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Rechtssache C-494/03

Senior Engineering Investments BV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Richtlinie 69/335/EWG – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Nationale Regelung, nach der eine Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag entrichten muss, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat – Gesellschaftsteuer – Erhöhung des Kapitals der Gesellschaft – Einzahlung ‚auf das Agio‘ – Erhöhung des Gesellschaftsvermögens – Erhöhung des Wertes der Gesellschaftsanteile – Leistung eines Gesellschafters – Zahlung durch einen Gesellschafter des Gesellschafters – Zahlung an eine Tochtergesellschaft – ‚Eigentlicher Empfänger‘ – Einmalige Erhebung der Gesellschaftsteuer (innerhalb der Gemeinschaft) – Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) – Niederlassungsfreiheit – Nationale Praxis, nach der die Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) nur dann von der Steuer befreit wird, wenn ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) ebenfalls in diesem Mitgliedstaat ansässig ist“

Schlussanträge des Generalanwalts M. Poiares Maduro vom 14. Juli 2005 

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 12. Januar 2006 

Leitsätze des Urteils

1.     Steuerrecht – Harmonisierung – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Bei Kapitalgesellschaften erhobene Gesellschaftsteuer

(Richtlinie 69/335 des Rates, Artikel 4 Absatz 2 Buchstaben b und c)

2.     Steuerrecht – Harmonisierung – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Bei Kapitalgesellschaften erhobene Gesellschaftsteuer

(Richtlinie 69/335 des Rates, sechste Begründungserwägung, Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b)

1.     „Erhöhung des Kapitals“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 69/335 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der durch die Richtlinie 85/303 geänderten Fassung impliziert eine förmliche Erhöhung des Kapitals der Gesellschaft, und zwar entweder durch Ausgabe neuer Anteile oder Aktien oder Erhöhung des Nennwerts der bereits ausgegebenen Anteile oder Aktien.

Da unter Gesellschaftsvermögen die Gesamtheit der Wirtschaftsgüter, die die Gesellschafter zu einem gemeinsamen Ganzen vereinigt haben, einschließlich ihres Zuwachses zu verstehen ist, umfasst die „Erhöhung des Gesellschaftsvermögens“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335 indessen grundsätzlich jede Form der Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft.

Der Umstand, dass ein Beitrag nicht vom Gesellschafter der fraglichen Kapitalgesellschaft, sondern von seiner Muttergesellschaft, also vom Gesellschafter des Gesellschafters, geleistet wurde, schließt nicht aus, dass es sich um eine „Leistung eines Gesellschafters“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335 handelt, sofern der fragliche Beitrag von der Großmuttergesellschaft an die Enkelgesellschaft gezahlt wurde, um den Wert der Gesellschaftsanteile an dieser zu erhöhen, und diese Erhöhung vor allem im Interesse des einzigen Gesellschafters, also der Tochtergesellschaft, liegt. Der Beitrag ist dann dieser zuzurechnen.

(vgl. Randnrn. 33-34, 39)

2.     Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 und der sechsten Begründungserwägung der Richtlinie 69/335 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der Fassung der Richtlinie 85/303 verbietet es einem Mitgliedstaat, von einer Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag zu erheben, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat, sofern dieser Beitrag nach den Vorschriften der Richtlinie bei der Enkelgesellschaft gesellschaftsteuerpflichtig ist.

Da Kapitalzuführungen an Gesellschaften nur einmal (innerhalb der Gemeinschaft) besteuert werden können, kann der fragliche Beitrag nämlich nicht ein weiteres Mal bei der Tochtergesellschaft besteuert werden.

In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass der fragliche Beitrag etwa auch das Gesellschaftsvermögen der Tochtergesellschaft erhöht haben könnte, denn eine solche Erhöhung könnte nicht mehr als eine automatisch eintretende wirtschaftliche Nebenwirkung der zugunsten der Enkelgesellschaft erbrachten Kapitalzuführung darstellen und wäre also nicht auf eine zweite, gesonderte Kapitalzuführung, die als solche steuerbar wäre, zurückzuführen. Ferner ist es unerheblich, dass der für die Besteuerung der Enkelgesellschaft zuständige Mitgliedstaat diese Gesellschaft in Wirklichkeit nicht besteuert hat. Die Mitgliedstaaten können nämlich Kapitalzuführungen an Gesellschaften von der Gesellschaftsteuer befreien, ohne dass dies etwa zur Folge hätte, dass sie von einem anderen Mitgliedstaat besteuert werden können.

