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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 14. Juli 20051(1)

Rechtssache C-494/03

Senior Engineering Investments BV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Niederlande])

„Richtlinie 69/335/EG – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Gesellschaftsteuer– Unmittelbare Einlage einer Muttergesellschaft bei ihrer Enkelgesellschaft“






1.     In dieser Rechtssache legt der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) dem Gerichtshof zwei Fragen bezüglich der Erhebung von Gesellschaftsteuer auf eine unmittelbare formlose Kapitaleinlage einer Muttergesellschaft mit Sitz im Vereinigten Königreich bei ihrer in Deutschland ansässigen Enkelgesellschaft vor. Im Ausgangsverfahren stellt sich die Frage, ob die niederländischen Steuerbehörden befugt sind, Gesellschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft zu erheben, die in den Niederlanden ansässig ist. Das vorlegende Gericht ersucht erstens um eine Auslegung von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital(2). Unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache ESTAG(3) fragt der Hoge Raad insbesondere, ob die Tochtergesellschaft als der wahre Empfänger der Kapitaleinlage angesehen werden muss. Mit seiner zweiten Frage ersucht der Hoge Raad um eine Beurteilung im Licht der Niederlassungsfreiheit.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Einschlägiges Gemeinschaftsrecht

2.     Gemäß ihrer ersten Begründungserwägung ist es Ziel der Richtlinie 69/335, den freien Kapitalverkehr zu fördern. In der sechsten Begründungserwägung heißt es, dass die Konzeption dieses Zieles voraussetzt, dass die Steuer auf die Ansammlung von Kapital innerhalb des Gemeinsamen Marktes auf Kapital, das im Rahmen einer Gesellschaft angesammelt worden ist, nur einmal erhoben werden kann und in allen Mitgliedstaaten gleich hoch sein muss.

3.     Nach Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie werden „[d]ie der Gesellschaftsteuer unterliegenden Vorgänge … ausschließlich in dem Mitgliedstaat besteuert, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung der Kapitalgesellschaft in dem Zeitpunkt befindet, in dem diese Vorgänge erfolgen“.

4.     Die steuerbaren Vorgänge werden in Artikel 4 der Richtlinie aufgeführt. Der einschlägige Teil von Artikel 4 Absatz 1 bestimmt:

„Der Gesellschaftsteuer unterliegen die nachstehenden Vorgänge:

c)      die Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art;

…“

5.     Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt, soweit hier einschlägig:

„Soweit sie am 1. Juli 1984 der Steuer zum Satz von 1 v. H. unterlagen, können die folgenden Vorgänge auch weiterhin der Gesellschaftssteuer unterworfen werden:

b)      die Erhöhung des Gesellschaftsvermögens einer Kapitalgesellschaft durch Leistungen eines Gesellschafters, die keine Erhöhung des Kapitals mit sich bringen, sondern ihren Gegenwert in einer Änderung der Gesellschaftsrechte finden oder geeignet sind, den Wert der Gesellschaftsanteile zu erhöhen;

…“

6.     Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 69/335 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können entweder alle anderen als die in Absatz 1 bezeichneten Vorgänge von der Gesellschaftssteuer befreien oder darauf die Steuer mit einem einheitlichen Satz von höchstens 1 v. H. erheben.“

B –    Einschlägiges nationales Recht

7.     In den Niederlanden wird die Gesellschaftsteuer auf der Grundlage der Wet op belastingen van rechtsverkeer (Gesetz über die Besteuerung von Rechtsgeschäften, im Folgenden: WBR)(4) erhoben. Gemäß Artikel 32 Absatz 1 WBR wird Gesellschaftsteuer auf den Erwerb von Kapitalanteilen an in den Niederlanden ansässigen Unternehmen erhoben.

