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Rechtssache C-274/10

Europäische Kommission

gegen

Republik Ungarn

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Einzelheiten der Ausübung – Art. 183 – Nationale Regelung, die die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses nur insoweit gestattet, als dieser den Vorsteuerbetrag aus den Umsätzen übersteigt, die noch nicht zu einer Zahlung geführt haben“

Leitsätze des Urteils

Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorsteuerabzug – Erstattung des Überschusses

(Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 183)

Ein Mitgliedstaat, der Steuerpflichtige, deren Steuererklärung für einen bestimmten Steuerzeitraum einen Überschuss im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ausweist, dazu verpflichtet, diesen Überschuss, wenn sie dem Lieferer nicht den Gesamtbetrag für den entsprechenden Erwerb gezahlt haben, ganz oder teilweise auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen, was zur Folge hat, dass angesichts dieser Verpflichtung bestimmte Steuerpflichtige, deren Steuererklärungen regelmäßig einen Überschuss ausweisen, diesen Überschuss mehr als einmal auf den folgenden Steuerzeitraum vortragen müssen, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus dieser Richtlinie.

Nach dem mit der Richtlinie 2006/112 geschaffenen System kommt es für den Mehrwertsteueranspruch sowie für die Entstehung und die Ausübung des Abzugsrechts nämlich grundsätzlich nicht darauf an, ob die für einen Umsatz geschuldete Gegenleistung, einschließlich Mehrwertsteuer, bereits gezahlt wurde. Außerdem hängt nach dieser Richtlinie die Entstehung des Abzugsrechts nur in bestimmten in dieser Richtlinie ausdrücklich genannten besonderen Fällen von der Voraussetzung ab, dass die für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Steuer stammt, geschuldete Gegenleistung bereits gezahlt wurde. Mit Ausnahme dieser besonderen Fälle besteht dieses Abzugsrecht unabhängig von dieser Voraussetzung. Der Umstand, dass die Erstattung eines Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer – bei der es sich um den auf die Entstehung des fraglichen Rechts folgenden Schritt handelt – von dieser Voraussetzung abhängig gemacht wird, kann jedoch dieselben Auswirkungen auf das Abzugsrecht haben wie die Anwendung dieser Voraussetzung bei der Entstehung dieses Rechts. Er kann daher die praktische Wirksamkeit des genannten Abzugsrechts in Frage stellen. Die Zahlung der für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Mehrwertsteuer stammt, geschuldeten Gegenleistung kann daher keine Einzelheit im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 darstellen, die die Mitgliedstaaten für die Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer festlegen können.

(vgl. Randnrn. 48, 52-53, 56 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

28. Juli 2011(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Einzelheiten der Ausübung – Art. 183 – Nationale Regelung, die die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses nur insoweit gestattet, als dieser den Vorsteuerbetrag aus den Umsätzen übersteigt, die noch nicht zu einer Zahlung geführt haben“

In der Rechtssache C-274/10

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 1. Juni 2010,

Europäische Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou, B. Simon und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Republik Ungarn, vertreten durch M. Fehér, K. Szíjjártó und G. Koós als Bevollmächtigte im Beistand von K. Magony, szakértő,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász und T. von Danwitz (Berichterstatter),

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. April 2011,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2011

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Republik Ungarn

–        dadurch, dass sie Steuerpflichtige, deren Steuererklärung für einen bestimmten Steuerzeitraum einen „Überschuss“ im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) ausweist, dazu verpflichtet, diesen Überschuss ganz oder teilweise auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen, wenn sie dem Lieferer nicht den Gesamtbetrag für den entsprechenden Erwerb gezahlt haben, und

–        aufgrund der Tatsache, dass angesichts dieser Verpflichtung bestimmte Steuerpflichtige, deren Steuererklärungen regelmäßig einen „Überschuss“ ausweisen, diesen Überschuss mehr als einmal auf den folgenden Steuerzeitraum vortragen müssen,

gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2006/112 verstoßen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Art. 62 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt

(1)      als ‚Steuertatbestand‘ der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;

(2)      als ‚Steueranspruch‘ der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“

3        Art. 63 dieser Richtlinie sieht vor, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.

4        Art. 66 der genannten Richtlinie bestimmt:

„Abweichend von den Artikeln 63, 64 und 65 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen zu einem der folgenden Zeitpunkte entsteht:

a)      spätestens bei der Ausstellung der Rechnung;

b)      spätestens bei der Vereinnahmung des Preises;

…“

5        Art. 90 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„(1)      Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

(2)      Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“

6        Gemäß Art. 167 der Richtlinie 2006/112, der in Kapitel 1 „Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“ des Titels X „Vorsteuerabzug“ dieser Richtlinie steht, „[entsteht d]as Recht auf Vorsteuerabzug …, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“.

