URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
18. Juli 2013(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b – Recht auf Vorsteuerabzug – Investitionsgüter, die juristischen Personen gehören und zum Teil ihren Geschäftsführern für deren privaten Bedarf zur Verfügung gestellt werden – Kein in Geld zu entrichtender Mietzins, aber Berücksichtigung eines geldwerten Vorteils im Rahmen der Einkommensteuer“
In den verbundenen Rechtssachen C-210/11 und C-211/11
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Belgien), mit Entscheidungen vom 7. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Mai 2011, in den Verfahren
État belge
gegen
Medicom SPRL (C-210/11),
Maison Patrice Alard SPRL (C-211/11)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. Berger und der Richter A. Borg Barthet und J.-J. Kasel (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó, M. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Soulay und W. Roels als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. L 102, S. 18) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen dem État belge auf der einen und der Medicom SPRL (im Folgenden: Medicom) (Rechtssache C-210/11) bzw. der Maison Patrice Alard SPRL (im Folgenden: MPA) (Rechtssache C-211/11), beides Gesellschaften belgischen Rechts, auf der anderen Seite über den Abzug der Vorsteuer, die für Gebäude entrichtet wurde, die zum Teil für den privaten Bedarf der Geschäftsführer dieser Gesellschaften verwendet werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Dienstleistungen gegen Entgelt werden gleichgestellt:
a) die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen, für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt hat;
b) die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf, oder für den Bedarf seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke.“
4 Art. 11 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Die Besteuerungsgrundlage ist:
a) bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen;
b) bei den in Artikel 5 Absätze 6 und 7 genannten Umsätzen der Einkaufspreis für die Gegenstände oder für gleichartige Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die im Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden;
c) bei den in Artikel 6 Absatz 2 genannten Umsätzen der Betrag der Ausgaben des Steuerpflichtigen für die Erbringung der Dienstleistung;
…“
5 Nach Art. 13 Teil B Unterabs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie befreien die Mitgliedstaaten die „Vermietung und Verpachtung von Grundstücken“ von der Steuer.
6 Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie in der Fassung ihres Art. 28f bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden;
…“
Belgisches Recht
7 Art. 19 § 1 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée in der auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:
„Die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder den seines Personals oder ganz allgemein für außerhalb der Geschäftstätigkeit des Steuerpflichtigen liegende Zwecke wird einer Dienstleistung gegen Entgelt gleichgestellt, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der Steuer berechtigt hat.“
8 Nach Art. 44 § 3 Nr. 2 dieses Gesetzes sind „die Verpachtung, die Vermietung und die Abtretung eines Mietvertrags in Bezug auf naturgemäß unbewegliche Güter sowie die Nutzung solcher Güter unter den Voraussetzungen von Art. 19 § 1“ von der Mehrwertsteuer befreit.
9 Art. 1 des Königlichen Erlasses Nr. 3 vom 10. Dezember 1969 über Vorsteuerabzüge für die Anwendung der Mehrwertsteuer (Moniteur belge vom 12. Dezember 1969, S. 9) bestimmt:
„§ 1 Vorbehaltlich der Anwendung von Art. 45 §§ 1a, 2 und 3 des [Mehrwertsteuergesetzes] nimmt der Steuerpflichtige den Abzug der Vorsteuer auf Gegenstände und Dienstleistungen, die er zur Ausführung der in Art. 45 § 1 Nrn. 1 bis 5 des [Mehrwertsteuergesetzes] genannten Umsätze bestimmt, nach Maßgabe der Art. 2 und 4 des vorliegenden Erlasses vor.
Tätigt der Steuerpflichtige bei der Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit weitere Umsätze, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen, beachtet er bei der Bestimmung der Vorsteuerabzüge die Vorschriften der Art. 46 und 48 des [Mehrwertsteuergesetzes] und der Art. 12 bis 21 des vorliegenden Erlasses.
§ 2 In keinem Fall abzugsfähig sind Steuern auf Gegenstände und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger zur privaten Nutzung oder zu Zwecken bestimmt, die nicht zu seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gehören.
