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SCHLUSSANTRÄGE DER FRAU GENERALANWALT
CHRISTINE STIX-HACKL
vom 5. Februar 2004(1)


Rechtssache C-400/02



Gerard Merida
gegen
Bundesrepublik Deutschland


(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts [Deutschland])

„Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Gleichbehandlung in Tarifverträgen – Überbrückungsbeihilfe – Diskriminierung von ehemaligen Arbeitnehmern in Deutschland mit Wohnsitz in Frankreich“






I – Einleitung

1.        Das vorliegende Verfahren betrifft die Berechnung einer bestimmten tarifvertraglichen Leistung („Überbrückungsbeihilfe“), die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 (2) des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (im Folgenden: Verordnung Nr. 1612/68)

2.        Artikel 7 Absatz 4 lautet:

„Alle Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen betreffend Zugang zur Beschäftigung, Beschäftigung, Entlohnung und alle übrigen Arbeits- und Kündigungsbedingungen sind von Rechts wegen nichtig, so weit sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsehen oder zulassen.“

B – Nationales Recht

3.        Nach den unwidersprochenen Angaben des vorlegenden Gerichts im Vorlagebeschluss und des Vertreters der Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung stellt sich die maßgebliche deutsche Rechtslage wie folgt dar:

4.        Bei französischen Stationierungskräften auf deutschem Staatsgebiet waren bis zu ihrem Abzug zivile Arbeitnehmer beschäftigt, deren Arbeitgeber die französischen Truppen waren. Der Aktivbezug wurde im Auftrag und für Rechnung der französischen Truppen von Behörden der Bundesrepublik Deutschland ausgezahlt. Aufgrund des deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommens richtete sich das auf den Aktivbezug anwendbare Steuerrecht nach dem Wohnsitz des Arbeitnehmers. Die deutschen Behörden behielten dementsprechend vom Bruttoaktivbezug der Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Frankreich keine Lohnsteuer ein, sondern zahlten ihnen einen gegenüber den Arbeitnehmern mit Wohnsitz in Deutschland höheren Betrag aus. Dieser vom früheren Arbeitgeber gezahlte Betrag unterlag in Frankreich der Steuer.

5.        Die Überbrückungsbeihilfe ist eine Sozialleistung, die die Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Tarifvertrags vom 31. August 1971 zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden: Tarifvertrag Soziale Sicherung) im eigenen Namen und aus Haushaltsmitteln der Bundesrepublik Deutschland an ehemalige Arbeitnehmer der „französischen Streitkräfte auf deutschem Staatsgebiet“ zahlt, wenn deren Arbeitsverhältnis aufgrund des Abzugs der Stationierungskräfte aus Deutschland gekündigt worden ist.

6.        Nach den für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Bestimmungen des Tarifvertrags Soziale Sicherung wird die Höhe der Überbrückungsbeihilfe für alle Bezieher gleich berechnet. Diese Berechnung erfolgt im Wesentlichen so, dass von jener tarifvertraglichen Grundvergütung, die dem Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Entlassung für einen vollen Kalendermonat zustand, neben den effektiv erhaltenen Leistungen bei Arbeitslosigkeit, u. a. die fiktive deutsche Lohnsteuer in Anschlag gebracht wird, und zwar letztere nach Maßgabe der zum Zeitpunkt der Zahlung der Überbrückungsbeihilfe maßgeblichen Steuermerkmale. Die fiktive deutsche Lohnsteuer wird also auch im Falle ehemaliger Arbeitnehmer in Frankreich, die während des Aktivbezugs keine Lohnsteuerabzüge nach deutschem Recht hatten, in Anschlag gebracht.

7.        Die so berechnete Überbrückungsbeihilfe ist für in Deutschland lebende Bezieher oberhalb eines Freibetrags steuerpflichtig. In Frankreich lebende Bezieher müssen auf die Überbrückungsbeihilfe französische Steuern zahlen. § 4 Buchstabe 4 Satz 2 des Tarifvertrags Soziale Sicherung bestimmt: „Wird die Überbrückungsbeihilfe zu den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit … gezahlt, so ist sie um den zur Deckung der Lohnsteuer erforderlichen Betrag aufzustocken.“ Nach Aussage des Vertreters der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung bewirkt „diese Aufstockung … die Neutralisierung einer etwaigen Steuerbelastung. Dabei ist es irrelevant, welcher Mitgliedstaat … diese Steuer erhebt … Der Empfänger wird in Deutschland stets so gestellt, dass er wirtschaftlich nicht mit der Steuer belastet wird. Im vorliegenden Fall könnte … die Steuer erstattet werden, die [der Kläger] in Frankreich auf die Überbrückungsbeihilfe zu leisten hat. Dazu bedarf es lediglich eines entsprechenden Nachweises über die Höhe der Steuerzahlung. In- und Ausländer werden … in Bezug auf … real zu zahlende Steuern stets strikt gleich behandelt.“

