Rechtssache C-247/08
Gaz de France – Berliner Investissement SA
gegen
Bundeszentralamt für Steuern
(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Köln)
„Freier Kapitalverkehr – Befreiung von der Quellensteuer auf Gewinnausschüttungen an die Muttergesellschaft im Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft – Begriff ‚Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ – ‚Société par actions simplifiée‘ des französischen Rechts“
Leitsätze des Urteils
1. Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435
(Richtlinien 90/435, Art. 2 Buchst. a und Anhang I Buchst. f, und 2003/123 des Rates)
2. Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435
(Art. 43 EG und 56 EG; Richtlinie 90/435 des Rates, Art. 2 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 und Anhang I Buchst. f)
1. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs dahin auszulegen, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ nicht als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die Richtlinie 2003/123 geändert wurde.
Nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 ist „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ jede Gesellschaft, die eine der im Anhang der Richtlinie aufgeführten Formen aufweist. Die Technik, die im Anhang in den meisten Fällen und insbesondere in Buchst. f dieses Anhangs für die Gesellschaften französischen Rechts verwendet wird und die darin besteht, die Bezeichnungen der von der Richtlinie erfassten Rechtsformen aufzuzählen, ohne dass es eine Klausel gibt, die es ermöglicht, die Richtlinie auf andere nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten gegründete Gesellschaften anzuwenden, wobei in Bezug auf das französische Recht eine Ausnahme für staatliche Betriebe und Unternehmen besteht, bedeutet, dass die fraglichen Bezeichnungen abschließend aufgezählt werden.
Außerdem zielt die Richtlinie 90/435 nicht darauf ab, ein gemeinsames Steuersystem für alle Gesellschaften der Mitgliedstaaten oder für alle Arten von Beteiligungen einzuführen. Bei nicht unter diese Richtlinie fallenden Beteiligungen ist es Sache der Mitgliedstaaten, festzulegen, ob und in welchem Umfang die wirtschaftliche Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne vermieden werden soll, und dazu einseitig oder durch Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten Mechanismen zur Vermeidung oder Abschwächung dieser wirtschaftlichen Doppelbesteuerung einzuführen.
(vgl. Randnrn. 30, 32, 36-37, 44, Tenor 1)
2. Es gibt nichts, was die Gültigkeit von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs und mit Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie im Hinblick auf die Grundsätze der Niederlassungsfreiheit und des freien Kapitalverkehrs beeinträchtigen könnte.
Zwar obliegt die in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Verpflichtung zur Befreiung von jedem Steuerabzug an der Quelle den Mitgliedstaaten nur in Bezug auf die Gewinnausschüttungen an Gesellschaften, die als Gesellschaften im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden können, doch gestattet diese Richtlinie einem Mitgliedstaat nicht, an Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten, die nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, ausgeschüttete Gewinne ungünstiger zu behandeln als die an vergleichbare inländische Gesellschaften ausgeschütteten Gewinne.
Folglich ist eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 90/435 – wie sie sich aus ihrem Art. 2 Buchst. a und aus Buchst. f ihres Anhangs ergibt –, mit der andere Gesellschaften, die nach nationalem Recht gegründet werden können, von vornherein ausgeschlossen werden, nicht geeignet, die Niederlassungsfreiheit oder den freien Kapitalverkehr einzuschränken.
(vgl. Randnrn. 59, 61-63, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
1. Oktober 2009(*)
„Freier Kapitalverkehr – Befreiung von der Quellensteuer auf Gewinnausschüttungen an die Muttergesellschaft im Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft – Begriff ‚Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ – ‚Société par actions simplifiée‘ des französischen Rechts“
In der Rechtssache C-247/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Finanzgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. Mai 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juni 2008, in dem Verfahren
Gaz de France – Berliner Investissement SA
gegen
Bundeszentralamt für Steuern
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter M. Ilešič, A. Tizzano, E. Levits (Berichterstatter) und J.-J. Kasel,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. April 2009,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Gaz de France – Berliner Investissement SA, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Hackemann und H. von Cölln im Beistand von Wirtschaftsprüfer U. Witt,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch I. Bruni als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte im Beistand von K. Beal, Barrister,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2009
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6) in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs sowie die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit den Art. 43 EG, 48 EG, 56 EG und 58 EG.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gaz de France – Berliner Investissement SA, einer Gesellschaft mit Sitz in Frankreich, die bis zum Jahr 2002 die Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ (SAS) hatte, und dem Bundeszentralamt für Steuern wegen der Besteuerung der Ausschüttungen, die sie von der Gaz de France Deutschland GmbH mit Sitz in Deutschland im Steuerjahr 1999 erhielt.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Art. 2 der Richtlinie 90/435 lautet:
„Im Sinne dieser Richtlinie ist ‚Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ jede Gesellschaft,
a) die eine der im Anhang aufgeführten Formen aufweist;
b) die nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz als in diesem Staat ansässig und aufgrund eines mit einem dritten Staat geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz nicht als außerhalb der Gemeinschaft ansässig betrachtet wird;
c) die ferner ohne Wahlmöglichkeit einer der nachstehenden Steuern
…
– impôt sur les sociétés in Frankreich,
…
oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon befreit zu sein.“
4 Gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 sind die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne, zumindest wenn diese einen Anteil am Gesellschaftskapital der Tochtergesellschaft von wenigstens 25 % besitzt, vom Steuerabzug an der Quelle befreit.