Ist ein Gegenstand oder eine Dienstleistung dazu bestimmt, zum Teil zu diesen Zwecken verwendet zu werden, ist der Vorsteuerabzug im Umfang dieser Verwendung ausgeschlossen. Die Bestimmung dieses Umfangs wird vom Steuerpflichtigen unter der Kontrolle der Verwaltung vorgenommen.“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
Rechtssache C-210/11
10 In der Rechtssache C-210/11 geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Medicom eine Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ist, die für Tätigkeiten mehrwertsteuerpflichtig ist, die in der Erstellung von Studien, in der Organisation und in der Beratung in den Bereichen Maschinenschreiben, Übersetzung und Herausgabe medizinischer Berichte für pharmazeutische Unternehmen sowie im Betrieb einer Pferdepension bestehen. Diese Gesellschaft ließ ein Gebäude errichten, in dem sie ihre Tätigkeiten ausübt und in dem auch ihre Geschäftsführer und deren Familien mietzinsfrei wohnen. In ihren Mehrwertsteuererklärungen brachte Medicom die im Zusammenhang mit der Errichtung dieses Gebäudes angefallene Mehrwertsteuer vollumfänglich in Abzug.
11 Die zuständige Steuerverwaltung stellte in ihrem Protokoll vom 3. September 1997 fest, dass dieses Gebäude zu 50 % für den privaten Bedarf der Geschäftsführer von Medicom genutzt werde und dass von ihnen für diese Nutzung „ein geldwerter Vorteil verlangt [wurde]“. Da die zuständige Steuerverwaltung der Ansicht war, dass nur die Hälfte der für die Errichtung des Gebäudes angefallenen Mehrwertsteuer abgezogen werden könne, ließ sie Medicom einen Beitreibungsbescheid zustellen, der auf die Entrichtung der in der Erklärung für das zweite Quartal des Jahres 1997 zu Unrecht abgezogenen Mehrwertsteuer gerichtet war.
12 In der Folge erkannten die Geschäftsführer von Medicom an, dass sie in den Steuerjahren 1997 und 1998 zwei Drittel des fraglichen Gebäudes für ihren privaten Bedarf genutzt hatten. Unter diesen Umständen lehnte die zuständige Steuerverwaltung am 16. November 2000 den Antrag auf Abzug der Mehrwertsteuer für das Jahr 1996 ab und ließ Medicom am 15. Januar 2001 einen neuen Beitreibungsbescheid zustellen.
13 Da die Klage, die Medicom gegen diese Beitreibungsbescheide erhob, im ersten Rechtszug abgewiesen wurde, legte Medicom Berufung zur Cour d'appel de Liège ein. Dieses Gericht wandte auf den bei ihm anhängig gemachten Rechtsstreit die vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. Mai 2003, Seeling (C-269/00, Slg. 2003, I-4101), vertretene Auslegung der Sechsten Richtlinie an und hob die streitigen Beitreibungsbescheide mit Urteil vom 24. März 2006 auf.
Rechtssache C-211/11
14 In der Rechtssache C-211/11 geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass MPA eine Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ist, die für ihre Tätigkeiten des Partyservice und der Organisation von Empfängen mehrwertsteuerpflichtig ist. 1991 ließ diese Gesellschaft ein Gebäude errichten, in dem sie ihre Tätigkeiten ausübte und in dem auch ihr Geschäftsführer und dessen Familie mietzinsfrei wohnten. In ihren Mehrwertsteuererklärungen brachte MPA die im Zusammenhang mit der Errichtung und der Einrichtung dieses Gebäudes angefallene Mehrwertsteuer vollumfänglich in Abzug.
15 Da die zuständige Steuerverwaltung der Ansicht war, dass die Mehrwertsteuer nur teilweise abgezogen werden könne, weil ein Teil des Gebäudes als Wohnung des Geschäftsführers bestimmt sei, erließ sie am 6. November 1995 einen an MPA gerichteten Beitreibungsbescheid.