(vgl. Randnrn. 40-44 und Tenor)




URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)

12. Januar 2006(*)

„Richtlinie 69/335/EWG – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Nationale Regelung, nach der eine Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag entrichten muss, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat – Gesellschaftsteuer – Erhöhung des Kapitals der Gesellschaft – Einzahlung ‚auf das Agio‘ – Erhöhung des Gesellschaftsvermögens – Erhöhung des Wertes der Gesellschaftsanteile – Leistung eines Gesellschafters – Zahlung durch einen Gesellschafter des Gesellschafters – Zahlung an eine Tochtergesellschaft – ‚Eigentlicher Empfänger‘ – Einmalige Erhebung der Gesellschaftsteuer (innerhalb der Gemeinschaft) – Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) – Niederlassungsfreiheit – Nationale Praxis, nach der die Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) nur dann von der Steuer befreit wird, wenn ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) ebenfalls in diesem Mitgliedstaat ansässig ist“

In der Rechtssache C-494/03

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 21. November 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 24. November 2003, in dem Verfahren

Senior Engineering Investments BV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter), der Richterin N. Colneric sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues, M. Ilešič und E. Levits,

Generalanwalt: M. Poiares Maduro,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Mai 2005,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–       der Senior Engineering Investments BV, vertreten durch H. T. P. M. van den Hurk und G. Weening, belasting adviseuren,

–       der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster, J. van Bakel und M. de Grave als Bevollmächtigte,

–       der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und A. Weimar als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2005

folgendes

Urteil

1       Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 2 und 4 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 (ABl. L 156, S. 23) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 69/335) sowie des Artikels 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG).

2       Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Senior Engineering Investments BV (im Folgenden: Senior BV oder Tochtergesellschaft) und dem Staatssecretaris van Financiën über die Erhebung von Gesellschaftsteuer für eine Kapitalzuführung ihrer Muttergesellschaft, der Senior Engineering Investments Ltd (im Folgenden: Senior Ltd oder Großmuttergesellschaft), „auf das Agio“ ihrer Tochtergesellschaft, der Senior Engineering Trading Gesellschaft für Autozulieferteile mbH (im Folgenden: Senior GmbH oder Enkelgesellschaft).

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

3       Mit der Richtlinie 69/335 soll, wie sich aus ihrer ersten und ihrer zweiten Begründungserwägung ergibt, der freie Kapitalverkehr, eine der für die Schaffung eines Binnenmarktes wesentlichen Grundfreiheiten, gefördert werden. Diese Richtlinie soll die steuerrechtlichen Hindernisse beseitigen, die auf dem Gebiet der Ansammlung von Kapital bestehen, insbesondere was Kapitalzuführungen von Gesellschaftern oder Aktionären an ihre Kapitalgesellschaften anbelangt.

4       Zu diesem Zweck sehen die Artikel 1 bis 9 der Richtlinie 69/335 die Erhebung einer harmonisierten Abgabe auf Kapitalzuführungen an Kapitalgesellschaften (im Folgenden: Gesellschaftsteuer) vor.

5       Nach der sechsten Begründungserwägung der Richtlinie 69/335 wird diese Gesellschaftsteuer innerhalb der Gemeinschaft nur einmal und in allen Mitgliedstaaten in gleicher Höhe erhoben.

6       So bestimmt Artikel 2 Absatz 1 dieser Richtlinie: „Die der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgänge werden ausschließlich in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Kapitalgesellschaft in dem Zeitpunkt befindet, in dem diese Vorgänge erfolgen.“

7       Artikel 4 der Richtlinie 69/335 listet die Vorgänge auf, die die Mitgliedstaaten der Gesellschaftsteuer unterwerfen können oder müssen (im Folgenden: Kapitalzuführungen an Gesellschaften).

8       So bestimmt Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten Gesellschaftsteuer auf „die Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art“ erheben.

9       Gemäß Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b können die Mitgliedstaaten Gesellschaftsteuer erheben auf „die Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft durch Leistungen eines Gesellschafters [oder eines Aktionärs], die keine Erhöhung des Kapitals mit sich bringen, sondern ihren Gegenwert in einer Änderung der Gesellschaftsrechte finden oder geeignet sind, den Wert der Gesellschaftsanteile [oder der Aktien] zu erhöhen“.

