Rechtssache C-512/03
J. E. J. Blanckaert
gegen
Inspecteur van de Belastingdienst/Particulieren/Ondernemingen buitenland te Heerlen
(Vorabentscheidungsersuchen des Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch)
„Direkte Besteuerung – Steuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen – Steuerabkommen – Steuerermäßigungen, die den im nationalen Sozialversicherungssystem Versicherten vorbehalten sind“
Schlussanträge der Generalanwältin C. Stix-Hackl vom 12. Mai 2005
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 8. September 2005
Leitsätze des Urteils
Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen – Steuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen – Nationale Regelung, nach der nur gebietsansässige Steuerpflichtige, die im nationalen Sozialversicherungssystem versichert sind, in den Genuss von Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen kommen – Zulässigkeit
(Artikel 56 EG und 58 EG)
Die Artikel 56 EG und 58 EG sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der ein gebietsfremder Steuerpflichtiger, der in diesem Staat ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen bezieht und der nicht im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats versichert ist, keinen Anspruch auf Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen hat, während ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der in dem genannten Sozialversicherungssystem versichert ist, bei der Berechnung seines zu versteuernden Einkommens in den Genuss solcher Ermäßigungen kommt, auch wenn er ausschließlich Einkünfte derselben Art bezieht und keine Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
Denn eine derartige Regelung behindert zwar den freien Kapitalverkehr, da die für Gebietsfremde geltende steuerliche Benachteiligung diese davon abhalten könnte, Investitionen in diesem Mitgliedstaat vorzunehmen, die zu Einkünften aus Kapitalvermögen führen, sie kann aber nach Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe a EG mit der objektiv unterschiedlichen Situation eines in der nationalen Sozialversicherung Versicherten und der einer Person, die dort nicht versichert ist, gerechtfertigt werden.
Da das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, ist es in Ermanglung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene zudem Sache des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats, den Kreis der Versicherten sowie die Höhe der von den im nationalen Sozialversicherungssystem Versicherten zu zahlenden Beiträge und die entsprechenden Ermäßigungen festzulegen. Außerdem entspricht es der inneren Logik eines solchen Systems, dass Beitragsermäßigungen allein den zur Beitragszahlung Verpflichteten, d. h. den in diesem System Versicherten, zugute kommen.
(vgl. Randnrn. 39, 49-51 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
8. September 2005 (*)
„Direkte Besteuerung – Steuer auf Einkünfte aus Kapitalvermögen – Steuerabkommen – Steuerermäßigungen, die den im nationalen Sozialversicherungssystem Versicherten vorbehalten sind“
In der Rechtssache C-512/03
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Gerechtshof ’s-Hertogenbosch (Niederlande) mit Entscheidung vom 4. Dezember 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Dezember 2003, in dem Verfahren
J. E. J. Blanckaert
gegen
Inspecteur van de Belastingdienst/Particulieren/Ondernemingen buitenland te Heerlen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer K. Lenaerts (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richterin N. Colneric sowie der Richter K. Schiemann, E. Juhász und M. Ilešič,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2005,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Blanckaert, vertreten durch P. J. M. de Graaf, adviseur,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und C. ten Dam als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch A. Tiemann und W.-D. Plessing als Bevollmächtigte,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und A. Weimar als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Mai 2005
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Frage, ob das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die allein den im nationalen Sozialversicherungssystem Versicherten die Möglichkeit vorbehält, Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen in Anspruch zu nehmen, wenn die im Rahmen des genannten Systems gewährten Beitragsermäßigungen nicht vollständig mit den geschuldeten Sozialversicherungsbeiträgen verrechnet werden konnten.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Blanckaert und dem Inspecteur van de Belastingdienst/Particulieren/Ondernemingen buitenland te Heerlen über dessen Weigerung, Herrn Blanckaert Steuernachlässe für Sozialversicherungen zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Artikel 56 Absatz 1 EG lautet:
„Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.“
4 Artikel 58 Absatz 1 EG sieht vor:
„Artikel 56 berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,
a) die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln,
b) die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften, insbesondere auf dem Gebiet des Steuerrechts … zu verhindern …“
5 Artikel 58 Absatz 3 EG bestimmt:
„Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen und Verfahren dürfen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 56 darstellen.“
6 Nach Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) unterliegen Arbeitnehmer und Selbständige den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats.