16 Das Gericht des ersten Rechtszugs, bei dem MPA eine Klage auf Aufhebung dieses Beitreibungsbescheids erhob, gab dieser Klage statt. Die von der zuständigen Steuerverwaltung gegen das im ersten Rechtszug ergangene Urteil eingelegte Berufung wurde von der Cour d'appel de Bruxelles mit Urteil vom 4. Januar 2006 insbesondere mit der Begründung zurückgewiesen, dass die unentgeltliche Zurverfügungstellung des als Wohnung des Geschäftsführers benutzten Gebäudeteils im überwiegenden Interesse des in diesem Gebäude vom Steuerpflichtigen geführten steuerpflichtigen Wirtschaftsbetriebs erfolgt sei, so dass dieser Gebäudeteil als ein Investitionsgut betrachtet werden könne, dessen Errichtung, Unterhaltung, Reparatur oder Verbesserung ein Recht auf Vorsteuerabzug eröffne.
17 In beiden Rechtsstreitigkeiten hat die zuständige Steuerverwaltung Kassationsbeschwerde eingelegt und zunächst geltend gemacht, das Urteil Seeling sei nicht auf Situationen übertragbar, wie die, die Anlass zu diesen Rechtsstreitigkeiten gegeben hätten. Sodann sei im Rahmen der Einkommensteuer die Zurverfügungstellung eines Gebäudeteils für den privaten Bedarf eines Geschäftsführers einer Gesellschaft als ein geldwerter Vorteil anzusehen, so dass nicht angenommen werden könne, dass es sich um eine „unentgeltliche“ Zurverfügungstellung oder um eine Situation handele, in der „kein Mietzins“ gezahlt werde. Schließlich sei der direkte und unmittelbare Zusammenhang, der nach Art. 17 Abs. 2 und 5 der Sechsten Richtlinie zwischen einem Eingangsumsatz und einem besteuerten Ausgangsumsatz bestehen müsse, damit das Recht auf Vorsteuerabzug eröffnet sei, nicht von dem vom Steuerpflichtigen verfolgten Zweck abhängig und fehle im vorliegenden Fall. Im Übrigen habe der Steuerpflichtige das Bestehen seines Rechts auf Vorsteuerabzug nachzuweisen. Dieser Nachweis sei aber nicht erbracht worden.
18 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende, in den beiden Rechtssachen C-210/11 und C-211/11 gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass die Verwendung eines zum Vermögen einer steuerpflichtigen Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit gehörenden und damit insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes oder eines Teils davon für den privaten Bedarf ihrer Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter und deren Familie dann nicht als eine – als Vermietung oder Verpachtung eines Grundstücks im Sinne des Art. 13 Teil B Buchst. b – steuerfreie Dienstleistung behandelt werden darf, wenn als Gegenleistung kein in Geld zu entrichtender Mietzins vereinbart ist, sondern diese Verwendung einen geldwerten Vorteil darstellt, der als solcher im Rahmen der bei den Geschäftsführern erhobenen Einkommensteuer besteuert wird, und deshalb steuerlich als die Gegenleistung für einen Teil der Arbeitsleistung dieser Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter angesehen wird?
2. Sind diese Bestimmungen dahin auszulegen, dass diese Steuerbefreiung in dem genannten Fall anwendbar ist, wenn die Gesellschaft das Bestehen eines zwingenden Zusammenhangs zwischen dem Betrieb des Unternehmens und der Zurverfügungstellung des Gebäudes oder eines Teils davon an die Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter nicht nachweist, und ist in diesem Fall das Bestehen eines mittelbaren Zusammenhangs ausreichend?
19 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. Juni 2011 sind die Rechtssachen C-210/11 und C-211/11 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Zurverfügungstellung eines Teils eines einer juristischen Person gehörenden Gebäudes für den privaten Bedarf ihres Geschäftsführers, ohne dass vom Begünstigten als Gegenleistung für die Nutzung dieses Gebäudes ein in Geld zu entrichtender Mietzins verlangt wird, keine von der Steuer befreite Vermietung eines Gebäudes im Sinne dieser Richtlinie darstellt, und ob es insoweit von Bedeutung sein kann, dass nach der nationalen einkommensteuerrechtlichen Regelung eine solche Zurverfügungstellung als ein geldwerter Vorteil angesehen wird, der den Begünstigten aus der Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben oder ihres Anstellungsvertrags zufließt.
21 Für die Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Steuerpflichtiger die Wahl hat, ob der privat genutzte Teil eines Gegenstands für die Anwendung der Sechsten Richtlinie zu seinem Unternehmen gehören soll oder nicht (vgl. insbesondere Urteile vom 4. Oktober 1995, Armbrecht, C-291/92, Slg. 1995, I-2775, Randnr. 20, und Seeling, Randnr. 40).