8.     Nach Artikel 34 Buchstabe c WBR umfasst der Erwerb von Kapitalanteilen „die Ansammlung von Kapital gegen Ausgabe von Genussscheinen, Gründeranteilen und dergleichen, die einen Anspruch auf einen Anteil am Gewinn oder Veräußerungserlös verleihen“.

9.     Artikel 63 der Algemene wet inzake rijksbelastingen (Allgemeines Gesetz über die Reichssteuern, im Folgenden: AWR) enthält eine allgemeine Härtefallregelung, auf deren Grundlage der Finanzminister oder -staatssekretär in bestimmten Fällen oder Kategorien von Fällen eine Befreiung gewähren kann, falls die Anwendung der Steuervorschriften zu einer unbilligen Härte führen würde.

10.   Aus dem Vorlagebeschluss und den schriftlichen Erklärungen der niederländischen Regierung ergibt sich, dass die Steuerbehörden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zum maßgeblichen Zeitpunkt auf formlose Kapitaleinlagen innerhalb vertikaler Konzerne einer auf der Härtefallregelung beruhenden allgemeinen Praxis folgten. Wenn eine Muttergesellschaft eine Kapitaleinlage unmittelbar bei ihrer Enkelgesellschaft vornahm, so wurde die Gesellschaftsteuer nur bei der Enkelgesellschaft erhoben. Diese Praxis kam jedoch nur dann zur Anwendung, wenn die Tochter- und die Enkelgesellschaft ihren Sitz in den Niederlanden hatten. In dem Vorlagebeschluss wird ausgeführt, dass bei der Tochtergesellschaft Gesellschaftsteuer erhoben wurde, wenn sie, nicht aber die Enkelgesellschaft, in den Niederlanden ansässig war. Dem vorlegenden Gericht zufolge wurde kein Unterschied zwischen Sachverhalten gemacht, in denen der Sitzstaat der Enkelgesellschaft Gesellschaftsteuer auf die unmittelbare informelle Kapitaleinlage bei der Enkelgesellschaft erhoben hatte, und solchen, in denen dies nicht geschehen war. Die niederländische Regierung trägt in ihren schriftlichen Erklärungen vor, dass bezüglich Kapitaleinlagen bei außerhalb der Niederlande ansässigen Enkelgesellschaften keine allgemeine Praxis bestanden habe; es sei in jedem Einzelfall entschieden worden, ob die Erhebung der Gesellschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft eine unbillige Härte darstellen würde. Die Erhebung der Gesellschaftsteuer bei Tochtergesellschaften in den Niederlanden sei aber nicht als unbillige Härte angesehen worden, wenn die Enkelgesellschaft in einem Staat ansässig gewesen sei, der keine Gesellschaftsteuer erhoben habe.

II – Sachverhalt und Vorlagefragen

11.   Die Senior Engineering Investments BV (im Folgenden: SEI) ist eine Aktiengesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz in den Niederlanden. Ihre Anteile werden sämtlich von der Senior Engineering Investments Ltd (im Folgenden: Muttergesellschaft) gehalten, die im Vereinigten Königreich ansässig ist. SEI hält alle Anteile an der Senior Engineering Trading Gesellschaft für Autolieferteile mbH (im Folgenden: Enkelgesellschaft), die ihren Sitz in Deutschland hat.

12.   Am 8. Dezember 1997 erbrachte die Muttergesellschaft eine Kapitaleinlage von 10 071 000 DM (entsprechend 11 359 000 NLG) „auf das Agiokonto“ der Enkelgesellschaft. In Deutschland wurde auf die Kapitaleinlage bei der Enkelgesellschaft keine Gesellschaftsteuer erhoben.

13.   Die niederländischen Steuerbehörden erhoben im Zusammenhang mit der fraglichen Einlage Gesellschaftsteuer in Höhe von 113 490 NLG bei SEI. SEI legte bezüglich dieses Betrages Einspruch beim Inspecteur der Belastingen ein und beantragte die Rückerstattung. Dieser Antrag wurde durch Entscheidung des Inspecteurs zurückgewiesen. SEI erhob Klage beim Gerechtshof ’s-Gravenhage (Appellationshof Den Haag). In seinem Urteil vom 18. Januar 2001 bestätigte der Gerechtshof die Entscheidung des Inspecteurs. Daraufhin legte SEI Rechtsmittel gegen dieses Urteil beim Hoge Raad der Nederlanden ein.