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8.        Herr Merida ist französischer Staatsbürger und wohnt in Frankreich. Er arbeitete bis zu seiner Kündigung bei den französischen Stationierungsstreitkräften in Deutschland. Nachdem sein Arbeitsverhältnis beendet worden war, bezog Herr Merida eine Überbrückungsbeihilfe nach dem Tarifvertrag Soziale Sicherung. Die Höhe der Leistung wurde entsprechend dem Tarifvertrag Soziale Sicherung berechnet, d. h., vom ehemaligen Bruttogehalt wurden die in Frankreich tatsächlich bezogenen Leistungen bei Arbeitslosigkeit und die fiktive deutsche Lohnsteuer in Anschlag gebracht. Die so berechnete Überbrückungsbeihilfe war für Herrn Merida gemäß dem einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen in Frankreich wie ein Aktivbezug zu versteuern und unterlag daher der französischen Steuer.

9.        Da Herr Merida der Ansicht war, dass ihn der Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer gegenüber Arbeitnehmern mit Wohnsitz in Deutschland unzulässig benachteilige, erhob er Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Das zuständige Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht wiesen die Klage ab. Gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts erhob Herr Merida Revision vor dem Bundesarbeitsgericht. Dieses hat Zweifel, ob der Tarifvertrag Soziale Sicherung in Bezug auf den Berechnungsmodus für die Überbrückungsbeihilfe in Fällen wie jenen des Ausgangsrechtsstreits mit dem gemeinschaftlichen Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar sei. Aus diesem Grund hat das Bundesarbeitsgericht mit Beschluss vom 27. Juni 2002 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 39 EG dadurch verletzt, dass bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Überbrückungsbeihilfe im Fall des § 4 Ziffer 1 Buchstabe b TV SozSich die fiktive deutsche Lohnsteuer zugrunde zu legen ist (§ 4 Ziffer 3 Buchstabe b Satz 2 TV SozSich), wenn der frühere Arbeitnehmer im Ausland wohnt und dort steuerpflichtig ist?

IV – Zur Vorlagefrage

A – Wesentliche Vorbringen der Beteiligten

10.      Herr Merida und die Kommission sind der Ansicht, dass in Frankreich wohnende Bezieher der Überbrückungsbeihilfe durch den Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer mittelbar diskriminiert würden. Die Berechnungsweise der Überbrückungsbeihilfe habe zur Folge, dass diese Bezieher insgesamt weniger erhielten als ihren ehemaligen vom früheren Arbeitgeber gezahlten Betrag. Ein aufgrund des deutschen Wohnsitzes dem deutschen Steuerrecht unterliegender Arbeitnehmer habe neben dem Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer und der Leistungen bei Arbeitslosigkeit nämlich keine weiteren Abzüge auf die Überbrückungsbeihilfe. Die in Frankreich lebenden Bezieher der Überbrückungsbeihilfe müssten hingegen neben dem Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer zusätzlich die tatsächliche französische Steuer auf die Überbrückungsbeihilfe entrichten. Zweck der Überbrückungsbeihilfe sei aber die Weitergewährung des vollen vom früheren Arbeitgeber gezahlten Bezugs im ersten Jahr nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Dies sei bei Beziehern mit Wohnsitz in Deutschland gewährleistet. Aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens hätten Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich hingegen einen höheren Aktivbezug gehabt, weil die Leistungen des Arbeitgebers noch der Lohnsteuer in Frankreich unterlagen. Bei der Überbrückungsbeihilfe werde nun aber die Höhe des Bruttoaktivbezuges sowohl um die fiktive deutsche Lohnsteuer als auch um die tatsächliche französische Steuer gemindert. Diese Schlechterstellung könne auch nicht aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung gerechtfertigt werden. Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Artikel 39 EG könne dadurch nicht beschränkt werden.

