Verbundene Rechtssachen C-155/08 und C-157/08
X
und
E. H. A. Passenheim-van Schoot
gegen
Staatssecretaris van Financiën
(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)
„Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapitalverkehr – Vermögensteuer – Einkommensteuer – Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat – Keine Angabe in der Steuererklärung – Nachforderungsfrist – Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats – Richtlinie 77/799/EWG – Gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern – Bankgeheimnis“
Leitsätze des Urteils
1. Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen – Steuerrecht
(Art. 49 EG und 56 EG; Richtlinie 77/799 des Rates)
2. Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen – Steuerrecht
(Art. 49 EG und 56 EG)
1. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, wenn Sparguthaben und daraus bezogene Einkünfte seinen Steuerbehörden verschwiegen werden und diese für deren Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besitzen, nicht verwehren, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden, wenn sich diese Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, als dann, wenn sie sich im erstgenannten Mitgliedstaat befinden. Der Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt, ist insoweit unerheblich.
Zwar bildet eine solche Regelung eine Beschränkung sowohl des freien Dienstleistungsverkehrs als auch des freien Kapitalverkehrs, die grundsätzlich durch die Art. 49 EG und 56 EG verboten wird, da die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist für außerhalb des fraglichen Mitgliedstaats befindliche Guthaben auf in ihm wohnhafte Steuerpflichtige geeignet ist, es für diese weniger attraktiv zu machen, Guthaben in einen anderen Mitgliedstaat zu transferieren, um dort angebotene Finanzdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, als solche Guthaben in dem fraglichen Mitgliedstaat zu besitzen und Finanzdienstleistungen in diesem in Anspruch zunehmen.
Diese Beschränkung kann jedoch durch die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten, und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung gerechtfertigt sein, sofern sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, also geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das dazu Erforderliche hinausgeht.
Insoweit ist festzustellen, dass eine solche Regelung dazu beiträgt, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Auch wenn nämlich die Verlängerung einer Nachforderungsfrist als solche die Ermittlungsbefugnisse der Steuerbehörden eines Mitgliedstaats nicht stärkt, ermöglicht sie es ihnen im Fall der Entdeckung von ihnen unbekannt gebliebenen Steuergegenständen in einem anderen Mitgliedstaat gleichwohl, Ermittlungen einzuleiten und, wenn sich herausstellt, dass eine Besteuerung dieser Steuergegenstände unterblieben oder in zu geringer Höhe vorgenommen worden ist, einen Nachforderungsbescheid zu erlassen. Das Gleiche gilt, wenn die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats über das Bestehen eines Steuergegenstands in einem anderen Mitgliedstaat unterrichtet werden, in dem das Bankgeheimnis gilt. Außerdem kann die Geltung einer längeren Nachforderungsfrist in einem Mitgliedstaat in Fällen, in denen Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat existieren oder auftreten, die steuerpflichtigen Inhaber solcher Vermögenswerte davon abhalten, diese und ihre Einkünfte daraus den Steuerbehörden zu verschweigen, um sich nicht später einer Nachforderung sowie gegebenenfalls einer Geldbuße auszusetzen, die beide auf der Grundlage eines Zeitraums von bis zu zwölf Jahren bemessen werden.
Was die Beurteilung der Frage angeht, ob die fragliche Regelung über das zur Gewährleistung einer wirksamen steuerlichen Überwachung und zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung Erforderliche hinausgeht, so entspricht die den Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats eröffnete Zusatzfrist für eine Nachforderung wegen eines in einem anderen Mitgliedstaat vorhandenen oder aufgetretenen Steuergegenstands zwar nicht notwendig der Frist, die diese Behörden benötigen, um mittels der gegenseitigen Amtshilfe, die in der Richtlinie 77/799 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern vorgesehen ist, oder eines durch ein bilaterales Abkommen eingerichteten Systems der Auskunftserteilung bei dem anderen Mitgliedstaat bestimmte Informationen in Erfahrung zu bringen. Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass die Verlängerung des Zeitraums, in dem diese Behörden im Fall von Guthaben oder Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat einen Nachforderungsbescheid erlassen dürfen, im Hinblick auf das Ziel, die Einhaltung des innerstaatlichen Steuerrechts zu gewährleisten, generell unverhältnismäßig wäre. Unbeschadet gegebenenfalls anwendbarer gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierungsvorschriften kann ein Mitgliedstaat insoweit nicht verpflichtet werden, seine Regelung der steuerlichen Überwachung je nach der speziellen Situation in jedem einzelnen anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat auszurichten.
In einer Situation, in der ein Steuergegenstand, der in einem Mitgliedstaat der Steuer unterliegt und sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats verschwiegen worden ist und diese keinen Anhaltspunkt für die Existenz dieses Steuergegenstands besitzen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubte, geht die Festlegung einer verlängerten Nachforderungsfrist für Steuergegenstände, die den Steuerbehörden verschwiegen worden sind, nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung zu bekämpfen. In diesem Fall ist es dem erstgenannten Mitgliedstaat unmöglich, sich an die zuständigen Behörden des anderen Mitgliedstaats zu wenden, um von ihnen die nötigen Auskünfte für die ordnungsgemäße Festsetzung des Steuerbetrags zu erhalten. Da in einem solchen Fall nichts vorliegt, was die Einleitung von Ermittlungen gestattete, und infolgedessen die Inanspruchnahme eines Mechanismus der Auskunftserteilung ausscheidet, ist die längere Frist, die den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats für die Festsetzung der Steuer gewährt wird, wenn sich Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat befinden, so zu verstehen, dass sie nicht dazu dient, diesen Behörden die nötige Zeit zu verschaffen, um von dem anderen Mitgliedstaat Auskünfte über dortige Steuergegenstände einzuholen, sondern allein so, dass sie einen längeren Zeitraum eröffnen soll, in dem eine etwaige Entdeckung dieses Steuergegenstands noch zu einer Nachforderung führen kann, soweit die nach einer solchen Entdeckung aufgenommenen Ermittlungen diese Nachforderung ermöglichen, bevor der Zeitraum endet. Da die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist durch einen Mitgliedstaat unter diesen Umständen nicht dazu dient, die Einholung von Auskünften von dem anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen, ist im Übrigen die Frage unerheblich, ob in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt. Die von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, diese Frist zeitlich zu begrenzen und diese Grenze nach Maßgabe der Frist zu ziehen, die für die strafrechtliche Verfolgung wegen Steuerhinterziehung gilt, erscheint auch nicht unverhältnismäßig. Ebenso wenig lässt es sich einem Mitgliedstaat vorwerfen, dass er den Geltungsbereich der Nachforderungsfrist, die für den Steuerbehörden unbekannt gebliebene Steuergegenstände länger ist, auf Steuergegenstände beschränkt, die sich nicht in seinem Hoheitsgebiet befinden.
Verfügten die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats hingegen über Anhaltspunkte, die es ihnen erlaubt hätten, sich mittels der in der Richtlinie 77/799 oder einer in bilateralen Abkommen vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe an die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu wenden, um von ihnen die erforderlichen Auskünfte zur richtigen Festsetzung des Steuerbetrags einzuholen, rechtfertigt allein die Tatsache, dass sich der betroffene Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet, nicht die generelle Geltung einer zusätzlichen Nachforderungsfrist, die sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die benötigt wird, um diese Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe in sachdienlicher Weise in Anspruch zu nehmen.
