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Rechtssache C-3/09

Erotic Center BVBA

gegen

Belgische Staat

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Gent)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 12 Abs. 3 Buchst. a – Anhang H – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Begriff der ‚Eintrittsberechtigung zu einem Kino‘ – Einzelkabine zur Betrachtung von zur Auswahl stehenden Filmen“

Leitsätze des Urteils

Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befugnis der Mitgliedstaaten, auf bestimmte Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden

(Richtlinie 77/388 des Rates, Anhang H Kategorie 7 Abs. 1)

Die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ in Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in der durch die Richtlinie 2001/4 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie sich nicht auf die Zahlung eines Verbrauchers zu dem Zweck bezieht, allein in einem zur alleinigen Nutzung überlassenen Raum, wie Einzelfilmkabinen, einen oder mehrere Filme oder Filmausschnitte betrachten zu können.

Denn abgesehen davon, dass die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung auszulegen ist, haben die in dem genannten Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 im Einzelnen aufgezählten Ereignisse und Einrichtungen insbesondere gemeinsam, dass sie der Öffentlichkeit aufgrund vorhergehender Bezahlung eine Eintrittsberechtigung gewähren, die alle zahlenden Personen berechtigt, gemeinsam die diesen Ereignissen und Einrichtungen eigenen kulturellen Leistungen wie auch die ihnen eigene Unterhaltung in Anspruch zu nehmen.

(vgl. Randnrn. 16, 17 und 19 sowie Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

18. März 2010(*)

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 12 Abs. 3 Buchst. a – Anhang H – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Begriff der ‚Eintrittsberechtigung zu einem Kino‘ – Einzelkabine zur Betrachtung von zur Auswahl stehenden Filmen“

In der Rechtssache C-3/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Hof van beroep te Gent (Belgien) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Januar 2009, in dem Verfahren

Erotic Center BVBA

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin C. Toader sowie der Richter K. Schiemann (Berichterstatter) und P. Kūris,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Januar 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Erotic Center BVBA, vertreten durch J. van Besien, advocaat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und W. Roels als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffs „Kino“ in Anhang H Kategorie 7 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2001/4/EG des Rates vom 19. Januar 2001 (ABl. L 22, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Erotic Center BVBA (im Folgenden: Erotic Center) und dem belgischen Staat über die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Einnahmen, die Erotic Center aus der Benutzung von in den Räumen dieser Gesellschaft befindlichen Einzelkabinen zur Betrachtung von Filmen erzielt.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie heißt es:

„Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird von jedem Mitgliedstaat auf einen bestimmten Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.

Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze werden als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der nicht niedriger als 5 % sein darf, und sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.“

4        Anhang H („Verzeichnis der Gegenstände und Dienstleistungen, auf die ermäßigte MwSt.-Sätze angewandt werden können“) der Sechsten Richtlinie zählt verschiedene Kategorien auf. Kategorie 7 dieses Anhangs lautet:

„Eintrittsberechtigung für Veranstaltungen, für Theater, Zirkus, Jahrmärkte, Vergnügungsparks, Konzerte, Museen, Tierparks, Kinos und Ausstellungen sowie ähnliche kulturelle Ereignisse und Einrichtungen.

Empfang von Rundfunk- und Fernsehprogrammen.“

 Nationales Recht

5        Art. 1 Abs. 1 des Königlichen Erlasses Nr. 20 vom 20. Juli 1970 zur Festsetzung der Mehrwertsteuersätze und zur Einstufung der Gegenstände und Dienstleistungen nach diesen Sätzen (im Folgenden: Königliche Verordnung Nr. 20) sieht vor, dass die Mehrwertsteuer für die in Tabelle A des Anhangs dieser Verordnung bezeichneten Gegenstände und Dienstleistungen mit dem ermäßigten Steuersatz von 6 % erhoben wird.