11.      Die Bundesrepublik Deutschland ist der Auffassung, dass die Berechnung der Höhe der Überbrückungsbeihilfe unter Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer in Fällen wie denen des Herrn Merida nicht diskriminierend sei. Sie beruft sich dazu u. a. auf Gründe der Verwaltungsvereinfachung und darauf, dass die Überbrückungsbeihilfe keine Lohnfortzahlung im Falle der Arbeitslosigkeit sei. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der deutschen Regierung ausgeführt, dass es sich vielmehr um eine freiwillige Sozialleistung der Bundesrepublik Deutschland an ehemalige Arbeitnehmer anderer Staaten handle, die der „sozialen Abfederung des Umstellungsprozesses“ im Falle der Arbeitslosigkeit diene und „eine gewisse Fürsorge in Form einer Sozialleistung“ sei. Die Überbrückungsbeihilfe werde daher für alle Begünstigten gleich berechnet. Das Gemeinschaftsrecht begründe keinen Anspruch auf günstigere Behandlung der Grenzgänger gegenüber den im Inland wohnhaften Arbeitnehmern. In der mündlichen Verhandlung trug die Bundesrepublik Deutschland weiters vor, dass die Überbrückungsbeihilfe auch bei Beziehern mit Wohnsitz in Deutschland grundsätzlich noch als solche steuerpflichtig sei. Eventuell anfallende Steuern würden jedoch bei der Berechnung der Überbrückungshilfe durch eine entsprechende Aufstockung der Leistung „neutralisiert“. Diese Regelung gelte auch für in Frankreich auf die Überbrückungsbeihilfe zu leistende Steuern.

B – Würdigung

1. Zur Formulierung der Vorlagefrage

12.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 4 Ziffer 3 Buchstabe b Satz 2 des Tarifvertrags Soziale Sicherung mit Artikel 39 EG, insoweit in dieser Tarifvertragsbestimmung die „Ermittlung der Bemessungsgrundlage“ (gemeint ist offenbar die Bemessung der Höhe) der Überbrückungshilfe – auch für Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich –, unter Abzug der fiktiven deutschen Lohnsteuer, enthalten ist. Es ersucht daher um Auslegung des Artikels 39 EG. Tarifvertragliche Leistungen wie die der Überbrückungsbeihilfe fallen jedoch auch in den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots von Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68. Der Gerichtshof hat in ähnlichen Fällen bisher den EG-Vertrag und die Verordnung Nr. 1612/68 gemeinsam geprüft und festgestellt, dass die Verordnung die Rechte der Wanderarbeitnehmer aus Artikel 39 EG näher ausführt, insoweit es um Verpflichtungen aus einem Dienstverhältnis und/oder einem Tarifvertrag geht (3) .

13.      Ich schlage daher vor, die Vorlagefrage wie folgt umzuformulieren:

Sind Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft so auszulegen, dass sie einer nationalen tarifvertraglichen Regelung entgegenstehen, nach der sich die Höhe einer Sozialleistung wie der im Ausgangsrechtsstreit gegenständlichen „Überbrückungsbeihilfe“ im Falle von Beziehern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die dort auch steuerpflichtig sind, so bemisst, dass die fiktive inländische Lohnsteuer vom ehemaligen Bruttoaktivbezug in Anschlag gebracht wird, obwohl bei den genannten Beziehern während des aufrechten Arbeitsverhältnisses aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens keine inländische Lohnsteuer einbehalten wurde?

2. Zur Auslegung von Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68

a) Zur Frage einer möglichen Diskriminierung aufgrund einer faktischen Doppelbesteuerung

14.      Herr Merida und die Kommission sehen eine unzulässige Diskriminierung darin, dass bei der Berechnung der Überbrückungsbeihilfe für Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich die fiktive deutsche Lohnsteuer in Anschlag gebracht wird, obwohl die Überbrückungsbeihilfe in Frankreich noch zu versteuern ist. Auf diesen Gesichtspunkt zielt offenbar auch die Vorlagefrage des nationalen Gerichts, insoferne sie auf die Steuerpflicht in Frankreich abstellt.