7 Nach Artikel 13 Absatz 2 Buchstaben a und b dieser Verordnung unterliegt derjenige, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats als Arbeitnehmer oder Selbständiger tätig ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.
Nationales Recht
Sozialversicherungsregelung
8 Im Ausgangsverfahren stehen die Sozialversicherungen in Rede, die im Gesetz über die allgemeine Altersversicherung (Algemene Ouderdomswet), im Gesetz über die allgemeine Hinterbliebenenversicherung (Algemene Nabestaandenwet) und im Gesetz über die allgemeine Versicherung für besondere Krankheitskosten (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten) geregelt sind. Entsprechend den Bestimmungen dieser drei Sozialversicherungsgesetze haben den Versichertenstatus die in den Niederlanden Gebietsansässigen sowie Gebietsfremde, die aufgrund von in diesem Mitgliedstaat geleisteter nichtselbständiger Arbeit der Einkommensteuer unterliegen.
9 Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung zur Erweiterung und Beschränkung des Kreises der Sozialversicherungspflichtigen (Besluit uitbreiding en beperking kring verzekerden volksverzekeringen) vom 24. Dezember 1998 sieht dagegen vor, dass die in den Niederlanden Gebietsansässigen, die ihre Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, in diesem letztgenannten Staat sozialversichert sind.
10 Nach Artikel 6 des Gesetzes über die Finanzierung der Sozialversicherungen (Wet financiering volksverzekeringen, im Folgenden: WFV) haben die Versicherten Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen.
11 Artikel 8 WFV bestimmt, dass diese Beiträge nach Maßgabe der zu versteuernden Einkünfte des Versicherten aus Arbeit und Wohnung festgesetzt werden. Die geschuldeten Beiträge entsprechen einem Prozentsatz dieser Einkünfte. Von dem so bestimmten Betrag werden allerdings nach Artikel 10 des genannten Gesetzes Beitragsgutschriften für die verschiedenen in Randnummer 8 Satz 1 dieses Urteils aufgeführten Sozialversicherungen abgezogen (im Folgenden: Sozialversicherungsbeitragsgutschriften).
Steuerregelung
12 Nach Artikel 2.1 Absatz 1 des Gesetzes über die Einkommensteuer 2001 (Wet op de inkomstenbelasting 2001, im Folgenden: WIB) unterliegen der Einkommensteuer natürliche Personen mit Wohnsitz in den Niederlanden (gebietsansässige Steuerpflichtige) und natürliche Personen, die nicht in diesem Mitgliedstaat wohnen, aber dort Einkünfte beziehen (gebietsfremde Steuerpflichtige).
13 Artikel 2.3 WIB sieht vor, dass die Einkommensteuer auf folgende Einkünfte erhoben wird, soweit der Steuerpflichtige sie innerhalb des Kalenderjahres erzielt hat:
a) steuerpflichtige Einkünfte aus Arbeit und Wohnung;
b) steuerpflichtige Einkünfte aus einer wesentlichen Beteiligung und
c) steuerpflichtige Einkünfte aus Kapitalvermögen.
14 Nach Artikel 5.2 WIB sind Einkünfte aus Kapitalvermögen pauschal mit 4 % des aus dem Wert des Kapitals unter Abzug der bestehenden Verbindlichkeiten zu Beginn und zu Ende des Kalenderjahres gebildeten durchschnittlichen Wertes anzusetzen, soweit dieser durchschnittliche Wert das steuerfreie Vermögen übersteigt. Das steuerfreie Vermögen betrug zum maßgebenden Zeitpunkt 17 600 Euro und soll Kleinsparer von der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen ausnehmen.