10     Gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 69/335 können die Mitgliedstaaten jedoch „alle anderen als die in Absatz 1 bezeichneten Vorgänge [die bereits befreit sind] von der Gesellschaftsteuer befreien …“.

 Nationale Regelung

11     Nach Artikel 32 Absatz 1 der Wet op de belastingen van rechtsverkeer (Verkehrsteuergesetz) vom 24. Dezember 1970 (Stb. 1970, 611) in der Fassung des Gesetzes vom 13. Dezember 1996 (Stb. 1996, 652) wird auf die Ansammlung von in Anteile aufgeteiltem Kapital in Körperschaften mit Sitz in den Niederlanden eine als „kapitaalbelasting“ (Kapitalsteuer) bezeichnete Steuer erhoben.

12     Artikel 34 Buchstaben c und d dieses Gesetzes umschreibt die „Ansammlung von in Anteile aufgeteiltem Kapital“ als „die Ansammlung von Kapital gegen Ausgabe von Genussscheinen, Gründeranteilen und dergleichen, die einen Anspruch auf einen Anteil am Gewinn oder am Veräußerungserlös verleihen“, sowie „den Erwerb von Kapital von einem Anteilseigner oder vom Inhaber von Genussscheinen, Gründeranteilen und dergleichen ohne ausdrückliche Gewährung der unter c genannten Ansprüche“.

13     Artikel 63 der Algemene wet inzake rijksbelastingen (Allgemeines Gesetz über die Reichssteuern) vom 2. Juli 1959 (Stb. 1959, 301) enthält eine allgemeine Härtefallregelung, auf deren Grundlage der Finanzminister oder -staatssekretär in bestimmten Fällen oder Kategorien von Fällen eine Befreiung gewähren kann, falls die Anwendung der Steuervorschriften zu einer unbilligen Härte führen würde.

 Durchführungsmaßnahmen

14     Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts verfolgte das Königreich der Niederlande zum maßgeblichen Zeitpunkt eine Politik, nach der ein Beitrag einer Großmuttergesellschaft an ihre Enkelgesellschaft grundsätzlich als ein Vorgang angesehen wurde, der sowohl bei der Tochtergesellschaft als auch bei der Enkelgesellschaft besteuert werden kann. Hatten beide ihren Sitz in den Niederlanden, so wurde allerdings nach der Härtefallregelung nur die Enkelgesellschaft besteuert.

15     Die niederländische Regierung führt jedoch aus, dass der Inspecteur van belastingen (Steuerverwaltung, im Folgenden: Inspecteur), falls die Enkelgesellschaft ihren Sitz außerhalb der Niederlande habe, auch von der Erhebung der Gesellschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft absehen könne, wenn die Gesellschaftsteuer bereits im Ausland bei der Enkelgesellschaft erhoben worden sei.

16     Die Politik des Königreichs der Niederlande habe also vielmehr darin bestanden, aus Gründen der Billigkeit und zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung innerhalb von Konzernen eine Tochtergesellschaft immer dann zu befreien, wenn die Enkelgesellschaft bereits (in den Niederlanden oder im Ausland) besteuert worden sei, und nicht nur dann, wenn diese ihren Sitz in den Niederlanden habe. In beiden Fällen sei nämlich die Erhebung der Gesellschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft unbillig im Sinne der Härtefallregelung.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

17     Die Senior BV ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach niederländischem Recht, deren sämtliche Anteile die Gesellschaft englischen Rechts Senior Ltd innehat. Die Senior BV hält ihrerseits sämtliche Anteile an der Gesellschaft deutschen Rechts Senior GmbH.

18     Am 8. Dezember 1997 leistete die Großmuttergesellschaft Senior Ltd an ihre Enkelgesellschaft Senior GmbH einen Beitrag in Höhe von 10 071 000 DEM (entsprechend 11 349 000 NLG).

19     In Deutschland wurde auf diesen Vorgang von der Senior GmbH keine Abgabe erhoben, da dieser Mitgliedstaat gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 69/335 die Gesellschaftsteuer mit Wirkung zum 1. Januar 1992 abgeschafft hatte.

20     In den Niederlanden musste die Senior BV Gesellschaftsteuer in Höhe von 113 490 NLG entrichten.

21     Die Senior BV legte dagegen Einspruch ein und machte geltend, diese Steuer sei unrechtmäßig. Nach Zurückweisung ihres Einspruchs durch den Inspecteur und Abweisung ihrer Klage durch den Gerechtshof Den Haag legte die Senior BV gegen dessen Entscheidung Kassationsbeschwerde ein.