6        In Rubrik XXVIII der genannten Tabelle A sind folgende Dienstleistungen aufgeführt:

„Einräumung der Eintrittsberechtigung für Einrichtungen der Kultur, des Sports oder der Unterhaltung sowie Einräumung der Berechtigung, diese Einrichtungen zu benutzen, ausgenommen

a)      die Einräumung der Berechtigung, Vergnügungsautomaten zu benutzen;

b)      die Überlassung beweglicher Güter.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7        Am 15. September 2004 führte die Steuerbehörde in den Räumen von Erotic Center eine Steuerprüfung im Hinblick auf die Anwendung der Mehrwertsteuerregelung für den Zeitraum vom 1. Januar 2004 bis zum 30. Juni 2004 durch. Aufgrund dieser Steuerprüfung erließ die Behörde am 9. November 2004 einen Neufestsetzungsbescheid zulasten von Erotic Center mit der Begründung, diese habe auf die Einnahmen aus dem Zurverfügungstellen der Filmkabinen zu Unrecht den ermäßigten Steuersatz von 6 % anstatt des normalen Steuersatzes von 21 % angewandt. Erotic Center wurde daher zur Zahlung von 48 454,36 Euro angeblich hinterzogener Mehrwertsteuer und eines Bußgelds in Höhe von 4 840 Euro aufgefordert.

8        Am 24. Dezember 2004 wurde Erotic Center ein Mahnbescheid über die genannten Beträge zugestellt, woraufhin sie am 22. März 2005 bei der Rechtbank van eerste aanleg te Brugge Klage auf Nichtigerklärung dieses Mahnbescheids erhob. Nachdem die Klage mit Urteil vom 10. September 2007 abgewiesen worden war, legte Erotic Center gegen dieses Urteil beim Hof van beroep te Gent Berufung ein.

9        Vor dem Berufungsgericht vertritt Erotic Center die Auffassung, dass die fraglichen Filmkabinen u. a. deshalb zur Kategorie der „Einrichtungen der Kultur, des Sports oder der Unterhaltung“ im Sinne von Tabelle A Rubrik XXVIII des Anhangs des Königlichen Erlasses Nr. 20 gehörten, weil derartige Kabinen als „Kino“ im Sinne von Anhang H Kategorie 7 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie zu qualifizieren seien, wie dies im Übrigen bereits von der niederländischen Rechtsprechung entschieden worden sei. Die Zahl der Sitzplätze, die Art der vorgeführten Filme oder die Technik der Filmvorführung seien für diese Qualifizierung unerheblich.

10      Die belgische Regierung vertritt hingegen die Auffassung, die in diesen Kabinen erbrachten Dienstleistungen unterfielen dem Begriff der „Vergnügungsautomaten“ im Sinne der genannten Rubrik XXVIII, da die Filmprojektion durch Münzeinwurf in ein Gerät gestartet werde und die Filme gewechselt werden könnten. Derartige Kabinen könnten nicht als „Kino“ qualifiziert werden, da es sich dabei nicht um Räume handle, in denen eine Gruppe von Personen gemeinsam einen einzigen bestimmten Film ansehen könne, dessen Projektion ohne Zutun der Zuschauer, die im Übrigen bereits im Voraus eine entsprechende Eintrittsberechtigung erworben hätten, gestartet werde.

11      Das vorlegende Gericht führt aus, der belgische Gesetzgeber habe mit der Verabschiedung von Tabelle A Rubrik XXVIII des Anhangs des Königlichen Erlasses Nr. 20 von der in Art. 12 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Anhang H Kategorie 7 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, so dass diese Rubrik XXVIII in der Weise auszulegen sei, dass sie u. a. Kinos im Sinne der Kategorie 7 umfasse. Das Erfordernis, die nationale Regelung in einer der Sechsten Richtlinie und deren einheitlichen Begriffen konformen Weise auszulegen, bringe es mit sich, dass die fraglichen Kabinen, wenn sie als Kino im Sinne der genannten Richtlinie aufzufassen seien, nicht als Vergnügungsautomaten im Sinne der Rubrik XXVIII qualifiziert werden könnten und der ermäßigte Steuersatz von 6 % auf sie anzuwenden sei.