(vgl. Randnrn. 39-40, 45, 47, 49-52, 59-61, 63, 67-70, 73, 75-76, Tenor 1)
2. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie dann, wenn ein Mitgliedstaat in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anwendet als in Fällen, in denen sich Guthaben im erstgenannten Mitgliedstaat befinden, und wenn diese ausländischen Guthaben sowie die daraus bezogenen Einkünfte den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats, die für ihre Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besaßen, verschwiegen wurden, einer Bemessung der wegen des Verschweigens dieser ausländischen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und nach Maßgabe dieses längeren Zeitraums nicht entgegenstehen.
Das für einen gebietsansässigen Steuerpflichtigen bestehende Risiko, im Zusammenhang mit Guthaben und Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat mit einer höheren Geldbuße belegt zu werden als im Fall inländischer Guthaben und Einkünfte, ist nämlich nur Folge des Umstands, dass der Zeitraum, der für die Bemessung der Nachforderung und damit für die Bemessungsgrundlage der Geldbuße berücksichtigt werden darf, bei ausländischen Guthaben und Einkünften länger sein kann als bei inländischen Guthaben und Einkünften, da für Letztere die längere Nachforderungsfrist nicht gilt. Da es die Art. 49 EG und 56 EG einem Mitgliedstaat nicht verwehren, in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden als in Fällen, in denen sich Guthaben in dem fraglichen Mitgliedstaat selbst befinden, wenn es sich um Guthaben und Einkünfte handelt, die seinen Steuerbehörden verschwiegen wurden und für deren Existenz diese keinen Anhaltspunkt besaßen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubt hätte, stehen diese Artikel unter den gleichen Umständen auch nicht einer Bemessung der wegen des Verschweigens dieser ausländischen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und nach Maßgabe dieses längeren Zeitraums entgegen.
(vgl. Randnrn. 84-86, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
11. Juni 2009(*)
„Freier Dienstleistungsverkehr – Freier Kapitalverkehr – Vermögensteuer – Einkommensteuer – Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat – Keine Angabe in der Steuererklärung – Nachforderungsfrist – Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats – Richtlinie 77/799/EWG – Gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern – Bankgeheimnis“
In den verbundenen Rechtssachen C-155/08 und C-157/08
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidungen vom 21. März 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 16. April 2008, in den Verfahren
X (C-155/08),
E. H. A. Passenheim-van Schoot (C-157/08)
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts (Berichterstatter) sowie der Richter T. von Danwitz, E. Juhász, G. Arestis und J. Malenovský,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von X, vertreten durch J. J. Feenstra und L. C. A. Wijsman, advocaten,
– von Frau Passenheim-van Schoot, vertreten durch M. J. Hamer, advocaat, sowie J. A. R. van Eijsden und E. C. C. M. Kemmeren, belastingadviseurs,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und M. de Grave als Bevollmächtigte,
– der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux als Bevollmächtigten,
– der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 49 EG und 56 EG.
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen in den Niederlanden wohnenden natürlichen Personen, X (Rechtssache C-155/08) und Frau Passenheim-van Schoot (Rechtssache C-157/08), einerseits und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär im Finanzministerium) andererseits wegen Nachforderungen der niederländischen Steuerbehörden nach der Entdeckung von Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat und Einkünften daraus, die verschwiegen worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern (ABl. L 336, S. 15) in der durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 77/799) bestimmt:
„Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen sich nach dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und Vermögen geeignet sein können …“
4 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 77/799 lautet:
„Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats kann die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats um die Erteilung der in Artikel 1 Absatz 1 bezeichneten Auskünfte im Einzelfall ersuchen. Die zuständige Behörde des um Auskunft ersuchten Staates braucht dem Ersuchen nicht zu entsprechen, wenn es scheint, dass die zuständige Behörde des ersuchenden Staates ihre eigenen üblichen Auskunftsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft hat, von denen sie nach Lage des Falles ohne Gefährdung des Ermittlungszwecks hätte Gebrauch machen können.“
5 Art. 3 der Richtlinie 77/799 sieht vor:
„Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen sich gegenseitig ohne vorheriges Ersuchen regelmäßig die in Artikel 1 Absatz 1 bezeichneten Auskünfte für Gruppen von Einzelfällen, die sie im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach Artikel 9 festlegen.“
6 Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 77/799 in der Fassung, die auf den der Rechtssache C-155/08 zugrunde liegenden Sachverhalt anwendbar ist, bestimmt:
„Diese Richtlinie verpflichtet nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Auskünften, wenn deren Durchführung oder deren Beschaffung oder Verwertung durch die zuständige Behörde des auskunftgebenden Staates für ihre eigenen steuerlichen Zwecke gesetzliche Vorschriften oder ihre Verwaltungspraxis entgegenstünden.“
7 Mit der Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (ABl. L 157, S. 38) wird laut ihrem Art. 1 Abs. 1 das Ziel verfolgt, dass Erträge, die in einem Mitgliedstaat im Wege von Zinszahlungen an wirtschaftliche Eigentümer, die natürliche Personen sind und die in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ansässig sind, erzielt werden, nach den Rechtsvorschriften dieses letzteren Mitgliedstaats effektiv besteuert werden.
8 In ihrem Kapitel II („Auskunftserteilung“) sieht die Richtlinie 2003/48 vor, dass die Zahlstelle solcher Zinsen der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats ihrer Niederlassung bestimmte Auskünfte erteilt (Art. 8) und dass zwischen dieser Behörde und der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem der wirtschaftliche Eigentümer dieser Zinsen ansässig ist, eine automatische Auskunftserteilung stattfindet (Art. 9).
9 Art. 9 der Richtlinie 2003/48 lautet:
„(1) Die zuständige Behörde des Mitgliedstaats der Zahlstelle erteilt die Auskünfte nach Artikel 8 der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem der wirtschaftliche Eigentümer ansässig ist.
(2) Die Auskünfte über sämtliche während eines Steuerjahrs erfolgten Zinszahlungen werden mindestens einmal jährlich automatisch erteilt, und zwar binnen sechs Monaten nach dem Ende des Steuerjahres des Mitgliedstaats, in dem die Zahlstelle niedergelassen ist.
(3) Soweit in der vorliegenden Richtlinie nichts anderes bestimmt ist, gelten für die in dieser Richtlinie vorgesehene Auskunftserteilung die Bestimmungen der Richtlinie [77/799]. Artikel 8 der Richtlinie [77/799] gilt jedoch nicht für Auskünfte, die nach diesem Kapitel zu erteilen sind.“
10 Nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/48 in deren Kapitel III („Übergangsbestimmungen“) müssen das Königreich Belgien, das Großherzogtum Luxemburg und die Republik Österreich die Bestimmungen des Kapitels II der Richtlinie während eines Übergangszeitraums nicht anwenden.