22     Der Hoge Raad der Nederlanden hat Zweifel, ob es mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, dass nach der niederländischen Regelung einerseits eine Gesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag entrichten muss, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat, während andererseits eine Gesellschaft (Tochtergesellschaft), deren Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) ebenfalls in den Niederlanden ansässig ist, von dieser Steuer befreit ist. Er hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist es nach Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335 zulässig, von einer Gesellschaft für eine unmittelbare und formlose Kapitalzuführung ihrer Muttergesellschaft an ihre Tochtergesellschaft Gesellschaftsteuer zu erheben, und, wenn ja, welche Umstände sind dabei relevant? Ist insbesondere relevant, ob diese Gesellschaft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise als der „eigentliche Empfänger“ dieser unmittelbaren und formlosen Kapitalzuführung anzusehen ist?

2.      Verbietet die in Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) in Verbindung mit Artikel 58 EG-Vertrag (jetzt Artikel 48 EG) verankerte Niederlassungsfreiheit, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats die Politik verfolgt, von einer Gesellschaft für eine unmittelbare und formlose Kapitalzuführung ihrer Muttergesellschaft an ihre Tochtergesellschaft keine Gesellschaftsteuer zu erheben, wenn die Tochtergesellschaft in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, und ist – vorausgesetzt, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Erhebung von Gesellschaftsteuer sowohl von dieser Gesellschaft als auch von ihrer Tochtergesellschaft nach der Richtlinie zulässig ist – dabei relevant, ob auf Konzernebene eine höhere Gesellschaftsteuer erhoben wurde, als es der Fall gewesen wäre, wenn sowohl diese Gesellschaft als auch ihre Tochtergesellschaft in den Niederlanden ansässig gewesen wären?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage: Erhebung der Gesellschaftsteuer (Artikel 4 Absätze 1 Buchstabe c und 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335)

23     Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 69/335 es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einem Mitgliedstaat verbietet, von einer Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag zu erheben, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat.

24     Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 69/335 in ihren Artikeln 1 bis 9 die Erhebung einer harmonisierten Gesellschaftsteuer auf Kapitalzuführungen an Gesellschaften vorsieht.

25     Nach dem Aufbau der Richtlinie 69/335 und ihrer Systematik wird diese Gesellschaftsteuer bei der Kapitalgesellschaft erhoben, die Empfängerin der fraglichen Kapitalzuführung ist. Dies ist gewöhnlich die Gesellschaft, der die in Rede stehenden Mittel oder Leistungen physisch übertragen werden. Nur ausnahmsweise kann es sich anders verhalten und muss der „eigentliche Empfänger“ der fraglichen Mittel oder Leistungen ermittelt werden (vgl. insbesondere im Fall eines Zuschusses an die Tochtergesellschaften der Gesellschaft, die ihr Kapital erhöht hat, Urteil vom 17. Oktober 2002 in der Rechtssache C-339/99, ESTAG, Slg. 2002, I-8837, Randnrn. 44 bis 47).

26     Überdies ergibt sich aus der sechsten Begründungserwägung und aus Artikel 2 der Richtlinie 69/335, dass Kapitalzuführungen an Gesellschaften einmal (innerhalb der Gemeinschaft) besteuert werden (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 20. April 1993 in den Rechtssachen C-71/91 und C-178/91, Ponente Carni und Cispadana Costruzioni, Slg. 1993, I-1915, Randnr. 19, und vom 17. Dezember 1998 in der Rechtssache C-236/97, Codan, Slg. 1998, I-8679, Randnr. 27).

27     Für das Ausgangsverfahren ergibt sich aus der Sachverhaltsschilderung des vorlegenden Gerichts, dass der fragliche Beitrag als Kapitalzuführung an die Enkelgesellschaft (Senior GmbH) geleistet wurde. Es spricht aber nichts dafür, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens eine Ausnahmesituation vorläge, in der eine andere Gesellschaft, etwa die Tochtergesellschaft (Senior BV), als der „eigentliche Empfänger“ des Beitrags anzusehen wäre.