15 Die Einkommensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge werden von den niederländischen Finanzbehörden eingezogen.
16 Gebietsansässige Steuerpflichtige genießen den Vorteil des steuerfreien Vermögens und verschiedener Steuergutschriften bei der Einkommensteuer. Sind sie dem niederländischen Sozialversicherungssystem angeschlossen, haben sie zudem Anspruch auf Sozialversicherungsbeitragsgutschriften.
17 Artikel 2.7 Absatz 2 WIB bestimmt, dass der Betrag der Einkommensteuer, wenn der Steuerpflichtige sozialversicherungsbeitragspflichtig ist und die Beitragsgutschriften nicht vollständig mit den geschuldeten Beiträgen verrechnet werden können, um den nicht verrechneten Teil vermindert wird. Die Sozialversicherungsbeitragsgutschriften können so zu Steuergutschriften werden.
18 Gebietsfremden Steuerpflichtigen steht weder ein Recht auf ein steuerfreies Vermögen noch auf die Steuergutschriften bei der Einkommensteuer zu. Die Sozialversicherungsbeitragsgutschriften kommen ihnen nur dann zugute, wenn sie im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert sind.
19 Gebietsfremde Steuerpflichtige, die in den Niederlanden ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehen, sind nicht im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert und können im Gegensatz zu gebietsansässigen Steuerpflichtigen mit derartigen Einkünften keine Steuergutschriften für Sozialversicherungen in Anspruch nehmen.
20 Nach Artikel 2.5 WIB 2001 können gebietsfremde Steuerpflichtige die Gleichstellung mit inländischen Steuerpflichtigen wählen. Die Ausübung dieser Option führt dazu, dass die entsprechenden Steuerpflichtigen zum einen in den Genuss des steuerfreien Vermögens und der Steuergutschriften bei der Einkommensteuer kommen, ohne jedoch Steuergutschriften für Sozialversicherungen beanspruchen zu können, soweit sie in den Niederlanden ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehen, und dass sie zum anderen mit ihrem Welteinkommen in den Niederlanden steuerpflichtig sind.
Das Doppelbesteuerungsabkommen
21 Artikel 25 § 3 des am 19. Oktober 1970 zwischen der Regierung des Königreichs Belgien und der Regierung des Königreichs der Niederlande geschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (Tractatenblad 1970, S. 192) sieht allgemein vor: „Natürlichen Personen mit Wohnsitz in einem der beiden Staaten stehen im anderen Staat die persönlichen Abzüge, Freibeträge und Minderungen zu, die dieser Staat seinen eigenen Einwohnern wegen ihrer persönlichen Lage oder familiärer Belastungen gewährt.“
22 Der Erlass des Staatssekretärs für Finanzen vom 21. Februar 2002 bestimmt, dass das steuerfreie Vermögen und die Steuergutschriften bei der Einkommensteuer bei der Berechnung der Steuer berücksichtigt werden, die für Kapitaleinkünfte von in Belgien wohnenden gebietsfremden Steuerpflichtigen zu zahlen ist. Dagegen wird diesen Steuerpflichtigen keine Steuergutschrift für Sozialversicherungen gewährt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
23 Herr Blanckaert ist ein belgischer Staatsangehöriger, der in Belgien wohnt. Zusammen mit seiner Ehefrau ist er Eigentümer einer Ferienwohnung in den Niederlanden. Aus dieser bezieht er Einkünfte aus Kapitalvermögen im Sinne von Artikel 2.3 WIB.
24 Herr Blanckaert erzielt weniger als 90 % seiner Einkünfte in den Niederlanden. Seine einzigen zu versteuernden Einkünfte sind die, die er aus der Ferienwohnung bezieht. Von der Option, einem gebietsansässigen Steuerpflichtigen nach Artikel 2.5 WIB gleichgestellt zu werden, hat er keinen Gebrauch gemacht.