Niederländisches Recht
11 Art. 16 des Allgemeinen Gesetzes über die Reichssteuern (Algemene Wet inzake Rijksbelastingen, im Folgenden: AWR) bestimmt:
„(1) Gibt ein Umstand Anlass zu der Annahme, dass zu Unrecht keine Steuer oder ein zu geringer Steuerbetrag festgesetzt worden ist, … kann der Inspektor die nicht erhobenen Steuern nachfordern. …
…
(3) Die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids erlischt fünf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld. …
…
(4) Ist ein Bestandteil des Steuergegenstands, der sich im Ausland befindet oder dort aufgetreten ist, zu gering besteuert worden, erlischt die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids abweichend von Abs. 3 Satz 1 zwölf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld.“
12 Art. 67e Abs. 1 und 2 AWR sieht vor:
„(1) Beruht im Fall einer Steuer, die durch Veranlagung erhoben wird, die Festsetzung eines zu geringen Betrags im Steuerbescheid oder eine zu geringe Steuererhebung aus anderem Grund auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Steuerpflichtigen, ist dies eine Ordnungswidrigkeit, die der Inspektor gleichzeitig mit dem Erlass eines Nachforderungsbescheids mit einer Geldbuße in Höhe von bis zu 100 % der in Abs. 2 festgelegten Bemessungsgrundlage für diese Geldbuße ahnden kann.
(2) Die Bemessungsgrundlage der Geldbuße wird gebildet durch … den Betrag des Nachforderungsbescheids …“
13 Der Erlass des Staatssekretärs im Finanzministerium über die gegenseitige internationale Amtshilfe bei der Steuererhebung (Besluit van de Staatssecretaris van Financiën inzake het voorschrift internationale wederzijdse bijstand bij de heffing van belastingen) vom 24. Mai 2002 (Erlass Nr. CPP2001/3595, V-N 2002/29.4, im Folgenden: Erlass vom 24. Mai 2002) enthält Leitlinien für die Befolgung der Richtlinie 77/799.
14 Nr. 4.1 („Voraussetzungen eines Amtshilfeersuchens an das Ausland“) dieses Erlasses bestimmt:
„Ein Auskunftsersuchen kann Körperschaften und natürliche Personen betreffen und darf gestellt werden, wenn die Auskünfte für die zutreffende Festsetzung der Steuerschuld von Nutzen sein können (Art. 1 der Richtlinie [77/799]) oder für die Anwendung der Vorschriften bilateraler Steuerabkommen und/oder niederländischer Steuervorschriften benötigt werden (vgl. die Bestimmungen über Auskunftsersuchen in den bilateralen Steuerabkommen). Das Ersuchen muss auf Einzelfälle bezogen sein. Es darf sich nicht um einen ‚Fischzug‘ handeln. Bevor ein Auskunftsersuchen an das Ausland gerichtet wird, müssen die eigenen üblichen Auskunftsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sein (Grundsatz der Ausschöpfung).“
15 In Nr. 5.2 („Automatische Auskunftserteilung“) des Erlasses vom 24. Mai 2002 heißt es unter Nr. 5.2.1 („Rechtsgrundlage“):
„Die automatische Auskunftserteilung ist ausdrücklich genannt in Art. 3 der [Richtlinie 77/799] und in Art. 6 des [am 25. Januar 1988 in Straßburg zur Unterzeichnung aufgelegten] Übereinkommens über die gegenseitige Amtshilfe in Steuersachen. Den Erläuterungen zum Musterabkommen der [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – OECD] von 1977 ist zu entnehmen, dass die Vorschriften über die Auskunftserteilung auch die automatische Auskunftserteilung zum Gegenstand haben.
Die automatische Auskunftserteilung wird durch Vereinbarung zwischen den Parteien des Übereinkommens geregelt. Diese Vereinbarungen betreffen die Art der erteilten Auskünfte sowie die Voraussetzungen und Verfahren der Auskunftserteilung.
Die Vereinbarungen werden in Abkommen (oder Absichtserklärungen) niedergelegt. In den Niederlanden werden diese Vereinbarungen im Staatscourant [Amtsblatt] veröffentlicht …
Die Niederlande haben eine Reihe von Einzelabkommen über die automatische Auskunftserteilung geschlossen. …“
16 Am 16. Oktober 1997 schlossen das Königreich der Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland ein Abkommen über die Auskunftserteilung in Steuersachen (Nr. AFZ97/3934 M, Staatscourant 1997, Nr. 235). Dieses Abkommen sieht keine automatische oder spontane Erteilung von Auskünften über Sparguthaben und deren Zinsen vor. Zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande besteht kein Abkommen über die Auskunftserteilung in Steuersachen.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C-155/08
17 Mit Schreiben vom 27. Oktober 2000 übermittelte der Steuerfahndungsdienst (Bijzondere Belastingsinspectie) des Königreichs Belgien an die niederländischen Steuerbehörden unaufgefordert Auskünfte über Bankkonten, die bei der in Luxemburg ansässigen Kredietbank Luxembourg (im Folgenden: KB-Lux) im Namen von Personen mit Wohnsitz in den Niederlanden eröffnet worden waren.
18 Da die Überprüfung der Auskünfte ergab, dass X mutmaßlich Inhaber eines solchen Bankkontos war, ersuchte ihn der Inspecteur van de Belastingdienst (zuständiger Beamter der niederländischen Steuerbehörden, im Folgenden: Inspektor) um nähere Auskünfte. Nach einem Schriftwechsel zwischen dem Inspektor und dem Verfahrensbevollmächtigten von X erklärte Letzterer mit Schreiben vom 8. Mai 2002, dass er seit 1993 Inhaber eines Kontos bei der KB-Lux sei. Mit Schreiben vom 23. August 2002 machte X genauere Angaben u. a. zur Kontosituation während der fraglichen Zeit.
19 Am 12. November 2002 wurde X ein Bescheid über die Nachforderung von Vermögensteuer für das Steuerjahr 1998 zugestellt. Dieser Bescheid enthielt Nachforderungen zum einen hinsichtlich der Einkommensteuer und der Steuer auf Sozialversicherungsprämien für die Steuerjahre 1993 bis 2000 und zum anderen hinsichtlich der Vermögensteuer für die Steuerjahre 1994 bis 2001. Außerdem wurde gegen X eine Geldbuße in Höhe von 50 % des nachgeforderten Steuerbetrags festgesetzt.
20 Nach Abweisung des Einspruchs gegen diesen Bescheid erhob X eine Klage beim Gerechtshof te Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam), in deren Rahmen er insbesondere geltend machte, dass die Nachforderungsfrist von zwölf Jahren gemäß Art. 16 Abs. 4 AWR für Steuergegenstände im Ausland dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufe.
21 Mit Entscheidung vom 18. Januar 2006 erklärte der Gerechtshof te Amsterdam die Klage für unbegründet, hob jedoch den Bescheid des Inspektors wegen Überschreitung einer angemessenen Frist auf und setzte die Steuernachforderung niedriger fest.
22 Gegen diese Entscheidung erhob X Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:
1. Sind die Art. 49 EG und 56 EG dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, in Fällen, in denen seiner Finanzverwaltung (Einkünfte aus) ausländische(n) Sparguthaben verschwiegen werden, eine Rechtsvorschrift anzuwenden, die zum Ausgleich des Fehlens wirksamer Kontrollmöglichkeiten in Bezug auf ausländische Guthaben eine Nachforderungsfrist von zwölf Jahren vorsieht, während für (Einkünfte aus) Sparguthaben, die sich im Inland befinden, wo es durchaus Möglichkeiten einer wirksamen Kontrolle gibt, eine Nachforderungsfrist von fünf Jahren gilt?