5 Unter Buchst. f des mit „Liste der unter Artikel 2 Buchstabe a) fallenden Gesellschaften“ überschriebenen Anhangs der Richtlinie 90/435 sind folgende Gesellschaften aufgeführt:
„die Gesellschaften französischen Rechts mit der Bezeichnung: société anonyme, société en commandite par actions, société à responsabilité limitée sowie die staatlichen Industrie- und Handelsbetriebe und -unternehmen“.
6 Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 90/435 (ABl. 2004, L 7, S. 41) lautet:
„Artikel 2 der Richtlinie [90/435] legt fest, welche Gesellschaften in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Der Anhang enthält eine Liste der Gesellschaftsformen, für die die Richtlinie gilt. Bestimmte Rechtsformen sind nicht in der Liste im Anhang aufgeführt, obwohl die betreffenden Gesellschaften steuerlich in einem Mitgliedstaat ansässig sind und dort der Körperschaftsteuer unterliegen. Daher sollte der Anwendungsbereich der Richtlinie [90/435] auf weitere Körperschaften, die in der Gemeinschaft grenzüberschreitend tätig sein können und alle Voraussetzungen der Richtlinie erfüllen, ausgedehnt werden.“
7 Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 2003/123 sieht vor, dass der Anhang der Richtlinie 90/435 durch den Wortlaut des Anhangs der Richtlinie 2003/123 ersetzt wird. Nach dieser Änderung lautet der neue Buchst. f des Anhangs der Richtlinie 90/435:
„die Gesellschaften französischen Rechts mit der Bezeichnung ‚société anonyme‘, ‚société en commandite par actions‘ und ‚société à responsabilité limitée‘ sowie die ‚sociétés par actions simplifiées‘, ‚sociétés d’assurances mutuelles‘, ‚caisses d’épargne et de prévoyance‘, ‚sociétés civiles‘, die automatisch der Körperschaftsteuer unterliegen, ‚coopératives‘, ‚unions de coopératives‘, die öffentlichen Industrie- und Handelsbetriebe und -unternehmen und andere nach französischem Recht gegründete Gesellschaften, die der französischen Körperschaftsteuer unterliegen“.
8 Nach Art. 2 der Richtlinie 2003/123 war diese bis spätestens 1. Januar 2005 in das Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen.
Nationales Recht
9 § 44d des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1999 sieht in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung vor:
„(1) Auf Antrag wird die Kapitalertragsteuer für Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 …, die einer Muttergesellschaft, die weder ihren Sitz noch ihre Geschäftsleitung im Inland hat, aus Ausschüttungen einer unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Körperschaftsteuergesetzes oder aus der Vergütung von Körperschaftsteuer zufließen, nicht erhoben.