25 Er ist nicht im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert und damit in den Niederlanden nicht sozialversicherungsbeitragspflichtig.
26 Für das Jahr 2001 wurde Herr Blanckaert aufgrund seiner zu versteuernden Einkünfte aus Kapitalvermögen durch die niederländischen Finanzbehörden zur Einkommensteuer veranlagt. In Anwendung der Bestimmungen des Doppelbesteuerungsabkommens vom 19. Oktober 1970 wurden bei der Erstellung des Steuerbescheids das steuerfreie Vermögen und die Gutschriften bei der Einkommensteuer berücksichtigt. Dagegen wurde ihm keine Steuergutschrift für Sozialversicherungsbeiträge gewährt.
27 Herr Blanckaert legte bei dem Beklagten des Ausgangsverfahrens Einspruch gegen den Steuerbescheid für das Jahr 2001 ein. Gegen die diesen Einspruch zurückweisende Entscheidung erhob er Klage beim Gerechtshof ’s-Hertogenbosch.
28 Der Gerechtshof ’s-Hertogenbosch hat in der Erwägung, dass dem EG-Vertrag und der Rechtsprechung des Gerichtshofes keine klare Antwort auf die Fragen zu entnehmen sei, die der bei ihm anhängige Rechtsstreit aufwerfe, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Hat ein ausländischer steuerpflichtiger Einwohner eines Mitgliedstaats, der in den Niederlanden keine Einkünfte aus Arbeit, sondern nur Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt und daher bei der niederländischen Sozialversicherung nicht beitragspflichtig ist und keine Beiträge an sie abführt, bei der Berechnung seiner zu versteuernden Einkünfte aus Kapitalvermögen nach dem EG-Recht in den Niederlanden einen Anspruch auf Zuerkennung der Steuergutschriften für die Sozialversicherungen (die allgemeine Altersversicherung, die Hinterbliebenenversicherung und die allgemeine Versicherung für besondere Krankheitskosten), wenn ein inländischer Steuerpflichtiger bei der Berechnung seiner zu versteuernden Einkünfte aus Kapitalvermögen einen Anspruch auf diese Steuergutschriften hat, weil er als Versicherter und Beitragspflichtiger der niederländischen Sozialversicherungen betrachtet wird, selbst wenn auch er in den Niederlanden keine Einkünfte aus Arbeit, sondern nur Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt und deshalb keine Beiträge an die niederländischen Sozialversicherungen abführt?
2. Ist es für die Beantwortung der ersten Frage von Bedeutung, ob der ausländische Steuerpflichtige mehr oder weniger als 90 % seiner Familieneinkünfte in den Niederlanden erzielt? Insbesondere:
a) Ist der Schumacker-Test [Urteil vom 14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225] für Gebietsansässige und Gebietsfremde nur bei subjektiven oder personengebundenen Steuergesichtspunkten wie dem Recht auf Abzug von personen- oder familiengebundenen Kosten anwendbar oder auch bei objektiven oder nicht personengebundenen Steuergesichtspunkten wie dem Steuersatz?
b) Können die Mitgliedstaaten bei der Entscheidung, ob sie Gebietsfremde wie Gebietsansässige behandeln, eine quantitative Regel (wie die 90 %-Regel) anwenden, obwohl dies nicht gewährleistet, dass jede Diskriminierung beseitigt wird?
3. Ist die Optionsregelung nach Artikel 2.5 WIB ein wirksames Verfahrensinstrument, das garantiert, dass der Kläger von seinen durch den EG-Vertrag verbürgten Rechten Gebrauch machen kann, und das jede Form der Diskriminierung ausschließt?
Wenn ja, ist dies auch für den Fall, dass der Kläger nur Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt, ein ausreichendes Instrument, obgleich der Kläger die Optionsregelung nicht nutzen kann?
