzierung mehrerer in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genannter Zweige des französischen allgemeinen Systems der sozialen Sicherheit beitragen solle, ein Sozialversicherungsbeitrag, der in den Geltungsbereich dieser Verordnung falle. Die Erhebungsmodalitäten des CSG und die Verfahrensvorschriften für die Streitigkeiten aufgrund der Beitragspflicht, bei denen es sich um die für Sozialversicherungsbeiträge geltenden Modalitäten und Vorschriften handele, bestätigten, daß der CSG von der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt werde. Auch der Umstand, daß der CSG auf Erwerbs- und Ersatzeinkünfte nach dem Haushaltsgesetz Nr. 96-1181 vom 30. Dezember 1996 (JORF vom 31. Dezember 1996, S. 19490) in bestimmter Höhe von der Einkommensteuer abziehbar sei, stütze die These, daß diese Abgabe ihrem Wesen nach ein Sozialversicherungsbeitrag sei, der in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle.
21 Folglich verstoße die Französische Republik dadurch, daß sie den CSG auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte erhebe, die die in Frankreich wohnenden Arbeitnehmer und Selbständigen im Rahmen einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübten Erwerbstätigkeit erzielt hätten, gegen den in Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften, da dieselben Einkünfte bereits im Beschäftigungsmitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften nach Artikel 13 allein anwendbar seien, mit sämtlichen Sozialabgaben belastet worden seien.
22 Die französische Regierung macht geltend, das Recht auf sozialen Schutz gehöre zu den Grundrechten des Bürgers. Dieser Schutz müsse für die gesamte Bevölkerung gelten und ein hohes Niveau erreichen, und seine Kosten müßten gerecht auf die Bürger verteilt werden.
23 Das letztgenannte Ziel dürfe nicht durch eine Finanzierung aus den allein auf dem Arbeitseinkommen beruhenden Sozialbeiträgen erreicht werden, sondern es müßten sämtliche Einkünfte erfaßt werden. Der CSG sei ebenso wie der Beitrag zur Begleichung der Sozialschuld, um den es in dem genannten Urteil Kommission/Frankreich gehe, eine Maßnahme, die im Rahmen einer schrittweisen Fiskalisierung der sozialen Sicherheit getroffen worden sei.
24 Aufgrund seiner Merkmale und seines Zweckes sei der CSG als Steuer zu qualifizieren, die somit nicht vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt werde und weiterhin in die eigenen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten im Bereich der Haushalts- und Sozialpolitik falle.
25 Die französische Regierung begründet ihre Auffassung insbesondere damit, daß der CSG allein aufgrund des Kriteriums des steuerlichen Wohnsitzes in Frankreich geschuldet werde, unabhängig davon, welche berufliche Stellung der Betroffene habe oder welchem System der sozialen Sicherheit er angehöre. Außerdem erhielten die Personen, die den CSG zu entrichten hätten, keine Gegenleistung der sozialen Sicherheit für diesen Beitrag, während alle in Frankreich wohnenden Personen, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübten oder nicht, aufgrund ihres Wohnsitzes durch den CSG finanzierte und zur nationalen Solidarität gehörende Sozialleistungen erhalten könnten, nämlich die Familienleistungen und die Leistungen des Alterssolidaritätsfonds. Weder die Modalitäten der Erhebung noch die der Verwendung des Aufkommens aus dem CSG seien ein erhebliches Kriterium für die Anwendung des Grundsatzes der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften.
26 Die Verordnung Nr. 1408/71 enthalte keine Definition des Begriffes "Sozialbeiträge" und überlasse den Mitgliedstaaten die Wahl der verschiedenen Methoden der Organisation und Finanzierung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit.
27 Sei, wie die Kommission ausführe, die dänische Regelung zur Finanzierung der Sozialversicherung, die hauptsächlich auf Steuern basiere, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, so müsse das gleiche für den CSG gelten. Zwar wäre es möglich gewesen, die betreffenden Zweige der sozialen Sicherheit u. a.durch eine Erhöhung der Einkommensteuer zu finanzieren, die auch von den in Frankreich wohnenden Grenzgängern zu entrichten sei. Die Französische Republik habe sich jedoch nicht für ein solches System entschieden, dem es den Abgabenpflichtigen gegenüber an Transparenz fehle und bei dem daher die Gefahr bestehe, daß es das verfolgte Ziel weitgehend verfehle.
28 Schließlich sei der CSG keine Maßnahme, die den Umstand kompensieren solle, daß die Grenzgänger nicht dem französischen System der sozialen Sicherheit angehörten und daher gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 keine Beiträge an dieses System entrichteten. Der Satz des CSG betrage nämlich 7,5 %des Arbeitseinkommens, während sich sämtliche Sozialbeiträge zusammen auf 42 %des Einkommens der Abgabenpflichtigen beliefen.