(2) Muttergesellschaft im Sinne des Abs. 1 ist eine Gesellschaft, die die in der Anlage 7 zu diesem Gesetz bezeichneten Voraussetzungen des Art. 2 der Richtlinie [90/435] erfüllt und die im Zeitpunkt der Entstehung der Kapitalertragsteuer gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 nachweislich mindestens zu einem Viertel unmittelbar am Nennkapital der unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft beteiligt ist. Weitere Voraussetzung ist, dass die Beteiligung nachweislich ununterbrochen zwölf Monate besteht. …“
10 Anlage 7 zum EStG 1999 sieht vor:
„Gesellschaft im Sinne des Artikels 2 der … Richtlinie [90/435] ist jede Gesellschaft, die
1. eine der aufgeführten Formen aufweist:
…
– Gesellschaften französischen Rechts mit der Bezeichnung:
société anonyme, société en commandite par actions, société à responsabilité limitée sowie die staatlichen Industrie- und Handelsbetriebe und -unternehmen;
…
2. nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz als in diesem Staat ansässig und auf Grund eines mit einem dritten Staat geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz nicht als außerhalb der Gemeinschaft ansässig betrachtet wird und
3. ohne Wahlmöglichkeit einer der nachstehenden Steuern
…
– impôt sur les sociétés in Frankreich,
oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon befreit zu sein.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
11 Am 16. Juni 1999 schüttete die Gaz de France Deutschland GmbH, deren sämtliche Anteile die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält, an diese einen Gewinn in Höhe von 980 387,00 DM aus, wobei sie Kapitalertragsteuer in Höhe von 49 019,35 DM sowie einen Solidaritätszuschlag in Höhe von 2 696,06 DM einbehielt und an das zuständige Finanzamt abführte.
12 Am 16. August 1999 stellte die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Bundesamt für Finanzen, seit dem 1. Januar 2006 Bundeszentralamt für Steuern, einen Antrag auf Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer inklusive Solidaritätszuschlag.
13 Mit Bescheid vom 6. September 1999 lehnte der Beklagte des Ausgangsverfahrens die beantragte Erstattung mit der Begründung ab, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens keine Muttergesellschaft im Sinne von § 44d Abs. 2 EStG 1999 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 90/435 sei.
14 Nach der Zurückweisung des gegen diesen Bescheid eingelegten Einspruchs erhob die Klägerin des Ausgangsverfahrens Klage vor dem Finanzgericht Köln; dieses ist der Ansicht, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach dem Wortlaut der Richtlinie 90/435 keinen Anspruch auf Erstattung der Kapitalertragsteuer habe, da sie im Jahr der Ausschüttung keine der in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs genannten Gesellschaftsformen aufgewiesen habe.
15 Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob eine Beschränkung auf die Auslegung des Wortlauts der Richtlinie 90/435 angebracht ist. Zu berücksichtigen seien auch ihr Zweck und die Tatsache, dass zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens die Rechtsform der „société par actions simplifiée“ im französischen Recht noch nicht existiert habe und dass diese Gesellschaftsform durch die Richtlinie 2003/123 in den Anhang der Richtlinie 90/435 aufgenommen worden sei.
16 Daher stelle sich in der bei ihm anhängigen Rechtssache die Frage, ob nicht in Art. 2 Buchst. a in Verbindung mit Buchst. f des Anhangs der Richtlinie 90/435 eine planwidrige Regelungslücke im Wege der Analogie dadurch geschlossen werden könne, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ bereits in den Jahren vor 2005 als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne der Richtlinie 90/435 angesehen werde, und ob Art. 2 Buchst. a der Richtlinie in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs unter Umständen gegen die Art. 43 EG und 48 EG oder die Art. 56 EG und 58 EG verstoße.
17 Angesichts dessen hat das Finanzgericht Köln das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 2 Buchst. a in Verbindung mit dem Anhang Buchst. f der Richtlinie 90/435 dahin gehend auszulegen, dass auch eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ bereits in den Jahren vor 2005 als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden kann und ihr somit für einen von ihrer deutschen Tochtergesellschaft im Jahr 1999 ausgeschütteten Gewinn nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle zu gewähren ist?
2. Für den Fall, dass die Frage 1 zu verneinen ist:
Verstößt Art. 2 Buchst. a in Verbindung mit dem Anhang Buchst. f der Richtlinie 90/435 insoweit gegen Art. 43 EG und Art. 48 EG oder Art. 56 Abs. 1 EG und Art. 58 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 EG, als er in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 zwar für eine französische Muttergesellschaft in der Rechtsform einer société anonyme, société en commandite par actions oder société à responsabilité limitée, nicht aber für eine französische Muttergesellschaft in der Rechtsform einer société par actions simplifiée bei Gewinnausschüttungen einer deutschen Tochtergesellschaft eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle vorschreibt?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
18 Die italienische Regierung hat Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, da es keine Angaben zur Struktur und Rechtsnatur der „société par actions simplifiée“ oder der anderen Gesellschaftsformen enthalte, mit denen diese verglichen werde. Ohne solche Angaben sei es aber nicht möglich, die Gesichtspunkte zu beurteilen, auf die das vorlegende Gericht seine Prämisse stütze, dass die „société par actions simplifiée“ Merkmale aufweise, die denen der Gesellschaften französischen Rechts entsprächen, deren Ausschüttungen nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 stets vom Steuerabzug an der Quelle befreit gewesen seien; folglich könne die Relevanz des Vorabentscheidungsersuchens für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht beurteilt werden.