7        Mit der Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 zur Änderung der Richtlinie 2006/112 (ABl. L 189, S. 1), die spätestens zum 31. Dezember 2012 umgesetzt sein muss, wurde ein Art. 167a in die Richtlinie 2006/112 eingefügt, dessen Abs. 1 wie folgt lautet:

„Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, bei dem ausschließlich ein Steueranspruch gemäß Artikel 66 Buchstabe b eintritt, erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat.“

8        Art. 168 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

9        Art. 178 der Richtlinie 2006/112, der in Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) des Titels X dieser Richtlinie steht, bestimmt:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)      für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und [das] Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;

…“

10      Art. 179 der genannten Richtlinie sieht vor:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

11      Art. 183 der Richtlinie 2006/112, der im Wesentlichen Art. 18 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) entspricht, lautet:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.

Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“

12      Art. 184 der Richtlinie 2006/112, der in Kapitel 5 („Berichtigung des Vorsteuerabzugs“) des Titels X dieser Richtlinie steht, bestimmt:

„Der ursprüngliche Vorsteuerabzug wird berichtigt, wenn der Vorsteuerabzug höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war.“

13      Art. 185 im selben Kapitel der genannten Richtlinie lautet:

„Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.

Abweichend von Absatz 1 unterbleibt die Berichtigung bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung geleistet wurde, in ordnungsgemäß nachgewiesenen oder belegten Fällen von Zerstörung, Verlust oder Diebstahl sowie bei Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und Warenmuster im Sinne des Artikels 16.

Bei Umsätzen, bei denen keine oder eine nicht vollständige Zahlung erfolgt, und bei Diebstahl können die Mitgliedstaaten jedoch eine Berichtigung verlangen.“

 Nationales Recht

14      § 55 Abs. 1 des Gesetzes CXXVII von 2007 über die Mehrwertsteuer (az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény, Magyar Közlöny 2007/155 [XI. 16.], im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„Der Steueranspruch entsteht zu dem Zeitpunkt, zu dem der steuerbare Umsatz objektiv bewirkt wird (im Folgenden: Verwirklichung).“

15      Gemäß § 56 des Mehrwertsteuergesetzes wird „[d]ie geschuldete Steuer … zum Zeitpunkt der Verwirklichung festgesetzt, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist“.

16      § 119 Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:

„Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Festsetzung der geschuldeten Steuer in Höhe der Vorsteuer (§ 120).“

17      § 131 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„(1)       Ein für die Zwecke der Mehrwertsteuer im Inland erfasster Steuerpflichtiger kann vom Gesamtsteuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den abzugsfähigen Vorsteuerbetrag abziehen, der während dieses Steuerzeitraums oder während eines oder mehrerer früherer Zeiträume entstanden ist.

(2)      Ergibt sich nach Abs. 1 eine negative Differenz, kann ein für die Zwecke der Mehrwertsteuer im Inland erfasster Steuerpflichtiger

a)      diese Differenz im folgenden Steuerzeitraum als Abzugsposten vom Gesamtsteuerbetrag, den er nach Abs. 1 für diesen Steuerzeitraum schuldet, geltend machen oder

b)      die Erstattung der Differenz unter den Voraussetzungen und nach den Bestimmungen des § 186 bei den staatlichen Steuerbehörden beantragen.“

18      § 186 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)       Die Erstattung des gemäß § 131 Abs. 1 ermittelten – nach Maßgabe von Abs. 2 berichtigten – negativen Differenzbetrags kann frühestens zu dem im Gesetz XCII von 2003 [über das Steuersystem (az adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. Törvény)] festgelegten Termin beantragt werden, wenn

a)      der für die Zwecke der Mehrwertsteuer im Inland erfasste Steuerpflichtige bei Einreichung seiner Erklärung nach § 184 einen entsprechenden Antrag bei den Steuerbehörden stellt;