2. Macht es für die Beantwortung der Frage 1 einen Unterschied, ob die Guthaben sich in einem Mitgliedstaat befinden, in dem es ein Bankgeheimnis gibt?
3. Falls Frage 1 bejaht wird: Stehen dann ferner die Art. 49 EG und 56 EG dem Umstand entgegen, dass eine Geldbuße für das Verschweigen des Einkommens oder des Vermögens, für das Steuern nachgefordert werden, im Verhältnis zu dem für diesen längeren Zeitraum nachgeforderten Betrag festgesetzt wird?
Rechtssache C-157/08
23 Nach dem Tod ihres Ehemanns übermittelte Frau Passenheim-van Schoot am 10. Januar 2003 den niederländischen Steuerbehörden aus eigener Initiative vollständige Informationen über ein Guthaben bei einer Bank in Deutschland, das ihr und ihrem verstorbenen Ehemann gehört hatte. Dieses Bankguthaben war in ihren Steuererklärungen für die Einkommensteuer, die Steuer auf Sozialversicherungsprämien und die Vermögensteuer zuvor nie erwähnt worden.
24 Auf Antrag von Frau Passenheim-van Schoot wandte der Inspektor zu ihren Gunsten eine sogenannte „Reueregelung“ an, so dass gegen sie keine Geldbuße verhängt wurde. Gleichwohl stellte ihr der Inspektor am 13. Mai 2005 Bescheide über die Nachforderung von Einkommensteuer und Steuer auf Sozialversicherungsprämien für die Steuerjahre 1993 bis 1996 und von Vermögensteuer für die Steuerjahre 1994 bis 1997 sowie damit zusammenhängende Bescheide über angefallene Zinsen zu.
25 Frau Passenheim-van Schoot erhob gegen diese Bescheide eine Klage bei der Rechtbank te Arnhem, in deren Rahmen sie insbesondere geltend machte, dass die Nachforderungsfrist von zwölf Jahren gemäß Art. 16 Abs. 4 AWR für Steuergegenstände im Ausland dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufe.
26 Nach Abweisung dieser Klage erhob Frau Passenheim-van Schoot Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden, der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, die mit der ersten Frage in der Rechtssache C-155/08 wortgleich ist.
27 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Mai 2008 sind die Rechtssachen C-155/08 und C-157/08 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage in der Rechtssache C-155/08 und zu der Frage in der Rechtssache C-157/08
28 Mit der ersten und der zweiten Frage in der Rechtssache C-155/08 und der Frage in der Rechtssache C-157/08 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 EG und 56 EG dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen in Fällen, in denen den Steuerbehörden Sparguthaben und/oder Einkünfte daraus verschwiegen worden sind, die Nachforderungsfrist fünf Jahre beträgt, wenn es sich um Sparguthaben in diesem Mitgliedstaat selbst handelt, aber zwölf Jahre, wenn es sich um Sparguthaben in einem anderen Mitgliedstaat handelt. Das vorlegende Gericht möchte geklärt sehen, ob es hierauf möglicherweise von Einfluss ist, dass die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats das Bankgeheimnis vorsehen.
Zum Vorliegen einer Beschränkung der Verkehrsfreiheiten
29 Nach Auffassung der Kläger der Ausgangsverfahren und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften beschränkt eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren streitige sowohl den freien Kapitalverkehr als auch den freien Dienstleistungsverkehr. Sie mache es nämlich für einen in den Niederlanden wohnhaften Steuerpflichtigen weniger attraktiv, Sparguthaben in einen anderen Mitgliedstaat zu transferieren und dort zu belassen. Ebenso sei es für eine außerhalb der Niederlande ansässige Person weniger attraktiv, Guthaben von Bewohnern dieses Mitgliedstaats entgegenzunehmen und ihnen Dienstleistungen zu erbringen.
30 Die niederländische und die belgische Regierung sind hingegen der Ansicht, dass diese Regelung weder eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs noch eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs bildet. Zur Begründung führen sie aus, Art. 16 Abs. 4 AWR sei unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Niederlassungsort oder Wohnsitz des Steuerpflichtigen anwendbar. Im Fall eines Steuerpflichtigen, der seine Sparguthaben und daraus bezogenen Einkünfte bei den Steuerbehörden deklariere, ergebe sich aus der Vorschrift auch kein Hindernis für die Beibehaltung dieser Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat. Selbst bei Verschweigen von Sparguthaben gegenüber den Steuerbehörden könne eine verlängerte Nachforderungsfrist hinsichtlich des Belassens solcher Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat keine abschreckende Wirkung haben, da es den Steuerbehörden in einem solchen Fall in Wirklichkeit nicht möglich sei, Informationen über die Guthaben zu erlangen.
31 Die niederländische Regierung fügt hinzu, dass die Geltung einer längeren Nachforderungsfrist bei Auslandsguthaben unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit keine Diskriminierung im Vergleich zu Guthaben in den Niederlanden bedeute, da Rechtssicherheit im einen wie im anderen Fall vor allem durch die Offenlegung der Guthaben und Einkünfte daraus erlangt werden könne und müsse. Die belgische Regierung hebt ihrerseits hervor, dass Art. 16 Abs. 4 AWR nicht als diskriminierend betrachtet werden könne, wenn man bedenke, dass Bankdaten von Steuerpflichtigen, die Guthaben bei Banken in den Niederlanden besäßen, automatisch den niederländischen Steuerbehörden übermittelt würden, was jedes Verschweigen dieser Guthaben unmöglich mache, während im Fall von Steuerpflichtigen, die ihre Sparguthaben in anderen Mitgliedstaaten deponiert hätten, Auskünfte nur in beschränktem Umfang erteilt werden könnten.
32 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 49 EG der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb nur eines Mitgliedstaats erschwert (vgl. u. a. Urteile vom 28. April 1998, Safir, C-118/96, Slg. 1998, I-1897, Randnr. 23, vom 4. März 2004, Kommission/Frankreich, C-334/02, Slg. 2004, I-2229, Randnr. 23, und vom 11. September 2007, Kommission/Deutschland, C-318/05, Slg. 2007, I-6957, Randnr. 81).
33 Ferner bilden Maßnahmen eines Mitgliedstaats Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 56 Abs. 1 EG, wenn sie geeignet sind, die Gebietsansässigen davon abzuhalten, in einem anderen Mitgliedstaat Darlehen aufzunehmen oder Anlagen zu tätigen (vgl. u. a. Urteil vom 26. September 2000, Kommission/Belgien, C-478/98, Slg. 2000, I-7587, Randnr. 18).
34 Im vorliegenden Fall ist Art. 16 Abs. 3 und 4 AWR zu entnehmen, dass die niederländischen Steuerbehörden, wenn eine Steuererhebung unterblieben ist oder in zu niedriger Höhe vorgenommen wurde, die Steuer, wenn es sich um Guthaben und Einkünfte in den Niederlanden handelt, innerhalb von fünf Jahren und, wenn es sich um ausländische Guthaben oder Einkünfte handelt, innerhalb von zwölf Jahren nachfordern dürfen.