19 Insoweit ist daran zu erinnern, dass es zwar nach der Verteilung der Zuständigkeiten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens allein Sache des nationalen Gerichts ist, den Gegenstand der Fragen festzulegen, die es dem Gerichtshof vorlegen möchte, doch hat dieser auch entschieden, dass es ihm in Ausnahmefällen obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wird (vgl. u. a. Urteil vom 18. Dezember 2007, ZF Zefeser, C-62/06, Slg. 2007, I-11995, Randnr. 14).
20 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Randnr. 39, vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C-94/04 und C-202/04, Slg. 2006, I-11421, Randnr. 25, und vom 8. November 2007, Amurta, C-379/05, Slg. 2007, I-9569, Randnr. 64). Die Notwendigkeit, zu einer für das nationale Gericht nützlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gelangen, macht es nämlich erforderlich, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen (vgl. u. a. Urteil vom 23. März 2006, Enirisorse, C-237/04, Slg. 2006, I-2843, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Die Angaben in der Vorlageentscheidung müssen nicht nur dem Gerichtshof gestatten, sachdienliche Antworten zu geben, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit eröffnen, Erklärungen nach Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs abzugeben. Der Gerichtshof hat darauf zu achten, dass diese Möglichkeit gewahrt wird, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Beteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (vgl. u. a. Urteil Enirisorse, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung aber eine hinreichende Darlegung des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits sowie die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht eine Beantwortung der gestellten Fragen für erforderlich hält, so dass der Gerichtshof in die Lage versetzt wird, diese Fragen sachdienlich zu beantworten. Aus den Erklärungen, die die deutsche und die italienische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften abgegeben haben, ergibt sich im Übrigen, dass die im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Informationen es ihnen ermöglicht haben, sachdienlich zu den dem Gerichtshof gestellten Fragen Stellung zu nehmen.
23 Unter diesen Umständen führt das Fehlen einer eingehenden Beschreibung der Vorschriften über die „sociétés par actions simplifiées“ und der Regelung für die übrigen Gesellschaften französischen Rechts nicht zur Unzulässigkeit des Ersuchens, zumal der Gerichtshof jedenfalls nicht für die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften zuständig ist.
24 Nach alledem sind die Vorlagefragen zu beantworten.
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage
25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs dahin auszulegen ist, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die Richtlinie 2003/123 geändert wurde.
26 Bei der Beantwortung dieser Frage sind der Wortlaut der Bestimmung, um deren Auslegung ersucht wird, sowie die Ziele und das System der Richtlinie 90/435 zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 1996, Denkavit u. a., C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Slg. 1996, I-5063, Randnrn. 24 und 26, vom 8. Juni 2000, Epson Europe, C-375/98, Slg. 2000, I-4243, Randnrn. 22 und 24, sowie vom 3. April 2008, Banque Fédérative du Crédit Mutuel, C-27/07, Slg. 2008, I-2067, Randnr. 22).
27 Wie sich insbesondere aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, bezweckt die Richtlinie 90/435, durch die Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats zu beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene zu erleichtern (Urteile Denkavit u. a., Randnr. 22, und Epson Europe, Randnr. 20, Urteile vom 4. Oktober 2001, Athinaïki Zythopoiïa, C-294/99, Slg. 2001, I-6797, Randnr. 25, und vom 25. September 2003, Océ van der Grinten, C-58/01, Slg. 2003, I-9809, Randnr. 45, und Urteil Banque Fédérative du Crédit Mutuel, Randnr. 23). Die Richtlinie 90/435 soll damit sicherstellen, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind (Urteil Banque Fédérative du Crédit Mutuel, Randnr. 24).
28 Nach ihrem Art. 1 gilt die Richtlinie 90/435 für Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften eines Mitgliedstaats von ihren Tochtergesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten zufließen.