28     Daher ist zu prüfen, ob nach den Vorschriften der Richtlinie 69/335 der fragliche Beitrag bei der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) gesellschaftsteuerpflichtig ist. Sollte dies der Fall sein, so könnte nämlich dieser Beitrag nicht mehr bei einer anderen Gesellschaft, hier der Tochtergesellschaft (Senior BV), besteuert werden.

29     In diesem Zusammenhang führt Artikel 4 der Richtlinie 69/335 die Vorgänge auf, die die Mitgliedstaaten der Gesellschaftsteuer unterwerfen können oder müssen (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 18. März 1993 in der Rechtssache C-280/91, Viessmann, Slg. 1993, I-971, Randnr. 12, und vom 27. Oktober 1998 in der Rechtssache C-152/97, Agas, Slg. 1998, I-6553, Randnrn. 19 und 20).

30     Da es sich bei dem im Ausgangsverfahren fraglichen Vorgang um eine Kapitalzuführung einer Großmuttergesellschaft (Senior Ltd) an ihre Enkelgesellschaft (Senior GmbH) handelt, könnte er grundsätzlich entweder unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c oder unter Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335 fallen.

31     Nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 69/335 wird Gesellschaftsteuer erhoben auf die Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art.

32     Nach Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335 können die Mitgliedstaaten Gesellschaftsteuer erheben auf die Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft durch Leistungen eines Gesellschafters (oder eines Aktionärs), die keine Erhöhung des Kapitals mit sich bringen, sondern ihren Gegenwert in einer Änderung der Gesellschaftsrechte finden oder geeignet sind, den Wert der Gesellschaftsanteile (oder der Aktien) zu erhöhen.

33     Ein Vergleich dieser beiden Bestimmungen ergibt, wie von der niederländischen Regierung ausgeführt, dass „Erhöhung des Kapitals“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 69/335 eine förmliche Erhöhung des Kapitals der Gesellschaft impliziert, und zwar entweder durch Ausgabe neuer Anteile oder Aktien oder Erhöhung des Nennwerts der bereits ausgegebenen Anteile oder Aktien (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Juli 1982 in der Rechtssache 270/81, Felicitas, Slg. 1982, 2771, Randnr. 15, und vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 36/86, Dansk Sparinvest, Slg. 1988, 409, Randnr. 13).

34     Da unter Gesellschaftsvermögen die Gesamtheit der Wirtschaftsgüter, die die Gesellschafter zu einem gemeinsamen Ganzen vereinigt haben, einschließlich ihres Zuwachses zu verstehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 1990 in der Rechtssache C-38/88, Siegen, Slg. 1990, I-1447, Randnr. 12), umfasst die „Erhöhung des Gesellschaftsvermögens“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie indessen grundsätzlich jede Form der Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft. So hat der Gerichtshof als „Erhöhung des Gesellschaftsvermögens“ im Sinne dieser Vorschrift beispielsweise folgende Vorgänge angesehen: eine Gewinnabführung (vgl. Urteil vom 13. Oktober 1992 in der Rechtssache C-49/91, Weber Haus, Slg. 1992, I-5207, Randnr. 10), die Gewährung eines zinslosen Darlehens (vgl. insbesondere Urteil vom 17. September 2002 in der Rechtssache C-392/00, Norddeutsche Gesellschaft zur Beratung und Durchführung von Entsorgungsaufgaben bei Kernkraftwerken, Slg. 2002, I-7397, Randnr. 18), eine Übernahme von Verlusten (vgl. Urteil Siegen, Randnr. 13) und den Verzicht auf eine Forderung (vgl. Urteil vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-15/89, Deltakabel, Slg. 1991, I-241, Randnr. 12).

35     Im Ausgangsverfahren wurde der fragliche Beitrag „auf das Agio“ der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) eingezahlt. Da jedoch eine Einzahlung „auf das Agio“ keine „Erhöhung des Kapitals“ der Gesellschaft mit sich bringt, fällt dieser Beitrag nicht unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 69/335.

36     Der fragliche Beitrag fällt hingegen in den Anwendungsbereich von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335.

37     Die fragliche Kapitalzuführung führte nämlich erstens zu einer „Erhöhung des Gesellschaftsvermögens“ der Enkelgesellschaft (Senior GmbH).

38     Zweitens war dieser Beitrag „geeignet, den Wert der Gesellschaftsanteile zu erhöhen“. Nach Erbringung dieses Beitrags sind die Gesellschaftsanteile an der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) tatsächlich mehr wert.