(2)      Zahlt ein für die Zwecke der Mehrwertsteuer im Inland erfasster Steuerpflichtiger im Fall des Abs. 1 Buchst. a den Betrag, der auch eine Steuer in Höhe des Umsatzes enthält, der die Rechtsgrundlage für die Abwälzung der Steuer bildet, nicht vollständig vor dem in Abs. 1 genannten Termin oder erlischt seine Schuld vor diesem Zeitpunkt nicht auf andere Weise, ist die gesamte abzugsfähige Vorsteuer in Höhe dieses Umsatzes von dem gemäß § 131 Abs. 1 festgesetzten negativen Differenzbetrag – ausgedrückt als absoluter Betrag – bis zur maximalen Höhe dieses Betrags abzuziehen.

(3)      § 131 Abs. 2 Buchst. a findet auf den Betrag, um den sich der gemäß § 131 Abs. 1 festgesetzte negative Differenzbetrag – ausgedrückt als absoluter Betrag – nach Maßgabe von Abs. 2 verringert, bis zur maximalen Höhe dieses Betrags Anwendung. …“

19      Aus § 37 Abs. 1 des Gesetzes XCII von 2003 über das Steuersystem geht hervor, dass der genannte Termin dem Ende der Frist für die Zahlung der Steuer entspricht; diese Vorschrift lautet wie folgt:

„Die Steuer ist zu dem Zeitpunkt zu zahlen, der im Anhang des Gesetzes oder im Gesetz selbst angegeben ist (Fälligkeit) …“

20      Anhang II Teil I Nr. 2 Buchst. a dieses Gesetzes lautet:

„Ein Steuerpflichtiger, der [Mehrwertsteuer] schuldet, hat den geschuldeten [Mehrwertsteuer]betrag

–        im Fall monatlicher Steuererklärungen

vor dem 20. Tag des auf den laufenden Monat folgenden Monats,

–        im Fall vierteljährlicher Steuererklärungen

vor dem 20. Tag des auf das Vierteljahr folgenden Monats,

–        im Fall jährlicher Steuererklärungen

vor dem 25. Februar des auf das Steuerjahr folgenden Jahres

zu zahlen und kann die Erstattung dieses Betrags von diesem Zeitpunkt an beantragen.“

 Das Vorverfahren

21      Da die Kommission der Ansicht war, dass die nationale Regelung, nach der Steuerpflichtige einen Überschuss im Sinne des Art. 183 der Richtlinie 2006/112 auf den folgenden Steuerzeitraum vortragen müssen, soweit dieser Überschuss einen Vorsteuerbetrag umfasst, der aus Umsätzen stammt, für die der betroffene Steuerpflichtige die Gegenleistung noch nicht gezahlt hat, gegen die genannte Richtlinie verstoße, beschloss sie, das in Art. 226 EG vorgesehene Verfahren einzuleiten und richtete am 21. März 2007 ein Mahnschreiben an die Republik Ungarn.

22      Der genannte Mitgliedstaat antwortete auf dieses Mahnschreiben mit Schreiben vom 30. Mai 2007, in dem er das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht bestritt.

23      Da die Kommission nach dieser Antwort weiter der Ansicht war, dass die Republik Ungarn gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2006/112 verstoße, richtete sie am 8. Oktober 2009 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an diesen Mitgliedstaat, in der sie ihn aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.

24      Die Republik Ungarn antwortete auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 16. Dezember 2009 und machte geltend, dass kein Verstoß gegen das Unionsrecht vorliege; die Kommission beschloss daher, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Parteien

25      Die Kommission macht geltend, dass § 186 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes insofern gegen das Unionsrecht verstoße, als er die Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Vorsteuer gegenüber der zu zahlenden Mehrwertsteuer ausschließe, soweit die Vorsteuer aus Umsätzen stamme, für die die geschuldete Gegenleistung einschließlich Mehrwertsteuer noch nicht gezahlt worden sei.