29 Art. 2 der Richtlinie 90/435 legt fest, unter welchen Voraussetzungen eine Gesellschaft als Gesellschaft eines Mitgliedstaats im Sinne der Richtlinie anzusehen ist, und regelt damit ihren Anwendungsbereich. Diese Voraussetzungen sind, wie der Generalanwalt in Nr. 27 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kumulativ.
30 Nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 ist „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ jede Gesellschaft, die eine der im Anhang der Richtlinie aufgeführten Formen aufweist.
31 Im Anhang der Richtlinie 90/435 werden zwei verschiedene Techniken herangezogen, um die in ihren Anwendungsbereich fallenden Gesellschaften zu bezeichnen. Während in den Buchst. k und l dieses Anhangs mit den Formulierungen „die Gesellschaften portugiesischen Rechts in Form von Handelsgesellschaften oder zivilrechtlichen Handelsgesellschaften sowie Genossenschaften und öffentliche Unternehmen“ und „die nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründeten Gesellschaften“ Generalklauseln Verwendung finden, sind in den übrigen Fällen die Bezeichnungen der erfassten Rechtsformen ausdrücklich angegeben.
32 Die letztgenannte Technik, die im Anhang der Richtlinie 90/435 in den meisten Fällen und insbesondere in Buchst. f dieses Anhangs für die Gesellschaften französischen Rechts verwendet wird und die darin besteht, die Bezeichnungen der von der Richtlinie erfassten Rechtsformen aufzuzählen, ohne dass es eine Klausel gibt, die es ermöglicht, die Richtlinie auf andere nach dem Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten gegründete Gesellschaften anzuwenden, wobei in Bezug auf das französische Recht eine Ausnahme für staatliche Betriebe und Unternehmen besteht, bedeutet, dass die fraglichen Bezeichnungen abschließend aufgezählt werden.
33 Wie sich somit sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 und von Buchst. f ihres Anhangs ergibt, muss eine Gesellschaft französischen Rechts, ausgenommen staatliche Industrie- und Handelsbetriebe und -unternehmen, zwingend eine der in Buchst. f des Anhangs der Richtlinie abschließend aufgezählten Rechtsformen aufweisen, also eine „société anonyme“, „société en commandite par actions“ oder „société à responsabilité limitée“ sein, um als Gesellschaft eines Mitgliedstaats im Sinne der Richtlinie angesehen werden zu können.
34 Dieses Ergebnis kann nicht durch das Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Kommission in Frage gestellt werden, wonach die Liste der Gesellschaften in Buchst. f des Anhangs der Richtlinie 90/435 nur beispielhaft sei und allein dazu diene, Probleme zu vermeiden, die sich aus Qualifikationskonflikten ergeben könnten, wenn eine Gesellschaft von einem Mitgliedstaat steuerlich als Kapitalgesellschaft behandelt und der Körperschaftsteuer unterstellt werde, während ein anderer Mitgliedstaat diese Gesellschaft als Personengesellschaft einstufe, die nicht der Körperschaftsteuer unterliege, weshalb einige Mitgliedstaaten beim Erlass der Richtlinie 90/435 die Personengesellschaften von ihrem Anwendungsbereich hätten ausnehmen wollen.
35 Die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Kommission vertretene Auslegung könnte zwar den im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 90/435 zum Ausdruck kommenden Zielen entsprechen, da sie zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf eine größere Zahl von Gesellschaften führen und damit zur Beseitigung einer Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats beitragen und den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtern würde.
36 Wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zielt die Richtlinie 90/435 jedoch nicht darauf ab, ein gemeinsames Steuersystem für alle Gesellschaften der Mitgliedstaaten oder für alle Arten von Beteiligungen einzuführen.
37 Bei nicht unter die Richtlinie 90/435 fallenden Beteiligungen ist es nämlich Sache der Mitgliedstaaten, festzulegen, ob und in welchem Umfang die wirtschaftliche Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne vermieden werden soll, und dazu einseitig oder durch Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten Mechanismen zur Vermeidung oder Abschwächung dieser wirtschaftlichen Doppelbesteuerung einzuführen (vgl. Urteil vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, C-374/04, Slg. 2006, I-11673, Randnr. 54, und Urteil Amurta, Randnr. 24).