29 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes unterliegt ein Arbeitnehmer, der für ein und dasselbe Arbeitseinkommen mit Sozialabgaben belastet wird, die sich aus der Anwendung der Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten ergeben, obgleich er nur nach den Rechtsvorschriften eines dieser Staaten die Versicherteneigenschaft besitzen kann, einer doppelten Beitragsleistung, die im Widerspruch zu Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 steht (vgl. u. a.Urteile vom 5. Mai 1977 in der Rechtssache 102/76, Perenboom, Slg. 1977, 815, Randnr. 13, und vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-60/93, Aldewereld, Slg. 1994, I-2991, Randnr. 26).
30 Es steht fest, daß die von der vorliegenden Vertragsverletzungsklage betroffenen Personen, also die Gemeinschaftsbürger, die in Frankreich wohnen, aber aufgrund einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 nur nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats die Versicherteneigenschaft besitzen, gegebenenfalls vorbehaltlich der von der Französischen Republik geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen, für die Einkünfte aus ihrer Erwerbstätigkeit im Beschäftigungsstaat nicht nur mit den Sozialabgaben belastet werden, die sich aus der Anwendung der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Beschäftigungsstaats ergeben, sondern auch mit Sozialabgaben wie vorliegend dem CSG, die aus der Anwendung der Rechtsvorschriften des Wohnstaats resultieren.
31 Der Auffassung der französischen Regierung, daß der CSG, da er in Wirklichkeit als Steuer zu qualifizieren sei, nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 und somit nicht unter das Verbot der Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften falle, kann daher nicht gefolgt werden.
32 Die Tatsache, daß eine Abgabe nach nationalem Recht als Steuer qualifiziert wird, bedeutet nämlich nicht, daß sie nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen kann und damit nicht vom Verbot der Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften erfaßt wird.
33 Wie der Gerichtshof u. a.im Urteil vom 18. Mai 1995 in der Rechtssache C-327/92 (Rheinhold & Mahla, Slg. 1995, I-1223, Randnr. 15) entschieden hat, bestimmt Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 den Geltungsbereich der Vorschriften dieser Verordnung in einer Weise, die erkennen läßt, daß die Systeme der sozialen Sicherheit in ihrer Gesamtheit der Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen unterliegen. In Randnummer 23 dieses Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, daß das entscheidende Kriterium für die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 darin liegt, daß zwischen der fraglichen Vorschrift und den Gesetzen zur Regelung der in Artikel 4 der Verordnung aufgeführten Zweige der sozialen Sicherheit ein Zusammenhang bestehen muß, der unmittelbar und hinreichend relevant ist.
34 Wie die Kommission zutreffend geltend macht, besteht zwischen dem CSG und den Gesetzen zur Regelung der in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit ein derartiger unmittelbarer und hinreichend relevanter Zusammenhang, so daß dieser Beitrag als Abgabe betrachtet werden kann, die vom Verbot der doppelten Beitragsleistung erfaßt wird.
35 Wie der Generalanwalt in den Nummern 25 und 26 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, dient der CSG nämlich, anders als die Abgaben, mit denen die allgemeinen Ausgaben der öffentlichen Hand finanziert werden sollen, speziell und unmittelbar zur Finanzierung der sozialen Sicherheit in Frankreich, da die entsprechenden Einnahmen der Zentralkasse für Familienzulagen, den Alterssolidaritätsfonds und den gesetzlichen Krankenversicherungssystemen zufließen. Der CSG soll daher insbesondere die in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit finanzieren, die Leistungen bei Alter, an Hinterbliebene und bei Krankheit sowie Familienleistungen betreffen.
36 Dieser Zusammenhang des CSG mit den Gesetzen zur Regelung der sozialen Sicherheit in Frankreich ergibt sich auch daraus, daß, wie die französische Regierung selbst bestätigt, die betreffende Abgabe zum Teil die Sozialversicherungsbeiträge ersetzt, die die niedrigen und mittleren Einkommen in hohem Maße belastet haben, und eine Erhöhung der bestehenden Beiträge überfluessig macht.
37 Diese Feststellung kann nicht dadurch widerlegt werden, daß durch die Zahlung des CSG kein Anspruch auf irgendeine unmittelbare und bestimmbare Gegenleistung entsteht.
38 Das entscheidende Kriterium für die Anwendung des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1408/71 besteht nämlich darin, ob eine Abgabe speziell für die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats verwendet wird. Ob Gegenleistungen erbracht werden, ist insoweit unerheblich.