26      Nach den Art. 62 und 63 der Richtlinie 2006/112 entstehe der Anspruch auf die zu zahlende Mehrwertsteuer unabhängig von der Zahlung der für den betreffenden Umsatz geschuldeten Gegenleistung zu dem Zeitpunkt, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht werde. Ein Lieferer von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen sei daher selbst dann verpflichtet, die Mehrwertsteuer an den Fiskus abzuführen, wenn er von seinen Kunden bis zum Ende des Steuerzeitraums noch nicht bezahlt worden sei. Da § 186 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes in einem solchen Fall den Kunden daran hindere, die Erstattung der dem fraglichen Umsatz entsprechenden Mehrwertsteuer zu verlangen, werde das Mehrwertsteuersystem aus dem Gleichgewicht gebracht.

27      Dieser Ausschluss der Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer belaste die betroffenen Unternehmer, da der Aufschub der Zahlung des Staates auf die Forderung des eine Erstattung verlangenden Steuerpflichtigen vorübergehend den Wert der Gegenstände, über die dieser Steuerpflichtige verfüge, verringere, was insbesondere seine Liquidität reduziere.

28      Außerdem sähen die fraglichen nationalen Vorschriften keinerlei zeitliche Begrenzung für den Vortrag des Mehrwertsteuerüberschusses vor. Es sei daher möglich, dass der Steuerpflichtige einen solchen Überschuss mehrfach vortragen müsse. Dem Wortlaut des Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sei jedoch zu entnehmen, dass ein Überschuss spätestens im übernächsten Steuerzeitraum nach seiner Entstehung erstattet werden müsse.

29      Diese Bestimmung sehe ferner lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten die Verfahrensvorschriften für die Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer festlegen könnten, damit sich diese Vorschriften richtig in die verschiedenen gesetzlichen Regelungen über das Verwaltungsverfahren einfügten. Dagegen gestatte dieser Artikel nicht, diese Erstattung mittels materiell-rechtlicher Voraussetzungen einzuschränken. Die fragliche nationale Regelung enthalte jedoch keine Formvorschriften, sondern materiell-rechtliche Beschränkungen der Erstattung der Mehrwertsteuer.

30      Die Republik Ungarn ist der Ansicht, dass die Voraussetzung, die gemäß § 186 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes erfüllt sein müsse, damit der Überschuss der abzugsfähigen Mehrwertsteuer erstattet werde, nämlich die Zahlung der für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Mehrwertsteuer stamme, geschuldeten Gegenleistung, weder gegen den Grundsatz der Steuerneutralität noch gegen Art. 183 der Richtlinie 2006/112, der die Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für diese Erstattung eindeutig den Mitgliedstaaten zuweise, verstoße.

31      Der sich aus § 186 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes ergebende Aufschub der Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer stelle für den Steuerpflichtigen keine gegen den Grundsatz der Steuerneutralität verstoßende Belastung dar. Unter „Mehrwertsteuerbelastung“ sei ausschließlich eine endgültige Belastung zu verstehen, d. h. eine Situation, in der der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer ohne ein Recht auf Vorsteuerabzug zu tragen habe. Die vorläufig getragene Mehrwertsteuer stelle hingegen lediglich eine Finanzierungs- bzw. Liquiditätsbelastung dar, die die Finanzlage des betreffenden Unternehmers nur vorübergehend beeinträchtige und nicht gegen den Grundsatz der Steuerneutralität verstoße. Hervorzuheben sei insoweit, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem Regelungen enthalte, die die Steuerpflichtigen vorübergehend mit dem Betrag dieser Steuer belasteten.

32      Zudem bürde die für die fragliche Erstattung vorgesehene Voraussetzung dem Steuerpflichtigen kein finanzielles Risiko auf, da dieser seine Schuld noch nicht beglichen habe. Die Belastung werde in Wirklichkeit allein vom Verkäufer getragen und sei auf Unionsvorschriften, insbesondere auf die Art. 62 und 63 der Richtlinie 2006/112, zurückzuführen. Da diese Belastung mit dem Grundsatz der Steuerneutralität vereinbar sei, könne die behauptete Belastung des Käufers oder des Empfängers durch die streitige nationale Regelung nicht als unzulässig angesehen werden.