38 Die Richtlinie 90/435 schränkt somit die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Besteuerung von Gewinnen ein, die in ihrem Hoheitsgebiet ansässige Gesellschaften an Gesellschaften mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ausschütten, die unter die Richtlinie fallen. Unter diesen Umständen stehen aber die Erfordernisse des fundamentalen Grundsatzes der Rechtssicherheit einer Auslegung entgegen, nach der die Liste der Gesellschaften in Buchst. f des Anhangs der Richtlinie nur Beispielcharakter hätte, wenn sich eine solche Auslegung nicht aus ihrem Wortlaut oder aus der Systematik der Richtlinie 90/435 ergibt.
39 Die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Kommission vertretene Auslegung lässt sich auch nicht aus der von einigen Mitgliedstaaten beim Erlass der Richtlinie 90/435 möglicherweise geäußerten Absicht herleiten, nur Personengesellschaften vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Denn von den Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union dargelegte Beweggründe sind rechtlich ohne Bedeutung, wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben. Diese richten sich nämlich an die Einzelnen, die sich gemäß den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit auf ihren Inhalt verlassen können müssen (Urteil Denkavit u. a., Randnr. 29).
40 Die Auslegung, dass die „société par actions simplifiée“ nicht seit ihrer Aufnahme in das französische Recht als von der Richtlinie 90/435 erfasst angesehen werden kann, wird zudem durch die Entwicklungen bei der Rechtsetzung und insbesondere durch die Richtlinie 2003/123 gestützt.
41 Zum einen wird im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/123 festgestellt, dass der Anhang der Richtlinie 90/435 eine Liste der Gesellschaftsformen enthält, für die diese Richtlinie gilt, und dass bestimmte Rechtsformen nicht in der Liste in diesem Anhang aufgeführt sind, obwohl die betreffenden Gesellschaften steuerlich in einem Mitgliedstaat ansässig sind und dort der Körperschaftsteuer unterliegen. Weiter heißt es dort, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 90/435 daher auf weitere Körperschaften, die in der Gemeinschaft grenzüberschreitend tätig sein können und alle Voraussetzungen der Richtlinie erfüllen, ausgedehnt werden sollte.
42 Zum anderen sieht Art. 1 Nr. 6 der Richtlinie 2003/123 vor, dass der Anhang der Richtlinie 90/435 durch den Wortlaut des Anhangs der Richtlinie 2003/123 ersetzt wird. Nach der Änderung des Anhangs der Richtlinie 90/435 durch die Richtlinie 2003/123 ist in Buchst. f dieses Anhangs die „société par actions simplifiée“ aufgeführt, und er enthält, um insbesondere der Entwicklung des innerstaatlichen Rechts Rechnung zu tragen, eine Bestimmung, wonach sich der Anwendungsbereich der Richtlinie 90/435 auch auf andere nach französischem Recht gegründete Gesellschaften, die der französischen Körperschaftsteuer unterliegen, erstreckt.
43 Schließlich kann entgegen dem Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und der Kommission, da die von der Richtlinie 90/435 erfassten Gesellschaftsformen des französischen Rechts in Buchst. f ihres Anhangs abschließend aufgezählt werden, die Anwendung dieser Richtlinie nicht im Wege der Analogie auf andere Arten von Gesellschaften wie z. B. die „société par actions simplifiée“ des französischen Rechts ausgedehnt werden, mögen sie auch vergleichbar sein.
44 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs dahin auszulegen ist, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ nicht als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die Richtlinie 2003/123 geändert wurde.
Zur zweiten Frage
45 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs insoweit mit den Art. 43 EG und 48 EG oder den Art. 56 Abs. 1 EG und 58 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 EG unvereinbar ist, als er in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie zwar für eine Muttergesellschaft französischen Rechts in der Rechtsform einer „société anonyme“, einer „société en commandite par actions“ oder einer „société à responsabilité limitée“, nicht aber für eine Muttergesellschaft französischen Rechts in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ bei Gewinnausschüttungen einer Tochtergesellschaft deutschen Rechts eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle vorschreibt.
46 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens trägt hierzu vor, der Ausschluss der „société par actions simplifiée“ vom Anwendungsbereich der Richtlinie 90/435 führe zu ihrer willkürlichen Benachteiligung gegenüber der „société anonyme“ oder der „société à responsabilité limitée“ des französischen Rechts sowie den für andere Mitgliedstaaten in der Richtlinie aufgeführten Rechtsformen der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die „société par actions simplifiée“ wäre unter anderem deshalb eindeutig benachteiligt, weil im deutschen Recht nicht geklärt sei, wie eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Belastung mit Kapitalertragsteuer außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 90/435 verfahrensrechtlich geltend zu machen sei.