35 Sollen somit die niederländischen Rechtsvorschriften den in den Niederlanden wohnenden Steuerpflichtigen Rechtssicherheit über ihre Steuerpflicht gewähren, indem sie die Nacherhebungsbefugnis der Steuerbehörden einer Frist von längstens fünf Jahren unterwerfen, wird diese Rechtssicherheit somit bei Guthaben und Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat erst nach zwölf Jahren statt nach fünf Jahren erlangt.
36 Diese Ungleichbehandlung je nach Belegenheit der Sparguthaben wird nicht durch den von der niederländischen und der belgischen Regierung hervorgehobenen Umstand ausgeräumt, dass der Steuerpflichtige immer die Möglichkeit hat, seine im Ausland vorhandenen Guthaben und daraus bezogenen Einkünfte den Steuerbehörden anzugeben.
37 Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass die Nachforderungsfrist, wie die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, im Fall des Verschweigens inländischer Guthaben oder Einkünfte gegenüber den Steuerbehörden nicht verlängert wird. So verhält es sich, wenn inländische Guthaben oder Einkünfte, die sich nicht auf einem Bankkonto befinden oder von einem Bankkonto herrühren und die darum keiner Mitteilungspflicht gegenüber den Steuerbehörden unterliegen, diesen nicht offenbart werden. Folglich gewinnt ein Steuerpflichtiger, der den Steuerbehörden solche inländischen Guthaben oder Einkünfte nicht anzeigt, bereits nach fünf Jahren die Gewissheit, dass diese nicht mehr besteuert werden, während bei Nichtangabe von Guthaben oder Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat diese Gewissheit erst nach zwölf Jahren entsteht.
38 Wird überdies gleichzeitig mit der Steuernachforderung eine Geldbuße verhängt, so wird diese nach Maßgabe des nachgeforderten Betrags und damit nach Maßgabe des Nachforderungszeitraums bemessen, was bedeutet, dass sich der Steuerpflichtige im Fall der Anwendung der längeren Nachforderungsfrist gemäß Art. 16 Abs. 4 AWR der Gefahr ausgesetzt sieht, dass gegen ihn eine Geldbuße verhängt wird, die auf der Grundlage einer Nachforderung für einen Zeitraum festgesetzt wird, der länger ist als der Zeitraum, welcher zugrunde gelegt werden darf, wenn der von der Nachforderung betroffene Steuergegenstand in den Niederlanden belegen oder aufgetreten ist.
39 Aus diesen Gründen ist die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist für außerhalb der Niederlande befindliche Guthaben auf in diesem Mitgliedstaat wohnhafte Steuerpflichtige geeignet, es für diese weniger attraktiv zu machen, Guthaben in einen anderen Mitgliedstaat zu transferieren, um dort angebotene Finanzdienstleistungen in Anspruch zu nehmen, als solche Guthaben in den Niederlanden zu besitzen und Finanzdienstleistungen in diesen in Anspruch zunehmen.
40 Folglich bildet eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren streitige eine Beschränkung sowohl des freien Dienstleistungsverkehrs als auch des freien Kapitalverkehrs, die grundsätzlich durch die Art. 49 EG und 56 EG verboten wird.
Zur Rechtfertigung der Beschränkung der Verkehrsfreiheiten
41 Nach Auffassung der niederländischen, der belgischen und der italienischen Regierung wird Art. 16 Abs. 4 AWR durch das Erfordernis gerechtfertigt, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu erhalten sowie, nach Meinung der niederländischen Regierung, Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
42 Diese Regierungen weisen erstens darauf hin, dass sich die Geltung einer längeren Nachforderungsfrist für die Guthaben der Bewohner eines Mitgliedstaats außerhalb desselben und für ihre daraus bezogenen Einkünfte dadurch erkläre, dass es den Steuerbehörden dieses Mitgliedstaats in Wirklichkeit nicht möglich sei, Informationen über die Guthaben und Einkünfte in einem anderen Mitgliedstaat zu erlangen. Insoweit habe der Gemeinschaftsgesetzgeber im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/48 anerkannt, dass Gebietsansässige eines Mitgliedstaats „derzeit häufig jegliche Besteuerung von in einem anderen Mitgliedstaat vereinnahmten Zinsen im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes vermeiden“ könnten, „[d]a es an jeglicher Koordinierung der nationalen Systeme zur Besteuerung von Zinserträgen fehlt, insbesondere was die steuerliche Behandlung von Zinsen anbelangt, die von Gebietsfremden vereinnahmt werden“.
43 In einem solchen Kontext erlaube es die längere Nachforderungsfrist, bei der Entdeckung von Guthaben in anderen Mitgliedstaaten diese und die von ihnen hervorgebrachten Einkünfte ebenso zu besteuern wie inländische Guthaben und Einkünfte. So hätten in den Ausgangsverfahren ohne verlängerte Nachforderungsfrist die betroffenen Guthaben und Einkünfte für eine Reihe von Jahren nicht mehr besteuert werden können. Die Geltung einer längeren Nachforderungsfrist gleiche auch den Zeitraum aus, der für die Einholung von Einkünften im Wege der gegenseitigen Amtshilfe zwischen Mitgliedstaaten benötigt werde.
44 Zweitens sei die längere Nachforderungsfrist im Rahmen der Bekämpfung der Steuerhinterziehung als erforderlich anzusehen. Dazu bemerkt die niederländische Regierung, dass Art. 16 Abs. 4 AWR nur anwendbar sei, wenn die ausländischen Guthaben den Steuerbehörden verschwiegen worden seien und es für diese keinen konkreten Ansatzpunkt gegeben habe, um aus eigener Initiative Ermittlungen anzustellen, also nur in den Fällen von Steuerhinterziehung und Steuerflucht.
45 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung der vom EG-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können, die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten (vgl. u. a. Urteil vom 18. Dezember 2007, A, C-101/05, Slg. 2007, I-11531, Randnr. 55), und die Bekämpfung von Steuerhinterziehung zählen (vgl. u. a. Urteil vom 11. Oktober 2007, ELISA, C-451/05, Slg. 2007, I-8251, Randnr. 81).
46 Für den Kapitalverkehr sieht außerdem Art. 58 Abs. 1 Buchst. b EG vor, dass Art. 56 EG nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet des Steuerrechts zu verhindern.
47 Eine beschränkende Maßnahme kann jedoch nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, also geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das dazu Erforderliche hinausgeht (Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 28).
48 In diesem Rahmen machen die Kläger des Ausgangsverfahrens erstens geltend, dass die in den Ausgangsverfahren in Frage stehende innerstaatliche Regelung nicht geeignet sei, die Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele zu gewährleisten, da die Verlängerung der Nachforderungsfrist als solche die Überwachungsbefugnisse der Steuerbehörden eines Mitgliedstaats im Hinblick auf Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat nicht vergrößere. Das gelte insbesondere dann, wenn in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gelte.
49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es die Verlängerung einer Nachforderungsfrist den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats, auch wenn sie als solche deren Ermittlungsbefugnisse nicht stärkt, im Fall der Entdeckung von ihnen unbekannt gebliebenen Steuergegenständen in einem anderen Mitgliedstaat gleichwohl ermöglicht, Ermittlungen einzuleiten und, wenn sich herausstellt, dass eine Besteuerung dieser Steuergegenstände unterblieben oder in zu geringer Höhe vorgenommen worden ist, einen Nachforderungsbescheid zu erlassen.