33      Die genannte nationale Regelung solle den Vorteil des Käufers oder des Empfängers von Dienstleistungen neutralisieren, der von der Erstattung der Steuer, die auf ein Geschäft erhoben werde, das nicht zu einer Zahlung geführt habe oder vielleicht niemals zu einer Zahlung führen werde, profitieren könnte, um seine finanzielle Situation zu verbessern und insbesondere seine Lieferer zu bezahlen. Dagegen gewähre nach der Konzeption der Kommission der Staat den Steuerpflichtigen ein sein Budget belastendes zinsloses Darlehen, insbesondere dann, wenn der Steuerzeitraum des Lieferers länger sei als der des Erwerbers.

34      Im Übrigen schränke die Auslegung des Grundsatzes der Steuerneutralität durch die Kommission auf ungerechtfertigte Weise den Gestaltungsspielraum ein, der den Mitgliedstaaten durch Art. 183 der Richtlinie 2006/112 eingeräumt worden sei, und entleere diese Bestimmung ihres Sinns.

35      Außerdem stelle die ungarische Regelung nicht in Frage, dass ein Steuerpflichtiger den gesamten Mehrwertsteuerbetrag durch eine Zahlung flüssiger Mittel und innerhalb einer angemessenen Frist erlangen könne, sofern eine solche Frist für die mit dem Geschäft verbundene Zahlung gesetzt worden sei. Der Gerichtshof habe anerkannt, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Frist für die Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer über einen gewissen Spielraum verfügten.

36      Was das Fehlen einer zeitlichen Begrenzung des Vortrags des Mehrwertsteuerüberschusses auf den folgenden Steuerzeitraum angehe, lasse sich weder den Vorschriften noch den Erwägungsgründen der Richtlinie 2006/112 ein Hinweis darauf entnehmen, dass der Mehrwertsteuerüberschuss nur ein einziges Mal auf den folgenden Steuerzeitraum vorgetragen werden könne. Zudem habe es der betreffende Steuerpflichtige selbst in der Hand, die in der streitigen Regelung aufgestellte Zahlungsvoraussetzung zu erfüllen.

 Würdigung durch den Gerichtshof

37      Die Kommission wirft der Republik Ungarn im Wesentlichen vor, sie habe dadurch, dass sie in ihren Vorschriften die Erstattung ausgeschlossen habe, soweit der Steuerpflichtige noch nicht die für den Umsatz, der zu der abzugsfähigen Mehrwertsteuer führe, geschuldete Gegenleistung, einschließlich Mehrwertsteuer, gezahlt habe, die Grenzen der Freiheit überschritten, über die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 183 der Richtlinie 2006/112 verfügten.

38      Gemäß dem genannten Art. 183 können die Mitgliedstaaten, wenn der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer übersteigt, den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.

39      Bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung und insbesondere aus dem Ausdruck „nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten“ folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses über einen gewissen Spielraum verfügen (vgl. Urteile vom 25. Oktober 2001, Kommission/Italien, C-78/00, Slg. 2001, I-8195, Randnr. 32, vom 10. Juli 2008, Sosnowska, C-25/07, Slg. 2008, I-5129, Randnr. 17, und vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C-107/10, Slg. 2011, I-0000, Randnrn. 33 und 64).

40      Dieser Umstand erlaubt jedoch nicht den Schluss, dass Art. 183 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten hinsichtlich der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von jeglicher unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C-472/08, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 15, und Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 28).

41      Es ist vielmehr zu prüfen, inwieweit Art. 183 der Richtlinie 2006/112 bei einer Auslegung im Hinblick auf den Regelungszusammenhang und die im Bereich der Mehrwertsteuer geltenden allgemeinen Grundsätze spezifische Regeln enthält, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses beachten müssen (vgl. Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 30).

42      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder gezahlt wurde, nach ständiger Rechtsprechung ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. insbesondere Urteile Kommission/Italien, Randnr. 28, Sosnowska, Randnr. 14, und Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 31).

43      Wie der Gerichtshof wiederholt betont hat, ist dieses Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann es für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. u. a. Urteile vom 6. Juli 1995, BP Soupergaz, C-62/93, Slg. 1995, I-1883, Randnr. 18, vom 30. September 2010, Uszodaépítő, C-392/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 34, und Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 32).