47 Dagegen sehen die deutsche und die italienische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission keinen Grund, die Gültigkeit der Richtlinie 90/435 in Zweifel zu ziehen. Zum einen verböten die Grundfreiheiten die Anwendung von Quellensteuern als solche nicht und stünden auch einer Doppelbesteuerung nicht entgegen, die sich aus der parallelen Ausübung der Steuerkompetenzen zweier Mitgliedstaaten ergebe. Zum anderen habe der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Harmonisierung und Angleichung der Rechtsvorschriften ein weites Ermessen. Die Beschränkung von Harmonisierungs- oder Angleichungsmaßnahmen auf bestimmte Bereiche könne daher an sich keine Rechtswidrigkeit begründen.
48 Die italienische Regierung fügt hinzu, da die „société par actions simplifiée“ nach Inkrafttreten der Richtlinie 90/435 eingeführt worden sei, könne die Richtlinie nicht wegen der fehlenden Berücksichtigung dieser Gesellschaftsform als ungültig angesehen werden, denn Mängel, die die Ungültigkeit eines Aktes bewirkten, müssten bereits zu dem Zeitpunkt vorliegen, zu dem er ergehe. Man könne sich allenfalls fragen, ob die „société par actions simplifiée“ durch die Richtlinie 2003/123 nicht rückwirkend in die Liste im Anhang der Richtlinie 90/435 hätte aufgenommen werden sollen. Es stehe jedoch voll und ganz im Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers, den Anhang der Richtlinie 90/435 zu ergänzen und die Wirkungen der Aufnahme dieser Gesellschaftsform in den Anhang zeitlich zu begrenzen, indem er vorsehe, dass ihre Aufnahme keine Rückwirkung habe.
49 Insoweit ist daran zu erinnern, dass bei der Beurteilung der Gültigkeit eines Aktes, die der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorzunehmen hat, normalerweise von der zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Aktes bestehenden Lage auszugehen ist (Urteil vom 17. Juli 1997, SAM Schiffahrt und Stapf, C-248/95 und C-249/95, Slg. 1997, I-4475, Randnr. 46).
50 Selbst wenn man annimmt, dass die Gültigkeit eines Aktes in bestimmten Fällen anhand neuer, nach seinem Erlass eingetretener Gesichtspunkte beurteilt werden kann (Urteil SAM Schiffahrt und Stapf, Randnr. 47), besteht im vorliegenden Fall kein Anlass zu einer solchen Beurteilung.
51 Zwar wurde die „société par actions simplifiée“ erst nach Erlass der Richtlinie 90/435 in das französische Recht aufgenommen, doch folgt aus der Antwort auf die erste Frage, dass der Anwendungsbereich dieser Richtlinie in Bezug auf Gesellschaften französischen Rechts durch eine Aufzählung der von der Richtlinie erfassten Rechtsformen festgelegt wurde, ohne dass es eine Klausel gab, die es ermöglichte, die Richtlinie auf andere nach französischem Recht gegründete Gesellschaften anzuwenden.
52 Nach ständiger Rechtsprechung steht es den Gemeinschaftsorganen frei, einen Bereich nur schrittweise zu harmonisieren oder nationale Rechtsvorschriften nur in Etappen anzugleichen. Die Durchführung solcher Maßnahmen ist nämlich im Allgemeinen schwierig, da sie voraussetzt, dass die zuständigen Gemeinschaftsorgane anhand von unterschiedlichen und komplexen nationalen Bestimmungen gemeinsame Vorschriften ausarbeiten, die den im EG-Vertrag festgelegten Zielen entsprechen und die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Rates oder, wie im steuerlichen Bereich, sogar deren einstimmige Zustimmung finden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Februar 1984, Rewe-Zentrale, 37/83, Slg. 1984, 1229, Randnr. 20, vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C-233/94, Slg. 1997, I-2405, Randnr. 43, und vom 17. Juni 1999, Socridis, C-166/98, Slg. 1999, I-3791, Randnr. 26).
53 Zu prüfen ist jedoch, ob eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 90/435 – wie sie sich aus ihrem Art. 2 Buchst. a und aus Buchst. f ihres Anhangs ergibt –, mit der andere Gesellschaften, die nach nationalem Recht gegründet werden können, von vornherein ausgeschlossen werden, als Verstoß gegen die Artikel des Vertrags angesehen werden kann, die die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr gewährleisten.