50 Wie der dem Ausgangsverfahren in der Rechtssache C-155/08 zugrunde liegende Sachverhalt belegt, gilt das Gleiche, wenn die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats über das Bestehen eines Steuergegenstands in einem anderen Mitgliedstaat unterrichtet werden, in dem das Bankgeheimnis gilt.
51 Außerdem kann die Geltung einer längeren Nachforderungsfrist in einem Mitgliedstaat in Fällen, in denen Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat existieren oder auftreten, die steuerpflichtigen Inhaber solcher Vermögenswerte davon abhalten, diese und ihre Einkünfte daraus den Steuerbehörden zu verschweigen, um sich nicht später einer Nachforderung sowie gegebenenfalls einer Geldbuße auszusetzen, die beide auf der Grundlage eines Zeitraums von bis zu zwölf Jahren bemessen werden.
52 Es ist daher anzuerkennen, dass eine Regelung wie Art. 16 Abs. 4 AWR dazu beiträgt, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
53 Gleichwohl bleibt zu prüfen, ob eine solche Regelung nicht, wie die Kläger der Ausgangsverfahren geltend machen, über das für die Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgeht.
54 Die Kläger der Ausgangsverfahren tragen nämlich vor, dass Art. 16 Abs. 4 AWR nicht die den Mitgliedstaaten zu Gebote stehende Möglichkeit berücksichtige, nach den Art. 1 bis 3 der Richtlinie 77/799 von einem anderen Mitgliedstaat alle erforderlichen Auskünfte für die Festsetzung der richtigen Steuerhöhe einzuholen. Insoweit sei besonders die in Art. 3 der Richtlinie 77/799 vorgesehene Möglichkeit der Einrichtung einer automatischen Auskunftserteilung zu beachten. Dass ein Mitgliedstaat von diesen Möglichkeiten der Auskunftserteilung keinen Gebrauch mache, sei seine eigene Entscheidung und lasse sich keinesfalls dem Steuerpflichtigen entgegenhalten.
55 Die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Vorschrift sei auch deshalb unverhältnismäßig, weil sie nicht danach unterscheide, ob das Königreich der Niederlande mit dem Staat, in dem sich der Steuergegenstand befinde, ein Abkommen über die Auskunftserteilung geschlossen habe oder ob in diesem anderen Staat das Bankgeheimnis gelte, und nicht einmal danach, ob es sich um einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat handele. Insoweit sei klarzustellen, dass die Anwendung eines Abkommens über die Auskunftserteilung normalerweise nicht eine Zusatzfrist von sieben Jahren verlange, wie sie Art. 16 Abs. 4 AWR vorsehe. Diese Frist sei vielmehr in willkürlicher Weise nach der Frist bemessen worden, in der bei einer Steuerhinterziehung noch ein Strafverfahren eingeleitet werden dürfe, obgleich diese Verjährungsfrist im niederländischen Strafrecht für inländische und grenzüberschreitende Sachverhalte gleichermaßen gelte.
56 Die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, meinen hingegen, dass die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist durch einen Mitgliedstaat für Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich sei, um die fehlende reale Möglichkeit der Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats auszugleichen, Auskünfte über Guthaben in dem anderen Mitgliedstaat zu erlangen.
57 Zur etwaigen Inanspruchnahme der gegenseitigen Amtshilfe zwischen Mitgliedstaaten bemerken diese Regierungen, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 2 der Richtlinie 77/799 um die Erteilung von Auskünften nur in einem Einzelfall ersuchen dürfe, in dem er bereits über genügende Ansatzpunkte verfüge. Außerdem stehe, wenn in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gelte, Art. 8 der Richtlinie der Mitteilung der damit geschützten Informationen entgegen. Schließlich gebe es für Einkünfte aus Sparguthaben kein bilaterales Abkommen, das eine automatische Auskunftserteilung im Sinne von Art. 3 der Richtlinie ermögliche.
58 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 16 Abs. 4 AWR nach seinem Wortlaut die Nachforderungsfrist von fünf auf zwölf Jahre unabhängig davon verlängert, ob das Königreich der Niederlande in einem bestimmten Anwendungsfall über Mittel verfügt, um von dem Mitgliedstaat, in dem sich der Steuergegenstand befindet, die erforderlichen Auskünfte zu erlangen, sei es im Wege der gegenseitigen Amtshilfe gemäß der Richtlinie 77/799 oder mittels der Auskunftserteilung aufgrund eines bilateralen Abkommens mit dem letztgenannten Mitgliedstaat. Überdies gilt die längere Nachforderungsfrist ebenso in einem Fall, in dem wegen der Geltung des Bankgeheimnisses in dem anderen Mitgliedstaat ein Ersuchen um Mitteilung von Bankdaten keinen Erfolg haben könnte.
59 Folglich entspricht im Rahmen einer Regelung wie der in den Ausgangsverfahren streitigen die den Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats eröffnete Zusatzfrist für eine Nachforderung wegen eines in einem anderen Mitgliedstaat vorhandenen oder aufgetretenen Steuergegenstands nicht notwendig der Frist, die diese Behörden benötigen, um mittels der in der Richtlinie 77/799 vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe oder eines durch ein bilaterales Abkommen eingerichteten Systems der Auskunftserteilung bei dem anderen Mitgliedstaat bestimmte Informationen in Erfahrung zu bringen.
60 Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass die Verlängerung des Zeitraums, in dem diese Behörden im Fall von Guthaben oder Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat einen Nachforderungsbescheid erlassen dürfen, im Hinblick auf das Ziel, die Einhaltung des innerstaatlichen Steuerrechts zu gewährleisten, generell unverhältnismäßig wäre.
61 Insoweit ist hervorzuheben, dass ein Mitgliedstaat unbeschadet gegebenenfalls anwendbarer gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierungsvorschriften nicht verpflichtet werden kann, seine Regelung der steuerlichen Überwachung je nach der speziellen Situation in jedem einzelnen anderen Mitgliedstaat oder Drittstaat auszurichten.
62 Für die Beurteilung der Frage, ob eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren streitige über das hinausgeht, was zur Gewährleistung einer wirksamen steuerlichen Überwachung und zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung erforderlich ist, sind zwei Fallgestaltungen zu unterscheiden.
63 Die erste Fallgestaltung entspricht einer Situation, in der ein Steuergegenstand, der in einem Mitgliedstaat der Steuer unterliegt und sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats verschwiegen worden ist und diese keinen Anhaltspunkt für die Existenz dieses Steuergegenstands besitzen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubte. In diesem Fall ist es dem erstgenannten Mitgliedstaat unmöglich, sich an die zuständigen Behörden des anderen Mitgliedstaats zu wenden, um von ihnen die nötigen Auskünfte für die ordnungsgemäße Festsetzung des Steuerbetrags zu erhalten.