44      Zweitens ist zu beachten, dass das Bestehen des Abzugsrechts als solches unter die Art. 167 bis 172 der Richtlinie 2006/112 fällt, die im Kapitel „Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“ stehen, während die Art. 178 bis 183 dieser Richtlinie allein die Einzelheiten der Ausübung dieses Rechts betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2001, Kommission/Niederlande, C-338/98, Slg. 2001, I-8265, Randnr. 71, und vom 29. April 2004, Terra Baubedarf-Handel, C-152/02, Slg. 2004, I-5583, Randnr. 30).

45      In Bezug auf die nach Art. 183 der Richtlinie 2006/112 bestehende Möglichkeit, vorzusehen, dass der Mehrwertsteuerüberschuss entweder auf den folgenden Steuerzeitraum übertragen oder erstattet wird, hat der Gerichtshof klargestellt, dass die von den Mitgliedstaaten insoweit festgelegten Einzelheiten den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (vgl. Urteile Kommission/Italien, Randnrn. 33 und 34; Sosnowska, Randnr. 17, und Enel Maritsa Iztok 3, Randnrn. 33 und 64).

46      Was drittens die Bedeutung angeht, die der Zahlung für die Umsätze, aus denen die Mehrwertsteuer stammt, in dem durch die Richtlinie 2006/112 geschaffenen System zukommt, ist darauf hinzuweisen, dass der Mehrwertsteueranspruch gemäß Art. 63 dieser Richtlinie zu dem Zeitpunkt eintritt, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird, d. h. bei der Durchführung des betreffenden Umsatzes, unabhängig davon, ob die für diesen Umsatz geschuldete Gegenleistung bereits gezahlt wurde. Der Lieferer eines Gegenstands oder der Erbringer einer Dienstleistung schuldet dem Fiskus daher die Mehrwertsteuer, selbst wenn er von seinem Kunden noch keine Zahlung für den durchgeführten Umsatz erhalten hat.

47      Ebenso bestimmt Art. 167 der Richtlinie 2006/112, dass das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, was nach dem genannten Art. 63 der Fall ist, sobald der Umsatz durchgeführt worden ist, unabhängig davon, ob die Zahlung der für diesen Umsatz geschuldeten Gegenleistung erfolgt ist. Außerdem wird in Art. 168 Buchst. a dieser Richtlinie ausdrücklich ausgeführt, dass sich das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht nur auf die von ihm entrichtete Mehrwertsteuer, sondern auch auf die geschuldete Mehrwertsteuer bezieht. Aus dem Wortlaut des Art. 179 der genannten Richtlinie ergibt sich ferner, dass das Abzugsrecht grundsätzlich ausgeübt wird, indem von dem Steuerbetrag, der für einen Steuerzeitraum geschuldet wird, der Betrag der Mehrwertsteuer abgesetzt wird, für die während desselben Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, Slg. 2008, I-3457, Randnr. 41).

48      Nach dem mit der Richtlinie 2006/112 geschaffenen System kommt es für den Mehrwertsteueranspruch sowie für die Entstehung und die Ausübung des Abzugsrechts demnach grundsätzlich nicht darauf an, ob die für einen Umsatz geschuldete Gegenleistung, einschließlich Mehrwertsteuer, bereits gezahlt wurde.

49      Dieses Ergebnis wird durch andere Bestimmungen dieser Richtlinie bestätigt, nach denen die tatsächliche Zahlung der Gegenleistung nur unter in dieser Richtlinie ausdrücklich genannten besonderen Umständen Einfluss auf den Mehrwertsteueranspruch oder die Abzugsfähigkeit der Mehrwertsteuer haben kann.

50      So können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 66 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 abweichend von Art. 63 dieser Richtlinie vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht. Die Republik Ungarn hat jedoch nicht geltend gemacht, dass sie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht habe.

51      Im Übrigen wurde Art. 66 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 im Jahre 2010, also nach Erhebung der vorliegenden Klage, ergänzt, indem in diese Richtlinie ein Art. 167a eingefügt wurde, nach dem die Mitgliedstaaten im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen können, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, bei dem ausschließlich ein Steueranspruch gemäß dem genannten Art. 66 Buchst. b eintritt, erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat.