14.   Mit Beschluss vom 21. November 2003 hat der Hoge Raad dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt. Aus dem Beschluss geht hervor, dass der Hoge Raad nach den Auswirkungen des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache ESTAG auf den vorliegenden Fall fragt. In jenem Fall, der Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie betraf, wurde Gesellschaftsteuer bei einer Gesellschaft auf die Beiträge erhoben, die an ihre Tochtergesellschaften geleistet worden waren, da sich aus den Umständen des Falles eindeutig ergab, dass die Gesellschaft der eigentliche Empfänger dieser Beiträge war(5).

15.   Im Übrigen bezweifelt der Hoge Raad, ob die von den Steuerbehörden verfolgte Praxis, die Tochtergesellschaft von der Gesellschaftsteuer zu befreien, falls sowohl diese Gesellschaft als auch die Enkelgesellschaft ihren Sitz in den Niederlanden haben, als eine von Artikel 43 EG verbotene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit angesehen werden müsse. Vor allem weil Deutschland keine Gesellschaftsteuer bei der Enkelgesellschaft erhoben habe, hat der Hoge Raad Zweifel, ob in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Gesamtbelastung des Konzerns mit Gesellschaftsteuern nicht höher sei, als wenn sowohl die Tochter- als auch die Enkelgesellschaft in den Niederlanden ansässig wären, ein Hindernis für die Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat vorliege.

16.   Der Hoge Raad hat den Gerichtshof daher um Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:

1.      Ist es nach Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335/EWG vom 17. Juli 1969 in der Fassung der Richtlinie 85/303/EWG vom 10. Juni 1985 zulässig, bei einer Gesellschaft auf eine unmittelbare formlose Kapitaleinlage der Muttergesellschaft dieser Gesellschaft bei einer Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft Gesellschaftsteuer zu erheben, und, wenn ja, welche Umstände sind dabei relevant; ist insbesondere relevant, ob diese Gesellschaft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise als der eigentliche Empfänger dieser unmittelbaren formlosen Kapitaleinlage anzusehen ist?

2.      Verbietet die in Artikel 52 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 43 EG) in Verbindung mit Artikel 58 EG-Vertrag (jetzt Artikel 48 EG) verankerte Niederlassungsfreiheit, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats die Politik verfolgt, bei einer Gesellschaft auf eine unmittelbare formlose Kapitaleinlage der Muttergesellschaft dieser Gesellschaft bei der Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft keine Gesellschaftsteuer zu erheben, wenn die Tochtergesellschaft in diesem Mitgliedstaat ansässig ist, und ist – vorausgesetzt, dass in einem Fall wie dem vorliegenden die Erhebung von Gesellschaftsteuer nach der Richtlinie sowohl bei dieser Gesellschaft als auch bei ihrer Tochtergesellschaft zulässig ist – dabei relevant, ob auf Konzernebene eine höhere Gesellschaftsteuer erhoben wurde, als es der Fall gewesen wäre, wenn sowohl diese Gesellschaft als auch deren Tochtergesellschaft in den Niederlanden ansässig gewesen wären?

17.   Die niederländische Regierung, SEI und die Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht und in der Sitzung vom 26. Mai 2005 mündliche Ausführungen gemacht.

III – Würdigung

18.   Mit seiner ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht um eine Auslegung von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 69/335.