39     Drittens stellt sich der fragliche Beitrag als „Leistung eines Gesellschafters“ dar. Er wurde zwar nicht vom Gesellschafter der Senior GmbH (Senior BV), sondern von deren Muttergesellschaft (Senior Ltd) geleistet, also vom Gesellschafter des Gesellschafters. Der Gerichtshof folgt jedoch hinsichtlich der Herkunft einer Kapitalzuführung nicht einem förmlichen Ansatz, sondern fragt nach der tatsächlichen Zurechnung (vgl. in diesem Sinne Urteile Weber Haus, Randnrn. 11 und 13, ESTAG, Randnrn. 37 bis 39 und 41, sowie Urteil vom 17. Oktober 2002 in der Rechtssache C-71/00, Develop, Slg. 2002, I-8877, Randnrn. 25 bis 29). Da der fragliche Beitrag von der Großmuttergesellschaft (Senior Ltd) an die Enkelgesellschaft (Senior GmbH) gezahlt worden war, um den Wert der Gesellschaftsanteile an dieser zu erhöhen, und diese Erhöhung vor allem im Interesse des einzigen Gesellschafters Senior BV lag, ist festzustellen, dass der genannte Beitrag dieser zuzurechnen ist. Es handelt sich daher um eine „Leistung eines Gesellschafters“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335.

40     Folglich ist der im Ausgangsverfahren streitige Beitrag nach den Vorschriften der Richtlinie 69/335 bei der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) gesellschaftsteuerpflichtig.

41     Da jedoch Kapitalzuführungen an Gesellschaften gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 69/335 in Verbindung mit deren sechster Begründungserwägung nur einmal (innerhalb der Gemeinschaft) besteuert werden können, kann der fragliche Beitrag nicht ein weiteres Mal bei der Tochtergesellschaft (Senior BV) besteuert werden.

42     In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, dass der fragliche Beitrag etwa auch das Gesellschaftsvermögen der Tochtergesellschaft (Senior BV) erhöht haben könnte. Eine solche Erhöhung könnte nämlich, wie der Generalanwalt in Nummer 21 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht mehr als eine automatisch eintretende wirtschaftliche Nebenwirkung der zugunsten der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) erbrachten Kapitalzuführung darstellen. Sie wäre also nicht auf eine zweite, gesonderte Kapitalzuführung, die als solche steuerbar wäre, zurückzuführen.

43     Ferner ist es unerheblich, dass der gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 69/335 für die Besteuerung der Enkelgesellschaft (Senior GmbH) zuständige Mitgliedstaat, also die Bundesrepublik Deutschland, diese Gesellschaft in Wirklichkeit nicht besteuert hat, weil dort die Gesellschaftsteuer seit dem 1. Januar 1992 abgeschafft ist. Die Mitgliedstaaten können nämlich gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 69/335 Kapitalzuführungen an Gesellschaften von der Gesellschaftsteuer befreien, ohne dass dies etwa zur Folge hätte, dass sie von einem anderen Mitgliedstaat besteuert werden können. Vielmehr fördert die Richtlinie 69/335 punktuelle Befreiungen von der Gesellschaftsteuer (Artikel 7 Absätze 1 und 3 sowie Artikel 8 und 9) sowie deren vollständige Abschaffung (Artikel 7 Absatz 2) und regt die Mitgliedstaaten hierzu an. Die Richtlinie kann daher nicht so ausgelegt werden, dass einem Mitgliedstaat gestattet wird, die steuerrechtliche Enthaltsamkeit eines anderen Mitgliedstaats dazu auszunützen, seine eigenen Steuereinnahmen zu erhöhen.

44     Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 und der sechsten Begründungserwägung der Richtlinie 69/335 es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einem Mitgliedstaat verbietet, von einer Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag zu erheben, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat.

 Zur zweiten Frage: Niederlassungsfreiheit (Artikel 52 EG-Vertrag)

45     In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

 Kosten

46     Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verbietet es Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 und der sechsten Begründungserwägung der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der Fassung der Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 einem Mitgliedstaat, von einer Kapitalgesellschaft (Tochtergesellschaft) Gesellschaftsteuer für einen Beitrag zu erheben, den ihre Muttergesellschaft (Großmuttergesellschaft) an ihre Tochtergesellschaft (Enkelgesellschaft) geleistet hat.

Unterschriften.


* Verfahrenssprache: Niederländisch.