64 Da sich die Behörden eines Mitgliedstaats nach Art. 2 der Richtlinie 77/799 nur im Einzelfall an die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats wenden dürfen, können die Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats, die keinen Anhaltspunkt für die Existenz eines Steuergegenstands in dem anderen Mitgliedstaat besitzen, nur dann Ermittlungen einleiten, wenn ihnen vorher Informationen über die Existenz dieses Steuergegenstands mitgeteilt worden sind, sei es, insbesondere im Wege einer automatischen Auskunftserteilung gemäß Art. 9 der Richtlinie 2003/48, durch den anderen Mitgliedstaat, sei es durch den Steuerpflichtigen selbst oder durch Dritte.
65 Dass sich ein Mitgliedstaat, um Bankdaten seiner Steuerpflichtigen zu erlangen, nicht der in Art. 3 der Richtlinie 77/799 vorgesehenen Möglichkeit der automatischen Auskunftserteilung bedient, genügt entgegen dem Vorbringen von Frau Passenheim-van Schoot allein nicht, um ihm das Recht abzusprechen, auf diese Steuerpflichtigen je nachdem, ob sich ihre Sparguthaben in diesem Mitgliedstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine unterschiedliche Nachforderungsfrist anzuwenden. Da es Art. 3 der Richtlinie 77/799 den Mitgliedstaaten überlässt, eine regelmäßige und automatische Auskunftserteilung für Gruppen von Einzelfällen einzurichten, die sie im Rahmen des Konsultationsverfahrens nach Art. 9 der Richtlinie festlegen, räumt Art. 3 einem Mitgliedstaat nämlich nur die Befugnis ein, sich mit anderen Mitgliedstaaten in Verbindung zu setzen, um einen solchen Mechanismus zu schaffen, dessen Einrichtung damit von der Entscheidung dieser anderen Mitgliedstaaten abhängt.
66 Wurde ein Steuergegenstand in einem Mitgliedstaat den Steuerbehörden eines anderen Mitgliedstaats verschwiegen und hatten diese keinen Anhaltspunkt für seine Existenz, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubt hätte, hängt somit die Beantwortung der Frage, ob die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist durch den letztgenannten Mitgliedstaat ein verhältnismäßiges Mittel im Hinblick auf das Ziel darstellt, die Einhaltung der steuerrechtlichen Vorschriften zu gewährleisten, keineswegs von der Antwort auf die Frage ab, ob diese Frist dem Zeitraum entspricht, der für die Einholung von Auskünften von dem Mitgliedstaat, in dem sich der Steuergegenstand befindet, benötigt wird.
67 Da in einem solchen Fall nichts vorliegt, was die Einleitung von Ermittlungen gestattete, und infolgedessen die Inanspruchnahme eines Mechanismus der Auskunftserteilung ausscheidet, ist die längere Frist, die den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats für die Festsetzung der Steuer gewährt wird, wenn sich Steuergegenstände in einem anderen Mitgliedstaat befinden, so zu verstehen, dass sie nicht dazu dient, diesen Behörden die nötige Zeit zu verschaffen, um von dem anderen Mitgliedstaat Auskünfte über dortige Steuergegenstände einzuholen, sondern allein so, dass sie einen längeren Zeitraum eröffnen soll, in dem eine etwaige Entdeckung dieses Steuergegenstands noch zu einer Nachforderung führen kann, soweit die nach einer solchen Entdeckung aufgenommenen Ermittlungen diese Nachforderung ermöglichen, bevor der Zeitraum endet.
68 Da die Anwendung einer längeren Nachforderungsfrist durch einen Mitgliedstaat in Fällen, in denen sich ein Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet und die Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats dafür keinen Anhaltspunkt hatten, nicht dazu dient, diesen Behörden die Einholung von Auskünften von dem anderen Mitgliedstaat zu ermöglichen, ist im Übrigen die Frage unerheblich, ob in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt.
69 Zu dem Vorbringen, die Nachforderungsfrist gemäß Art. 16 Abs. 4 AWR sei willkürlich auf zwölf Jahre festgesetzt worden, ist festzustellen, dass im Rahmen der Verlängerung einer derartigen Frist für Fälle des Verschweigens von Steuergegenständen gegenüber den Steuerbehörden die von einem Mitgliedstaat getroffene Entscheidung, diese Frist zeitlich zu begrenzen und diese Grenze nach Maßgabe der Frist zu ziehen, die für die strafrechtliche Verfolgung wegen Steuerhinterziehung gilt, nicht unverhältnismäßig erscheint.
70 Unter diesen Umständen geht die Festlegung einer auf zwölf Jahre verlängerten Nachforderungsfrist für Steuergegenstände, die den Steuerbehörden verschwiegen worden sind, nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten und Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
71 Schließlich lässt sich einem Mitgliedstaat, der für in einem anderen Mitgliedstaat befindliche und seinen eigenen Steuerbehörden unbekannte Steuergegenstände eine längere Nachforderungsfrist vorsieht, nicht entgegenhalten, dass bei der Entdeckung von seinen Steuerbehörden gleichfalls verschwiegenen, aber im Inland befindlichen Steuergegenständen die Frist von fünf Jahren, in der diese Behörden eine Nachforderung stellen dürfen, nicht verlängert werden kann.
72 Auch wenn nämlich ein Steuerpflichtiger hinsichtlich seiner inländischen Guthaben und Einkünfte gegenüber den Steuerbehörden den gleichen Erklärungspflichten unterliegt wie hinsichtlich seiner ausländischen Guthaben und Einkünfte, ändert dies nichts daran, dass im Fall von Guthaben und Einkünften, die nicht Gegenstand eines Systems der automatischen Auskunftserteilung sind, das für einen Steuerpflichtigen bestehende Risiko, dass den Steuerbehörden seines Wohnmitgliedstaats verschwiegene Guthaben und Einkünfte aufgedeckt werden, im Fall von Guthaben und Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat geringer ist als im Fall inländischer Guthaben und Einkünfte.
73 Soweit ein Mitgliedstaat für Steuergegenstände, die den Steuerbehörden unbekannt waren, eine längere Nachforderungsfrist vorsieht, lässt sich ihm folglich nicht vorwerfen, dass er den Geltungsbereich dieser Frist auf Steuergegenstände beschränkt, die sich nicht in seinem Hoheitsgebiet befinden.
74 Die zweite Fallgestaltung entspricht einer Situation, in der die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats Anhaltspunkte für einen Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat besitzen, die ihnen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichen. In diesem Fall ließe es sich nicht rechtfertigen, dass der erstgenannte Mitgliedstaat eine längere Nachforderungsfrist anwendete, die nicht speziell dazu diente, seinen Steuerbehörden die sachdienliche Inanspruchnahme von Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe zwischen Mitgliedstaaten zu erlauben, und die eröffnet würde, wenn sich der Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet.
75 Verfügten nämlich, wie die Kläger der Ausgangsverfahren geltend machen, die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats über Anhaltspunkte, die es ihnen erlaubt hätten, sich mittels der in der Richtlinie 77/799 oder einer in bilateralen Abkommen vorgesehenen gegenseitigen Amtshilfe an die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu wenden, um von ihnen die erforderlichen Auskünfte zur richtigen Festsetzung des Steuerbetrags einzuholen, rechtfertigt allein die Tatsache, dass sich der betroffene Steuergegenstand in einem anderen Mitgliedstaat befindet, nicht die generelle Geltung einer zusätzlichen Nachforderungsfrist, die sich in keiner Weise nach der Zeit richtet, die benötigt wird, um diese Mechanismen der gegenseitigen Amtshilfe in sachdienlicher Weise in Anspruch zu nehmen.