12      Vor diesem Hintergrund hat der Hof van beroep te Gent das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist eine Kabine, die aus einem verschließbaren Raum besteht, in dem nur eine Person Platz findet und diese auf einem Fernsehschirm gegen Entgelt Filme betrachten kann, wobei sie die Filmprojektion durch Münzeinwurf selbst in Gang setzt, aus verschiedenen Filmen wählen kann und während der Zeit, für die sie das Entgelt entrichtet, die Wahl des projizierten Films fortwährend ändern kann, als „Kino“ im Sinne von Anhang H Kategorie 7 der Sechsten Richtlinie anzusehen?

 Zur Vorlagefrage

13      Seinem Wortlaut nach bezieht sich Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie auf die „Eintrittsberechtigung“ zu verschiedenen darin aufgezählten kulturellen Ereignissen und Einrichtungen (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2003, Kommission/Deutschland, C-109/02, Slg. 2003, I-12691, Randnr. 25), zu denen u. a. „Kinos“ gehören.

14      Da die Sechste Richtlinie keine Definition der in Anhang H Kategorie 7 genannten Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ enthält, ist diese Wendung im Lichte des Zusammenhangs innerhalb der Sechsten Richtlinie auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2001, Kommission/Spanien, C-83/99, Slg. 2001, I-445, Randnr. 17).

15      In dieser Hinsicht dürfen die Mitgliedstaaten, wie auch der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie abweichend von dem Grundsatz, dass der normale Steuersatz gilt, einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Außerdem können die ermäßigten Mehrwertsteuersätze nach dieser Vorschrift nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der im Anhang H der Richtlinie genannten Kategorien angewandt werden. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Bestimmungen, die Ausnahmen von einem allgemeinen Grundsatz darstellen, eng auszulegen (vgl. u. a. Urteil Kommission/Spanien, Randnrn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

16      Daraus folgt insbesondere, dass die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ nach ihrer gewöhnlichen Bedeutung auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Spanien, Randnr. 20, und Kommission/Deutschland, Randnr. 23).

17      Wie die belgische Regierung und die Europäische Kommission betont haben, haben ferner die in Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie im Einzelnen aufgezählten Ereignisse und Einrichtungen insbesondere gemeinsam, dass sie der Öffentlichkeit aufgrund vorhergehender Bezahlung eine Eintrittsberechtigung gewähren, die alle zahlenden Personen berechtigt, gemeinsam die diesen Ereignissen und Einrichtungen eigenen kulturellen Leistungen wie auch die ihnen eigene Unterhaltung in Anspruch zu nehmen.

18      Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ im Sinne von Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie in Anbetracht der gewöhnlichen Bedeutung dieser Worte und des Zusammenhangs innerhalb dieser Vorschrift nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie die Zahlung eines Verbrauchers zu dem Zweck umfasst, allein in einem zur alleinigen Nutzung überlassenen Raum, wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kabinen, einen oder mehrere Filme oder Filmausschnitte betrachten zu können.

19      Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ im Sinne von Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie sich nicht auf die Zahlung eines Verbrauchers zu dem Zweck bezieht, allein in einem zur alleinigen Nutzung überlassenen Raum, wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kabinen, einen oder mehrere Filme oder Filmausschnitte betrachten zu können.

 Kosten

20      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Die Wendung „Eintrittsberechtigung für Kinos“ in Anhang H Kategorie 7 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2001/4/EG des Rates vom 19. Januar 2001 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sie sich nicht auf die Zahlung eines Verbrauchers zu dem Zweck bezieht, allein in einem zur alleinigen Nutzung überlassenen Raum, wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kabinen, einen oder mehrere Filme oder Filmausschnitte betrachten zu können.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.