15.      Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Tarifvertrag Soziale Sicherung, insoweit er die Grundlage einer möglichen Diskriminierung darstellen soll, vom vorlegenden Gericht nicht umfassend wiedergegeben wurde. Die Bundesrepublik Deutschland hat erst in der mündlichen Verhandlung unter Zitierung der entsprechenden Passage des Tarifvertrags – unwidersprochen – vorgetragen, dass die Überbrückungsbeihilfe auch für Bezieher in Deutschland steuerpflichtig sei, die Steuern aber ersetzt werden, und dieser Ersatz auch von Beziehern mit Wohnsitz in Frankreich beansprucht werden kann. Damit entfällt die von Herrn Merida und der Kommission in ihrer Argumentation offenbar vorausgesetzte und vom vorlegenden Gericht für möglich gehaltene Benachteiligung der Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich, die sich aus einer quasi „doppelten“ Besteuerung (fiktiv in Deutschland und tatsächlich in Frankreich) ergeben hätte.

b) Zur Frage einer möglichen Diskriminierung aufgrund dessen, dass die Höhe der Überbrückungsbeihilfe für Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich nicht dem ihnen vom früheren Arbeitgeber gezahlten Betrag entspricht

16.      Bei der Berechnung der Überbrückungsbeihilfe wird vom individuellen Bruttoaktivbezug für alle Bezieher, d. h. unabhängig vom Wohnsitz in Deutschland, die für eine Vergleichsperson mit Wohnsitz in Deutschland anfallende fiktive deutsche Lohnsteuer in Anschlag gebracht. Dadurch kommt es für Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich insofern zu einer Schlechterstellung gegenüber Beziehern mit Wohnsitz in Deutschland, als die Höhe der Überbrückungsbeihilfe bei den Erstgenannten, anders als bei den Zweitgenannten, nicht dem vom früheren Arbeitgeber gezahlten Betrag entspricht.

17.      Es fragt sich, ob darin eine von Artikel 39 und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 verbotene mittelbare Diskriminierung liegt.

18.      Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 verbieten nicht nur die Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (4) . Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, ist eine Vorschrift des nationalen Rechts, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (5) .

19.      Der Tarifvertrag Soziale Sicherung unterscheidet zwar nicht nach der Staatsbürgerschaft der Empfänger einer Überbrückungsbeihilfe, er kann jedoch unterschiedliche Auswirkungen haben je nachdem, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Bezugs der Überbrückungsbeihilfe in Deutschland wohnt oder in Frankreich. Ein Wohnsitz im Inland liegt bei eigenen Staatsbürgern jedoch weit häufiger vor als bei ehemaligen Wanderarbeitnehmern, sodass sich ein solches Kriterium bei ehemaligen Grenzgängern tendenziell nachteilig auswirkt (6) . Es könnte sich daher um einen Fall der mittelbaren Diskriminierung handeln.

20.      Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleichartige Situationen oder wenn dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird und dies nicht durch einen objektiven Unterschied bzw. Zweck gerechtfertigt werden kann (7) . Beim Berechnungsmodus der Überbrückungsbeihilfe könnte es sich um eine Vorschrift handeln, bei der eine gleiche Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird.

21.      Der Gerichtshof hat das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung meist anhand des Zwecks der jeweils streitigen Maßnahme beurteilt (8) .

22.      Nach dem insoweit plausiblen Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung ist der Zweck der Überbrückungsbeihilfe nicht die Aufrechterhaltung des individuellen Einkommensniveaus im Falle der Arbeitslosigkeit, sondern die Gewährung einer vom Arbeitsverhältnis unabhängigen staatlichen Sozialleistung, die der sozialen Abfederung im Falle der Arbeitslosigkeit dient. Dies ergibt sich daraus, dass die Leistung nicht auf Rechnung des ehemaligen Arbeitgebers, sondern von einem Dritten, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, aus eigenen Mitteln und ohne Gegenleistung erbracht wird.

23.      Mit diesem Zweck scheint es durchaus vereinbar, diese Sozialleistung für vergleichbare Bezieher mit Wohnsitz im Inland und mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat einheitlich, d. h., hier unter Berücksichtigung der fiktiven deutschen Lohnsteuer, zu berechnen.

24.      Dies führt zwar dazu, dass die Höhe der Überbrückungsbeihilfe für Bezieher mit Wohnsitz in Frankreich nicht der Höhe des vom früheren Arbeitgeber gezahlten Betrags entspricht. Dieser nominell höhere Betrag für Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Frankreich war jedoch lediglich die natürliche Folge des Umstandes, dass deren Einnahmen während des Aktivbezuges aufgrund des einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens von der deutschen Lohnsteuer befreit waren.