76 Nach alledem sind die Art. 49 EG und 56 EG dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, wenn Sparguthaben und daraus bezogene Einkünfte seinen Steuerbehörden verschwiegen werden und diese für deren Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besitzen, nicht verwehren, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden, wenn sich diese Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, als dann, wenn sie sich im erstgenannten Mitgliedstaat befinden. Der Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt, ist insoweit unerheblich.
Zur dritten Frage in der Rechtssache C-155/08
77 Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C-155/08 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 EG und 56 EG, wenn sie der Anwendung einer Nachforderungsfrist durch einen Mitgliedstaat, die für Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat und daraus bezogene Einkünfte länger ist als für inländische Guthaben und Einkünfte, nicht entgegenstehen, dahin auszulegen sind, dass sie auch nicht einer wegen des Verschweigens der von der Nachforderung betroffenen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße entgegenstehen, die proportional nach dem Nachforderungsbetrag und damit nach Maßgabe eines längeren Zeitraums bemessen wird.
78 In seiner Vorlageentscheidung weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass wegen der den Steuerbehörden in Art. 67e AWR eingeräumten Befugnis, gegen den Steuerpflichtigen, der vorsätzlich oder grob fahrlässig zu wenig Steuer bezahlt hat, eine Geldbuße in Höhe von bis zu 100 % des ursprünglich nicht erhobenen Steuerbetrags festzusetzen, sich die Verlängerung der Nachforderungsfrist für ausländische Guthaben und Einkünfte im Betrag der festsetzbaren Geldbußen niederschlägt.
79 Nach Auffassung des Klägers des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-155/08 steht Art. 56 EG, selbst wenn das Gemeinschaftsrecht der Geltung einer Regelung wie Art. 16 Abs. 4 AWR nicht entgegenstehen sollte, doch der Anwendung einer Vorschrift entgegen, nach der infolge der Verlängerung der Nachforderungsfrist für ausländische Guthaben oder Einkünfte in einem solchen Fall eine höhere Geldbuße verhängt werden darf als im Fall inländischer Guthaben und Einkünfte.
80 Nach Ansicht der niederländischen, der belgischen und der italienischen Regierung hingegen hindern es die Verkehrsfreiheiten nicht, dass im Fall des Verschweigens ausländischer Guthaben oder Einkünfte, die Gegenstand einer Nachforderung sind, eine etwaige Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und damit nach dem längeren Zeitraum bemessen wird.
81 Die Kommission meint ihrerseits, dass dann, wenn die Geltung der längeren Nachforderungsfrist nicht den Art. 49 EG und 56 EG zuwiderlaufen sollte, das Gleiche für die unterschiedlichen Geldbußen gelten müsste, die nach niederländischem Steuerrecht im Fall inländischer Guthaben oder Einkünfte und im Fall von in einem anderen Mitgliedstaat vorhandenen Guthaben oder Einkünften verhängt werden.
82 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 67e Abs. 1 AWR bei einer zu niedrigen Steuerfestsetzung, die auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Steuerpflichtigen beruht, eine Geldbuße in Höhe von bis zu 100 % des Nachforderungsbetrags verhängt werden kann, ohne dass danach unterschieden wird, ob sich die von der Nachforderung betroffenen Guthaben in den Niederlanden oder in anderen Mitgliedstaaten befinden.
83 Entgegen dem Vorbringen des Klägers des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-155/08 ist daher die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung nicht mit der italienischen und der französischen Regelung vergleichbar, die Gegenstand der Urteile vom 25. Februar 1988, Drexl (299/86, Slg. 1988, 1213), und 2. August 1993, Kommission/Frankreich (C-276/91, Slg. 1993, I-4413), waren und die für Verstöße gegen die Vorschriften über die Mehrwertsteuer Sanktionen vorsahen, die in Fällen, in denen die Steuer für Einfuhren aus einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wurde, strenger waren als in Fällen, in denen sich die Steuer auf im Inland der betroffenen Mitgliedstaaten getätigte Geschäfte bezog.
84 Im Fall der in den Ausgangsverfahren fraglichen Regelung ist das für einen in den Niederlanden wohnenden Steuerpflichtigen bestehende Risiko, im Zusammenhang mit Guthaben und Einkünften in einem anderen Mitgliedstaat mit einer höheren Geldbuße belegt zu werden als im Fall inländischer Guthaben und Einkünfte, nur Folge des Umstands, dass der Zeitraum, der für die Bemessung der Nachforderung und damit für die Bemessungsgrundlage der Geldbuße berücksichtigt werden darf, bei ausländischen Guthaben und Einkünften länger sein kann als bei inländischen Guthaben und Einkünften, da für Letztere die längere Nachforderungsfrist nach Art. 16 Abs. 4 AWR nicht gilt.
85 Wie sich aus den Randnrn. 60 bis 73 des vorliegenden Urteils ergibt, verwehren es jedoch die Art. 49 EG und 56 EG einem Mitgliedstaat nicht, in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden als in Fällen, in denen sich Guthaben in dem fraglichen Mitgliedstaat selbst befinden, wenn es sich um Guthaben und Einkünfte handelt, die seinen Steuerbehörden verschwiegen wurden und für deren Existenz diese keinen Anhaltspunkt besaßen, der ihnen die Einleitung von Ermittlungen erlaubt hätte.
86 Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass die Art. 49 EG und 56 EG dahin auszulegen sind, dass sie dann, wenn ein Mitgliedstaat in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anwendet als in Fällen, in denen sich Guthaben im erstgenannten Mitgliedstaat befinden, und wenn diese ausländischen Guthaben sowie die daraus bezogenen Einkünfte den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats, die für ihre Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besaßen, verschwiegen wurden, einer Bemessung der wegen des Verschweigens dieser ausländischen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und nach Maßgabe dieses längeren Zeitraums nicht entgegenstehen.
Kosten
87 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat, wenn Sparguthaben und daraus bezogene Einkünfte seinen Steuerbehörden verschwiegen werden und diese für deren Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besitzen, nicht verwehren, eine längere Nachforderungsfrist anzuwenden, wenn sich diese Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, als dann, wenn sie sich im erstgenannten Mitgliedstaat befinden. Der Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat das Bankgeheimnis gilt, ist insoweit unerheblich.
2. Die Art. 49 EG und 56 EG sind dahin auszulegen, dass sie dann, wenn ein Mitgliedstaat in Fällen, in denen sich Guthaben in einem anderen Mitgliedstaat befinden, eine längere Nachforderungsfrist anwendet als in Fällen, in denen sich Guthaben im erstgenannten Mitgliedstaat befinden, und wenn diese ausländischen Guthaben sowie die daraus bezogenen Einkünfte den Steuerbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats, die für ihre Existenz keinen die Einleitung von Ermittlungen ermöglichenden Anhaltspunkt besaßen, verschwiegen wurden, einer Bemessung der wegen des Verschweigens dieser ausländischen Guthaben und Einkünfte verhängten Geldbuße proportional zu dem Nachforderungsbetrag und nach Maßgabe dieses längeren Zeitraums nicht entgegenstehen.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Niederländisch.