Zu den Vorlagefragen
29 In den vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen wird keine spezielle Vorschrift des Gemeinschaftsrechts genannt. Sie beziehen sich auf das „EG-Recht“ im Allgemeinen sowie auf die „durch den EG-Vertrag verbürgten Rechte“.
30 Aus dem Wortlaut dieser Fragen in Verbindung mit den Gründen der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass die Fragen die Auslegung der Artikel 56 EG und 58 EG betreffen. In den genannten Gründen verweist das vorlegende Gericht nämlich darauf, dass diese Vorschriften „alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen Mitgliedstaaten [verbieten], was ein Verbot von diskriminierenden Beschränkungen einschließt“. Das Gericht betont, dass die von dem Kläger des Ausgangsverfahrens vorgenommene Immobilieninvestition vom Anwendungsbereich dieser Vorschriften erfasst wird.
Zur ersten Frage
31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Artikel 56 EG und 58 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, wonach eine Person mit Wohnsitz in Belgien, die nicht im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert ist und deren in den Niederlanden zu versteuernde Einkünfte ausschließlich aus Kapitalvermögen stammen, keinen Anspruch auf Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen hat, während eine in diesem letztgenannten Mitgliedstaat wohnende Person, die in dem entsprechenden System versichert ist und Einkünfte derselben Art bezieht, in den Genuss solcher Ermäßigungen kommt, auch wenn sie – mangels Einkünften aus Arbeit oder Wohnung – keine Beiträge zur Sozialversicherung zahlt.
32 Herr Blanckaert trägt vor, die fragliche Regelung bewirke eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden. Denn die Lage eines in den Niederlanden Gebietsansässigen, der ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehe und keine Sozialversicherungsbeiträge zahle, sei vergleichbar mit der eines Gebietsfremden, der in den Niederlanden ebenfalls ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehe und ebenfalls keine Beiträge im Rahmen des niederländischen Sozialversicherungssystems zahle.
33 Die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Kommission machen geltend, dass der Vorteil für die Gebietsansässigen in den Bereich des Sozialversicherungsrechts falle. Es bestehe ein objektiver Unterschied zwischen der Situation eines gebietsfremden Steuerpflichtigen, dessen Einkünfte ausschließlich aus Kapitalvermögen stammten, wie es bei Herrn Blanckaert der Fall sei, der dem niederländischen Sozialversicherungssystem nicht angeschlossen sei und somit keine entsprechenden Beiträge zu zahlen habe, und der eines gebietsansässigen Steuerpflichtigen mit Einkünften derselben Art, der dem niederländischen Sozialversicherungssystem angeschlossen sei und somit grundsätzlich beitragspflichtig sei. Dieser Unterschied rechtfertige die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Kategorien von Steuerpflichtigen.
34 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Herr Blanckaert, der in Belgien wohnt, eine Immobilieninvestition in den Niederlanden vorgenommen hat. Nach den Artikeln 2.3 und 5.2 WIB fließen ihm daraus fiktive Einkünfte zu, die in den Niederlanden als Einkünfte aus Kapitalvermögen besteuert werden.
35 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Kapitalverkehr im Sinne von Artikel 56 EG Vorgänge, durch die Personen im Gebiet eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben, Investitionen in Immobilien tätigen (vgl. Urteile vom 16. März 1999 in der Rechtssache C-222/97, Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661, Randnr. 21, vom 11. Januar 2001 in der Rechtssache C-464/98, Stefan, Slg. 2001, I-173, Randnr. 5, und vom 5. März 2002 in den Rechtssachen C-515/99, C-519/99 bis C-524/99 und C-526/99 bis C-540/99, Reisch u. a., Slg. 2002, I-2157, Randnr. 30).