25.      Eine solche unterschiedliche Stellung der Steuerpflichtigen mit Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Doppelbesteuerungsabkommen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes mit dem Gemeinschaftsrecht insoweit vereinbar, als sie sich in erster Linie aus den unterschiedlichen Steuersätzen der betroffenen Mitgliedstaaten ergibt, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen (9) . Daraus, dass eine unterschiedliche Behandlung, wie sie im Ausgangsfall bei aktiven Arbeitnehmern mit Wohnsitz in Deutschland und Frankreich stattfand, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass sich dies auch in der Berechnung einer arbeitgeberunabhängigen staatlichen Sozialleistung niederschlagen muss, die den Zweck einer sozialen Abfederung im Falle der Arbeitslosigkeit verfolgt.

26.      Es ist daher festzustellen, dass Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 der Berechnung der Überbrückungsbeihilfe nach Maßgabe des Tarifvertrags Soziale Sicherung im Falle von Beziehern mit Wohnsitz in Frankreich nicht entgegenstehen, insoferne es sich bei der Überbrückungsbeihilfe um eine arbeitgeberunabhängige staatliche Sozialleistung handelt, deren Zweck in der sozialen Abfederung im Falle der Arbeitslosigkeit liegt.

V – Ergebnis

27.      Nach alledem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen, auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Artikel 39 EG und Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sind so auszulegen, dass sie einer nationalen tarifvertraglichen Regelung, nach der sich die Höhe einer Sozialleistung wie der im Ausgangsrechtsstreit gegenständlichen „Überbrückungsbeihilfe“ im Falle von Beziehern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, die dort auch steuerpflichtig sind, so bemisst, dass die fiktive inländische Lohnsteuer vom ehemaligen Bruttoaktivbezug in Anschlag gebracht wird, obwohl bei den genannten Beziehern während des aufrechten Arbeitsverhältnisses aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens keine inländische Lohnsteuer einbehalten wurde, dann nicht entgegenstehen, wenn eine in einem anderen Mitgliedstaat auf die Überbrückungsbeihilfe anfallende Steuer genau so ersetzt wird, wie eine im Inland gegebenenfalls anfallende Steuer.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 257, S. 2.


3 – Urteile vom 8. Mai 1990 in der Rechtssache 175/88 (Biehl, Slg. 1990, I-1779), vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C-419/92 (Scholz, Slg. 1994, I-505) und vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C-15/96 (Schöning-Kougebetopoulou, Slg. 1998, I-47).


4 – Urteile vom 12. Februar 1974 in der Rechtssache 152/73 (Sotgiu, Slg. 1974, 153, Randnr. 11), vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-237/94 (O’Flynn, Slg. 1996, I-2617, Randnr. 17) und vom 27. November 1997 in der Rechtssache C-57/96 (Meints, Slg. 1997, I-6689, Randnr. 44).


5 – Urteile vom 12. September 1996 in der Rechtssache C-278/94 (Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-4307) und in der Rechtssache O’Flynn (zitiert in Fußnote 4).


6 – Urteile Meints (zitiert in Fußnote 4) und vom 24. September 1998 in der Rechtssache C-35/97 (Kommission/Frankreich, Slg. 1998, I-5325).


7 – Siehe nur z. B. die Urteile zur steuerlichen Behandlung von Gebietsfremden vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93 (Schumacker, Slg. 1995, I-225), vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-80/94 (Wielockx, Slg. 1995, I-2493), vom 27. Juni 1996 in der Rechtssache C-107/94 (Asscher, Slg. 1996, I-3089) und vom 14. September 1999 in der Rechtssache C-391/97 (Gschwind, Slg. 1999, I-5451, Randnrn. 21 ff.), außerdem die Urteile Meints (zitiert in Fußnote 4), Randnr. 45, und O’Flynn (zitiert in Fußnote 4), Randnr. 20.


8 – Siehe etwa jüngst das Urteil des Gerichtshofes vom 23. Oktober 2003 in den verbundenen Rechtssachen C-4/02 und C-5/02 (Schönheit und Becker, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 84 und 95).


9 – Urteile vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-336/96 (Gilly, Slg. 1998, I-2793) und vom 12. Dezember 2002 in der Rechtssache C-385/00 (de Groot, Slg. 2002, I-11819).