19.   Die niederländische Regierung trägt in ihren schriftlichen Erklärungen vor, die Muttergesellschaft habe durch die Kapitalerhöhung bei der Enkelgesellschaft das Gesellschaftsvermögen der SEI und dadurch den Wert der Anteile der SEI erhöht. Die Werterhöhung der Anteile der SEI unterfalle daher nach Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Gesellschaftsteuer. Gesellschaftsteuer könne folglich sowohl bei der Enkelgesellschaft als auch bei SEI erhoben werden. Dies entspreche der wirtschaftlichen Realität, da beide Gesellschaften ihr wirtschaftliches Potenzial erhöht hätten.

20.   SEI und die Kommission machen geltend, die niederländische Ansicht beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung der Richtlinie. Auf denselben Vorgang könne nicht zweimal Gesellschaftsteuer erhoben werden. Insoweit trägt SEI vor, der niederländische Standpunkt impliziere, dass, wenn es eine Reihe weiterer Untergesellschaften gegeben hätte, bei jeder dieser Gesellschaften Gesellschaftsteuer angefallen wäre.

21.   Mir scheint, dass die Niederlande die Einlage bei der Enkelgesellschaft tatsächlich nicht als einen, sondern als zwei Vorgänge begreifen. Diese Auffassung resultiert jedoch aus der Verwirrung darüber, was der Vorgang ist, und was als bloße Auswirkung dieses Vorgangs anzusehen ist. Die wirtschaftliche Auswirkung der Einlage bei der Enkelgesellschaft auf SEI ist offensichtlich nicht selbst ein Vorgang.

22.   Auch die Ansicht, dass ein Vorgang gleichzeitig steuerbare Ereignisse in verschiedenen Mitgliedstaaten darstellen kann, ist meiner Meinung nach ebenfalls zurückzuweisen. Die Richtlinie, die den freien Kapitalverkehr erleichtern soll, geht von dem Grundsatz aus, dass Gesellschaftsteuer nur einmal erhoben werden sollte(6). Zu diesem Zweck definiert die Richtlinie die steuerbaren Vorgänge in Artikel 4 und bestimmt in Artikel 2 den Mitgliedstaat, in dem dieser Vorgang besteuert wird. Artikel 2 sieht ausdrücklich vor, dass der Vorgang „ausschließlich“ in einem Mitgliedstaat besteuert wird. Die Systematik und der Zweck der Richtlinie bestätigen also, dass ein Vorgang, der unter Artikel 4 fällt und folglich einen Anspruch auf Gesellschaftsteuer in einem Mitgliedstaat begründet, nicht gleichzeitig zu einem Anspruch auf Gesellschaftsteuer in einem anderen Mitgliedstaat führen kann.

23.   Die Tatsache, dass die deutschen Steuerbehörden keine Gesellschaftsteuer auf den fraglichen Vorgang erhoben haben, hat keine Auswirkung auf die Frage, ob Gesellschaftsteuer bei SEI erhoben werden darf. Deutschland hat von der in Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, keine seiner Steuerhoheit unterstehende Gesellschaftsteuer zu erheben. Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit genutzt hat, um Vorgänge von der Gesellschaftsteuer auszunehmen, spielt keine Rolle für die Frage, in welchem Mitgliedstaat der Vorgang ein steuerbares Ereignis nach Artikel 2 der Richtlinie darstellt.

24.   Da ein einzelner Vorgang kein steuerbares Ereignis in mehreren Mitgliedstaaten sein kann, lautet die verbleibende Frage im Wesentlichen, ob der hier in Rede stehende Vorgang nach der Richtlinie als ein in Deutschland oder in den Niederlanden steuerbares Ereignis einzuordnen ist.

25.   Die Niederlande – und nicht Deutschland – wären wohl befugt, Gesellschaftsteuer zu erheben, wenn die Einlage bei der Enkelgesellschaft tatsächlich als Leistung eines Gesellschafters an SEI zu werten ist(7). In diesem Fall fiele der Vorgang unter Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie, und SEI, nicht die Enkelgesellschaft, wäre als der wahre Leistungsempfänger anzusehen. Die Kommission wendet sich gegen eine solche Auslegung. Sie macht geltend, die Einlage habe das Kapital der Enkelgesellschaft erhöht und falle daher unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c. Sobald ein Vorgang von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c erfasst werde, sei unerheblich, ob er unter Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b fallen könnte. Die Kommission betrachtet Artikel 4 Absatz 2 also als subsidiär zu Artikel 4 Absatz 1.