52      Aus einer Gesamtbetrachtung dieser Bestimmungen ergibt sich, dass nach der Richtlinie 2006/112 die Entstehung des Abzugsrechts nur in bestimmten in dieser Richtlinie ausdrücklich genannten besonderen Fällen von der Voraussetzung abhängt, dass die für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Mehrwertsteuer stammt, geschuldete Gegenleistung bereits gezahlt wurde. Mit Ausnahme dieser besonderen Fälle besteht dieses Abzugsrecht unabhängig von dieser Voraussetzung. Der Umstand, dass die Erstattung eines Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer – bei der es sich um den auf die Entstehung des fraglichen Rechts folgenden Schritt handelt – von dieser Voraussetzung abhängig gemacht wird, kann jedoch dieselben Auswirkungen auf das Abzugsrecht haben wie die Anwendung dieser Voraussetzung bei der Entstehung dieses Rechts. Er kann daher die praktische Wirksamkeit des genannten Abzugsrechts in Frage stellen.

53      Die Zahlung der für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Mehrwertsteuer stammt, geschuldeten Gegenleistung kann daher keine Einzelheit im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 darstellen, die die Mitgliedstaaten für die Erstattung des Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer festlegen können.

54      Aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 183 der Richtlinie 2006/112 den Mitgliedstaaten nicht gestattet, die Ausübung des Rechts auf Erstattung eines Überschusses der abzugsfähigen Mehrwertsteuer an die Bedingung zu knüpfen, dass der für den betreffenden Umsatz geschuldete Betrag gezahlt wurde. Die Republik Ungarn hat somit dadurch, dass sie die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses ausschließt, sofern die für den Umsatz, aus dem die abzugsfähige Mehrwertsteuer stammt, geschuldete Gegenleistung, einschließlich Mehrwertsteuer, noch nicht gezahlt worden ist, die Grenzen der Freiheit überschritten, über die die Mitgliedstaaten gemäß Art. 183 der Richtlinie 2006/112 verfügen.

55      Außerdem führt dieser Ausschluss der Erstattung eines solchen Mehrwertsteuerüberschusses dazu, dass bestimmte Steuerpflichtige, deren Steuererklärung regelmäßig Überschüsse ausweist, gezwungen sind, diesen Überschuss mehr als einmal auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Vortrag eines Mehrwertsteuerüberschusses über mehrere auf den Zeitraum der Entstehung des Überschusses folgenden Steuerzeiträume nicht notwendigerweise mit Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 49). Da die fragliche nationale Regelung jedoch Steuerzeiträume von einem Monat bis einem Jahr vorsieht, kann sie dazu führen, dass bestimmte Steuerpflichtige einen Überschuss aufgrund seines wiederholten Vortrags nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet bekommen.

56      Folglich ist festzustellen, dass die Republik Ungarn,

–        dadurch, dass sie Steuerpflichtige, deren Steuererklärung für einen bestimmten Steuerzeitraum einen Überschuss im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 ausweist, dazu verpflichtet, diesen Überschuss ganz oder teilweise auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen, wenn sie dem Lieferer nicht den Gesamtbetrag für den entsprechenden Erwerb gezahlt haben, und

–        aufgrund der Tatsache, dass angesichts dieser Verpflichtung bestimmte Steuerpflichtige, deren Steuererklärungen regelmäßig einen Überschuss ausweisen, diesen Überschuss mehr als einmal auf den folgenden Steuerzeitraum vortragen müssen,

gegen ihre Verpflichtungen aus dieser Richtlinie verstoßen hat.

 Kosten

57      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Ungarischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Ungarn hat

–        dadurch, dass sie Steuerpflichtige, deren Steuererklärung für einen bestimmten Steuerzeitraum einen Überschuss im Sinne von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ausweist, dazu verpflichtet, diesen Überschuss ganz oder teilweise auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragen, wenn sie dem Lieferer nicht den Gesamtbetrag für den entsprechenden Erwerb gezahlt haben, und

–        aufgrund der Tatsache, dass angesichts dieser Verpflichtung bestimmte Steuerpflichtige, deren Steuererklärungen regelmäßig einen Überschuss ausweisen, diesen Überschuss mehr als einmal auf den folgenden Steuerzeitraum vortragen müssen,

gegen ihre Verpflichtungen aus dieser Richtlinie verstoßen.

2.      Die Republik Ungarn trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Ungarisch.