39 Demnach ist die erste Rüge der Kommission begründet.
Zur Rüge des Verstoßes gegen die Artikel 48 und 52 des Vertrages
40 Die Kommission ist der Auffassung, die in Frankreich wohnenden und dem französischen System der sozialen Sicherheit angehörenden Abgabenpflichtigen befänden sich in einer anderen Lage als die Abgabenpflichtigen, die in diesem Mitgliedstaat wohnten, aber von ihren Rechten auf Freizügigkeit und freie Niederlassung nach den Artikeln 48 und 52 des Vertrages Gebrauch gemacht hätten und deshalb gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 zur Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats beitragen müßten. Indem die Französische Republik diese unterschiedliche Lage außer acht gelassen habe, habe sie gegen den in den genannten Vorschriften verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.
41 Die französische Regierung meint dagegen, die Arbeitnehmer und Selbständigen, die in einem anderen Mitgliedstaat Erwerbs- oder Ersatzeinkünfte erzielten, befänden sich hinsichtlich des CSG in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer und Selbständigen, die derartige Einkünfte in Frankreich erzielten, so daß die erstgenannten Personen nicht diskriminiert würden. Zunächst seien der Satz und die Bemessungsgrundlage des CSG für alle in Frankreich wohnenden Personen, die auf ihre ausländischen Einkünfte Steuern zu entrichten hätten, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleich. Der CSG sei somit Bestandteil eines Steuersystems, das im Hinblick auf die in Frankreich wohnenden und dort zur Steuer veranlagten Personen völlig kohärent sei. Sodann falle der CSG in den Geltungsbereich der von der Französischen Republik geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen, die, um jede Doppelbesteuerung zu verhindern, einen Anspruch auf Steuerguthaben oder auf Steuerbefreiung ausländischer Einkünfte verliehen. Schließlich weist die französische Regierung auf den niedrigen Satz der betreffenden Abgabe hin, der seit dem 1. Januar 1998 7,5 %für die Löhne und Gehälter und 6,2 %für die Ersatzeinkünfte betrage.
42 Zwar gilt der CSG für alle in Frankreich wohnenden Personen in gleicher Weise, doch müssen diejenigen, die in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten und gemäß Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 zur Finanzierung der sozialen Sicherheit dieses Staates beitragen, auch, wenn auch nur zum Teil, die soziale Sicherheit des Wohnstaats finanzieren, während die übrigen gebietsansässigen Personen nur Beiträge zum System des letztgenannten Staates zahlen müssen.
43 Der in Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellte Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit soll aber gerade die Ungleichbehandlungen ausschließen, die aus einer teilweisen oder vollständigen Kumulierung der anwendbaren Rechtsvorschriften folgen würden.
44 Wie aus der zehnten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1408/71 hervorgeht, kann nämlich der Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften "die Gleichbehandlung aller im Gebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Arbeitnehmer und Selbständigen am besten" gewährleisten.
45 Demnach macht die Kommission, wie der Generalanwalt in Nummer 35 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, mit dieser Rüge lediglich unter dem Blickwinkel der Artikel 48 und 52 des Vertrages die gleiche Vertragsverletzung geltend, wie sie im Zusammenhang mit Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt worden ist. Da die Regelung des CSG die Ursache einer gegen diesen Artikel verstoßenden Ungleichbehandlung ist, verstößt sie insoweit auch gegen die Bestimmungen des Vertrages, die mit Artikel 13 durchgeführt werden sollen. Diese Ungleichbehandlung stellt nämlich ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar, das in Anbetracht des Artikels 13 der Verordnung Nr. 1408/71 in keiner Weise gerechtfertigt werden kann.
46 Zum Vorbringen der französischen Regierung, daß der CSG wegen der von der Französischen Republik geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen jedenfalls nur eine beschränkte Anzahl der von der vorliegenden Klage betroffenen Arbeitnehmer und Selbständigen erfasse und der Satz der fraglichen Abgabe ganz gering sei, genügt die Feststellung, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Artikel des Vertrages über den freien Warenverkehr, die Freizügigkeit sowie den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr grundlegende Bestimmungen für die Gemeinschaft darstellen und daß jede Beeinträchtigung dieser Freiheit, mag sie noch so unbedeutend sein, verboten ist (vgl. u. a.Urteil vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-49/89, Corsica Ferries France, Slg. 1989, 4441, Randnr. 8).
47 Die zweite Rüge der Kommission ist daher ebenfalls begründet.
48 Nach alledem hat die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 13 der Verordnung Nr. 1408/71 und den Artikeln 48 und 52 des Vertrages verstoßen, daß sie den CSG auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen angewandt hat, die in Frankreich wohnen, aber nach der genannten Verordnung nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen.
Kosten
49 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Französischen Republik in die Kosten beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung und aus den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 39 EG und 43 EG) verstoßen, daß sie den allgemeinen Sozialbeitrag auf die Erwerbs- und Ersatzeinkünfte der Arbeitnehmer und Selbständigen angewandt hat, die in Frankreich wohnen, aber nach der Verordnung Nr. 1408/71 nicht den französischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliegen.
2. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.