36 Somit ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten bewirkt, indem sie sich einschränkend auf Personen auswirkt, die in einem anderen Mitgliedstaat als den Niederlanden wohnen und in den Niederlanden eine Immobilieninvestition vornehmen möchten.
37 Nach Artikel 2.7 Absatz 2 WIB sind die Sozialversicherungsbeitragsermäßigungen, die ggf. die Form von Abzügen von der Steuer annehmen, die für die Einkünfte des betreffenden Jahres – zu denen die Einkünfte aus Immobilieninvestitionen gehören – zu zahlen ist, den Steuerpflichtigen vorbehalten, die im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert sind.
38 Das im niederländischen Recht zugrunde gelegte Kriterium der Versicherteneigenschaft begünstigt in den meisten Fällen die in diesem Mitgliedstaat Ansässigen. Denn bei den Steuerpflichtigen, die nicht in diesem System versichert sind, handelt es sich in der Regel um Gebietsfremde.
39 Die nur für Gebietsfremde geltende steuerliche Benachteiligung könnte diese davon abhalten, Immobilieninvestitionen in den Niederlanden vorzunehmen. Die entsprechenden Vorschriften behindern daher den freien Kapitalverkehr.
40 Allerdings ist zu prüfen, ob eine solche Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nach den Bestimmungen des Vertrages gerechtfertigt werden kann.
41 Dazu ist daran zu erinnern, dass nach Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe a EG „Artikel 56 … nicht das Recht der Mitgliedstaaten [berührt], … die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort … unterschiedlich behandeln“.
42 Es muss jedoch unterschieden werden zwischen unterschiedlichen Behandlungen, die nach Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe a EG erlaubt sind, und willkürlichen Diskriminierungen, die nach Artikel 58 Absatz 3 EG verboten sind. Nach der Rechtsprechung kann eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nur dann als mit den Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr vereinbar angesehen werden, wenn die unterschiedliche Behandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (Urteile vom 6. Juni 2000 in der Rechtssache C-35/98, Verkooijen, Slg. 2000, I-4071, Randnr. 43, und vom 7. September 2004 in der Rechtssache C-319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7477, Randnrn. 28 und 29).
43 Somit stellt sich die Frage, ob in Bezug auf die Gewährung der Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen ein objektiver Unterschied besteht zwischen der Situation eines Gebietsfremden wie Herrn Blanckaert und der eines Gebietsansässigen, der ebenso wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen bezieht.
44 Zunächst ist festzustellen, dass der Steuervorteil, den ein Steuerpflichtiger beanspruchen kann, der in den Niederlanden zu versteuernde Einkünfte bezieht, nur dann als solcher anzusehen ist, wenn die Sozialversicherungsbeitragsermäßigungen nicht vollständig mit den geschuldeten Sozialversicherungsbeiträgen verrechnet werden können.
45 Auch wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften auf steuerlicher Ebene insbesondere Gebietsfremde benachteiligen, so hängt die Gewährung von Sozialversicherungsbeitragsermäßigungen unmittelbar und ausschließlich davon ab, dass der betreffende Steuerpflichtige im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert ist. Denn den in diesem System Versicherten kommen unabhängig davon, ob es sich um Gebietsansässige oder Gebietsfremde handelt, die genannten Ermäßigungen zugute, während sie nicht versicherten Gebietsansässigen und Gebietsfremden nicht zugute kommen.
46 Der Kläger des Ausgangsverfahrens trägt dazu vor, dass einem in den Niederlanden ansässigen Steuerpflichtigen, der ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehe, als im niederländischen Sozialversicherungssystem Versichertem beträchtliche Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen zugute kämen. In Ermangelung von Einkünften aus Arbeit oder Wohnung zahle er nämlich keine Sozialversicherungsbeiträge, so dass die Beitragsermäßigungen nicht mit Sozialversicherungsbeiträgen verrechnet werden könnten. Dagegen sei ein gebietsfremder Steuerpflichtiger, der in den Niederlanden nur Einkünfte aus Kapitalvermögen beziehe, nicht in dem genannten System versichert und zahle in diesem Mitgliedstaat ebenfalls keine Sozialversicherungsbeiträge, habe aber keinen Anspruch auf Steuerermäßigungen für Sozialversicherungsbeiträge.