26.   Ich teile die Auslegung der Kommission nicht. Zwar würde sie zugegebenermaßen eine Lösung für das Problem des Hoge Raad liefern, die dem Erfordernis genügt, dass bezüglich desselben Vorgangs nicht zweimal Gesellschaftsteuer in verschiedenen Mitgliedstaaten erhoben werden kann. Aber obwohl Artikel 4 Absätze 1 und 2 nicht gleichzeitig gelten können, bin ich nicht vollständig davon überzeugt, dass es eine klare Hierarchie zwischen beiden gibt(8).

27.   Im Laufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof sind außerdem Zweifel daran geäußert worden, ob die fragliche Einlage tatsächlich zu einer Kapitalerhöhung bei der Enkelgesellschaft im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie geführt hat, wie die Kommission und das vorlegende Gericht annehmen. Die niederländische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c nur dann gelte, wenn Aktien ausgegeben würden(9). Im vorliegenden Fall seien keine neuen Aktien ausgegeben worden(10). Daher glaubt die niederländische Regierung, dass die Einlage nicht zu einer Kapitalerhöhung bei der Enkelgesellschaft, sondern zu einer Erhöhung ihres Gesellschaftsvermögens im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b geführt habe.

28.   Meiner Ansicht nach hat das Ergebnis der Diskussion, ob der Vorgang bei der Enkelgesellschaft zu einer Kapitalerhöhung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c oder zu einer Erhöhung des Gesellschaftsvermögens im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b führte, keine Auswirkung auf die dem Hoge Raad zu erteilende Antwort.

29.   Der Hoge Raad stellt seine erste Frage hauptsächlich unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache ESTAG. Der Gedanke, dass Gesellschaftsteuer bei SEI erhoben werden könnte, müsste auf dem Argument beruhen, dass der vorliegende Fall und die Rechtssache ESTAG vergleichbar sind, so dass SEI anstatt der Enkelgesellschaft als der wirkliche Empfänger angesehen werden müsste. Dieses Argument ist jedoch zurückzuweisen.

30.   Im Allgemeinen ist die Gesellschaftsteuer bei der Gesellschaft zu erheben, die der unmittelbare Empfänger der Einlage ist – in diesem Fall die Enkelgesellschaft. Ausnahmsweise, wenn sich aus den Umständen des Falles eindeutig ergibt, dass der eigentliche Empfänger eine andere Gesellschaft ist, kann Gesellschaftsteuer bei dieser erhoben werden(11). In diesem Fall muss aber festgestellt werden, dass die Einlage als Gegenleistung erfolgt – sei es im Austausch für einen Anteil(12), für Genussscheine(13) oder für andere Rechte an einer Kapitalgesellschaft. Nur wenn die Einlage als Gegenleistung erfolgt, ist es möglich festzustellen, dass der unmittelbare Empfänger nicht der eigentliche Empfänger ist. Die Umstände müssten zeigen, dass die Einlage bei einer Kapitalgesellschaft (dem unmittelbaren Empfänger) erforderlich war, um Rechte an einer anderen Kapitalgesellschaft (dem eigentlichen Empfänger) zu erwerben. Wenn die Einlage nicht für eine Gegenleistung erfolgt, so kann die Bestimmung des eigentlichen Empfängers ihren Zweck nicht erfüllen, und es sollte die Grundregel zur Anwendung kommen.