54 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst die Niederlassungsfreiheit der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen unter den Voraussetzungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Niederlassung für dessen eigene Angehörigen aufgestellt werden. Die Aufhebung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit erstreckt sich auch auf Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig sind (vgl. u. a. Urteile vom 28. Januar 1986, Kommission/Frankreich, 270/83, Slg. 1986, 273, Randnr. 13, vom 29. April 1999, Royal Bank of Scotland, C-311/97, Slg. 1999, I-2651, Randnr. 22, und vom 23. Februar 2006, CLT-UFA, C-253/03, Slg. 2006, I-1831, Randnr. 13).
55 Auch wenn die Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit nach ihrem Wortlaut die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, verbieten sie es doch nach ständiger Rechtsprechung ebenfalls, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert (vgl. u. a. Urteile vom 16. Juli 1998, ICI, C-264/96, Slg. 1998, I-4695, Randnr. 21, vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C-196/04, Slg. 2006, I-7995, Randnr. 42, vom 6. Dezember 2007, Columbus Container Services, C-298/05, Slg. 2007, I-10451, Randnr. 33, und vom 15. Mai 2008, Lidl Belgium, C-414/06, Slg. 2008, I-3601, Randnr. 19).
56 Wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bezweckt die Richtlinie 90/435, durch die Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats zu beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene zu erleichtern (Urteil Banque Fédérative du Crédit Mutuel, Randnr. 23, und Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 28).
57 Um das Ziel zu erreichen, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind, soll mit der Richtlinie 90/435 verhindert werden, dass es zu einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung dieser Gewinne kommt, dass also die ausgeschütteten Gewinne ein erstes Mal bei der Tochtergesellschaft und ein zweites Mal bei der Muttergesellschaft erfasst werden (vgl. Urteile Banque Fédérative du Crédit Mutuel, Randnrn. 24 und 27, und Cobelfret, Randnr. 29).
58 Zu diesem Zweck schreibt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 den Mitgliedstaaten vor, die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne vom Steuerabzug an der Quelle zu befreien, wenn die Muttergesellschaft einen Anteil am Gesellschaftskapital der Tochtergesellschaft von wenigstens 25 % besitzt.
59 Auch wenn die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 90/435 hierzu nur in Bezug auf die Gewinnausschüttungen an Gesellschaften verpflichtet sind, die als Gesellschaften im Sinne der Richtlinie angesehen werden können, genügt die Feststellung, dass die Richtlinie einem Mitgliedstaat nicht gestattet, an Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten, die nicht in ihren Anwendungsbereich fallen, ausgeschüttete Gewinne ungünstiger zu behandeln als die an vergleichbare inländische Gesellschaften ausgeschütteten Gewinne.
60 Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass es zwar für nicht von der Richtlinie 90/435 erfasste Beteiligungen den Mitgliedstaaten obliegt, festzulegen, ob und in welchem Umfang die wirtschaftliche Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne vermieden werden soll, und dazu einseitig oder durch Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten Mechanismen zur Vermeidung oder Abschwächung dieser wirtschaftlichen Doppelbesteuerung einzuführen, doch erlaubt dieser bloße Umstand es ihnen nicht, Maßnahmen anzuwenden, die gegen die vom Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten verstoßen (vgl. Urteile Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, Randnr. 54, und Amurta, Randnr. 24, sowie Urteil vom 18. Juni 2009, Aberdeen Property Fininvest Alpha, C-303/07, Slg. 2009, I-0000, Randnr. 28).
61 Folglich ist eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 90/435 – wie sie sich aus ihrem Art. 2 Buchst. a und aus Buchst. f ihres Anhangs ergibt –, mit der andere Gesellschaften, die nach nationalem Recht gegründet werden können, von vornherein ausgeschlossen werden, nicht geeignet, die Niederlassungsfreiheit einzuschränken.
62 Der in der vorstehenden Randnummer gezogene Schluss gilt auch für die Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr.
63 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass ihre Prüfung nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs und mit Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie beeinträchtigen könnte.
Kosten
64 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs dahin auszulegen, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer „société par actions simplifiée“ nicht als „Gesellschaft eines Mitgliedstaats“ im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 geändert wurde.
2. Die Prüfung der zweiten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs und mit Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie beeinträchtigen könnte.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.