47 Dem ist entgegenzuhalten, dass die Gewährung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorteils an Personen, die nicht im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert sind, auf eine Gleichbehandlung unterschiedlicher Situationen hinausliefe, da den in diesem System Versicherten nur ausnahmsweise Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen zugute kommen. Denn ein Versicherter kann solche Steuerermäßigungen nur dann beanspruchen, wenn er die Beitragsermäßigungen nicht mit den geschuldeten Beiträgen verrechnen kann. Dagegen käme ein Nichtversicherter wie der Kläger des Ausgangsverfahrens immer und automatisch in den Genuss von Steuerermäßigungen aufgrund der Gewährung von Sozialversicherungsbeitragsermäßigungen. Denn da eine solche Person nicht zur Beitragszahlung verpflichtet ist, könnte sie die genannten Ermäßigungen nie mit geschuldeten Sozialversicherungsbeiträgen verrechnen.
48 Sodann ist festzustellen, dass die nationalen Rechtsvorschriften über die Versicherung im niederländischen Sozialversicherungssystem mit den Bestimmungen des Artikels 13 Absatz 2 Buchstaben a und b der Verordnung Nr. 1408/71 im Einklang stehen. Denn die Gebietsansässigen, die ihre Berufstätigkeit außerhalb der Niederlande ausüben, sind diesem System nicht angeschlossen, während ihm die Gebietsfremden, die in diesem Mitgliedstaat arbeiten, angehören.
49 Da das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt (Urteil vom 13. Mai 2003 in der Rechtssache C-385/99, Müller-Fauré und Van Riet, Slg. 2003, I-4509, Randnr. 100), ist es in Ermanglung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene Sache des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats, den Kreis der Versicherten sowie die Höhe der von den im nationalen Sozialversicherungssystem Versicherten zu zahlenden Beiträge und die entsprechenden Ermäßigungen festzulegen. Außerdem entspricht es der inneren Logik eines solchen Systems, dass Beitragsermäßigungen allein den zur Beitragszahlung Verpflichteten, d. h. den in diesem System Versicherten, zugute kommen.
50 Daraus folgt, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nach Artikel 58 Absatz 1 Buchstabe a EG mit der objektiv unterschiedlichen Situation eines in der niederländischen Sozialversicherung Versicherten und der einer Person, die dort nicht versichert ist, gerechtfertigt werden kann.
51 Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Artikel 56 EG und 58 EG dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der ein gebietsfremder Steuerpflichtiger, der in diesem Staat ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen bezieht und der nicht im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaates versichert ist, keinen Anspruch auf die Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen hat, während ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der in dem genannten Sozialversicherungssystem versichert ist, bei der Berechnung seines zu versteuernden Einkommens in den Genuss solcher Ermäßigungen kommt, auch wenn er ausschließlich Einkünfte derselben Art bezieht und keine Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
Zur zweiten und zur dritten Frage
52 Angesichts der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage des vorlegenden Gerichts nicht mehr zu beantworten.
Kosten
53 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Die Artikel 56 EG und 58 EG sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der ein gebietsfremder Steuerpflichtiger, der in diesem Staat ausschließlich Einkünfte aus Kapitalvermögen bezieht und der nicht im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaates versichert ist, keinen Anspruch auf die Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen hat, während ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der in dem genannten Sozialversicherungssystem versichert ist, bei der Berechnung seines zu versteuernden Einkommens in den Genuss solcher Ermäßigungen kommt, auch wenn er ausschließlich Einkünfte derselben Art bezieht und keine Sozialversicherungsbeiträge zahlt.
Unterschriften.
* Verfahrenssprache: Niederländisch.