31.   Folglich könnte SEI nur dann als der eigentliche Empfänger bestimmt werden, wenn die Einlage bei der Enkelgesellschaft als Gegenleistung für Rechte an SEI erfolgte. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Einlage auf der Ebene der Enkelgesellschaft als Kapitalerhöhung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c oder als eine Erhöhung des Gesellschaftsvermögens im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie darstellte.

32.   Obwohl die Einlage der Muttergesellschaft bei der Enkelgesellschaft das Gesellschaftsvermögen der SEI erhöht hat, erfolgte sie nicht im Wege der Gegenleistung für Rechte an SEI. Folglich ist die Enkelgesellschaft für die Zwecke der Erhebung von Gesellschaftsteuer in Übereinstimmung mit der Grundregel als Empfänger der Einlage anzusehen.

33.   Aus diesen Gründen muss die Schlussfolgerung lauten, dass der Vorgang ein nur in Deutschland steuerbares Ereignis darstellt. Da die Niederlande nicht befugt sind, Gesellschaftsteuer bei der Tochtergesellschaft zu erheben, entfällt die Notwendigkeit, die zweite Frage zu beantworten.

IV – Ergebnis

34.   Ich bin daher der Ansicht, dass der Gerichtshof wie folgt entscheiden sollte:

Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 in der Fassung der Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 lässt es nicht zu, Gesellschaftsteuer bei einer Gesellschaft auf eine unmittelbare Einlage wie der im Ausgangsverfahren zu erheben, die von der Muttergesellschaft dieser Gesellschaft bei einer Tochtergesellschaft dieser Gesellschaft mit effektivem Verwaltungssitz in einem anderen Mitgliedstaat geleistet wird.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – ABl. L 249, S. 25, zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33).


3 – Rechtssache C-339/99, Slg. 2002, I-8837.


4 – Stb. 1970, 611, in der Fassung des Gesetzes vom 13. Dezember 1996, Stb. 1996, 652.


5 – Urteil ESTAG, oben zitiert in Fußnote 3, Randnrn. 45 bis 47.


6 – Sechste Begründungserwägung der Richtlinie 69/335.


7 – Hierzu hat die niederländische Regierung auf die Rechtssache C-49/91 (Weber Haus, Slg. 1992, I-5207, Randnr. 11) verwiesen.


8 – Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 69/335 betrifft eine Kategorie von Vorgängen, die der Gesellschaftsteuer unterworfen werden müssen, während Artikel 4 Absatz 2 eine Kategorie von Vorgängen betrifft, die der Gesellschaftsteuer unterworfen werden können. Daher ist offensichtlich, dass die beiden Absätze sich gegenseitig ausschließen. Abgesehen von ihrer Reihenfolge jedoch gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, ob eher der eine oder der andere anzuwenden ist.


9 – Vgl. in gleichem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache C-46/04, Aro Tubi Trafilerie, beim Gerichtshof anhängig. In Nr. 27 heißt es, dass eine Kapitalerhöhung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 69/335 normalerweise voraussetzt, dass entweder neue Aktien ausgegeben werden oder der Nennwert der bereits ausgegebenen Aktien erhöht wird.


10 – Beim Gerichtshof wurden keine Einzelheiten der vertraglichen Gestaltung des streitigen Vorgangs eingereicht, aber der Hoge Raad beschreibt ihn als eine „formlose Kapitaleinlage“ auf das Agiokonto der Enkelgesellschaft. Nach dieser Beschreibung scheint es so gewesen zu sein, dass die Einlage aus einer Hinterlegung von Aktien bestand, die bereits vollständig geleistet worden war. Mit anderen Worten wurde die Einlage nach dem Erwerb des Anteils und à fonds perdu geleistet.


11 – Urteil ESTAG, oben zitiert in Fußnote 3, Randnr. 47.


12 – Wie im Urteil ESTAG.


13 – Vgl. Urteile in der Rechtssache C-71/00 (Develop, Slg. 2002, I-8877) und in der Rechtssache C-138/00 (Solida und Tech, Slg. 2002, I-8905).