22 Entscheidet sich der Steuerpflichtige dafür, dass Investitionsgüter, die sowohl für unternehmerische als auch für private Zwecke verwendet werden, als Gegenstände des Unternehmens behandelt werden, so ist die beim Erwerb dieser Gegenstände geschuldete Vorsteuer grundsätzlich vollständig und sofort abziehbar (vgl. insbesondere Urteile vom 11. Juli 1991, Lennartz, C-97/90, Slg. 1991, I-3795, Randnr. 26, und Seeling, Randnr. 41).
23 Nach Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie ist die Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder für unternehmensfremde Zwecke einer Dienstleistung gegen Entgelt gleichgestellt und wird auf der Grundlage des Betrags der Ausgaben für die Erbringung der Dienstleistung besteuert, wenn dieser Gegenstand zum vollen oder teilweisen Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer berechtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Lennartz, Randnr. 26, und Seeling, Randnr. 42).
24 Daher ist ein Steuerpflichtiger, der sich dafür entscheidet, ein Gebäude insgesamt seinem Unternehmen zuzuordnen, und später einen Teil dieses Gebäudes für seinen privaten Bedarf oder den seines Personals verwendet, zum einen zum Abzug der auf die gesamten Herstellungskosten dieses Gebäudes entrichteten Vorsteuerbeträge berechtigt und zum anderen, als Gegenstück zu diesem Recht, verpflichtet, die Mehrwertsteuer auf den Betrag der für diese private Verwendung angefallenen Ausgaben zu entrichten.
25 Zur kumulativen Anwendung von Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie im Fall der Verwendung eines Teils eines insgesamt dem Unternehmen des Steuerpflichtigen zugeordneten Gebäudes für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder seines Personals hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Vorschriften einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der – obgleich die Merkmale einer Vermietung oder Verpachtung des Gebäudes im Sinne von Art. 13 Teil B Buchst. b nicht erfüllt sind – die Verwendung eines Teils eines von einer steuerpflichtigen juristischen Person errichteten oder aufgrund eines dinglichen Rechts an einer unbeweglichen Sache in ihrem Besitz stehenden Gebäudes für den privaten Bedarf des Personals dieser Steuerpflichtigen als eine nach der letztgenannten Vorschrift von der Mehrwertsteuer befreite Dienstleistung behandelt wird, wenn dieser Gegenstand zum Vorsteuerabzug berechtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Seeling, Randnr. 56, und vom 29. März 2012, BLM, C-436/10, Randnr. 31).
26 Folglich setzt eine Vermietung eines Gebäudes im Sinne des Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie voraus, dass sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind, die diesen Umsatz kennzeichnen, d. h., dass der Vermieter eines Gebäudes dem Mieter gegen Zahlung eines Mietzinses für eine vereinbarte Dauer das Recht überträgt, seine Sache in Besitz zu nehmen und andere von ihr auszuschließen (vgl. Urteile vom 9. Oktober 2001, Mirror Group, C-409/98, Slg. 2001, I-7175, Randnr. 31, und Cantor Fitzgerald International, C-108/99, Slg. 2001, I-7257, Randnr. 21, sowie Seeling, Randnr. 49).
27 Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie stellt nämlich eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz dar, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt; daher sind die in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe eng auszulegen. Fehlt eine der in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen, kann diese Vorschrift nicht mit der Begründung entsprechend angewandt werden, dass die private Nutzung eines einem Unternehmen zugeordneten Gebäudes zu Wohnzwecken unter dem Aspekt des Endverbrauchs einer Vermietung im Sinne dieser Vorschrift am nächsten kommt (vgl. in diesem Sinne Urteil Seeling, Randnrn. 44 und 45).
28 Was speziell die Voraussetzung der Zahlung eines Mietzinses betrifft und ohne die Rechtsprechung in Frage stellen zu wollen, nach der der Begriff der Dienstleistung gegen Entgelt im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie voraussetzt, dass zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem empfangenen Gegenwert ein unmittelbarer Zusammenhang besteht (vgl. insbesondere Urteil vom 29. Juli 2010, Astra Zeneca UK, C-40/09, Slg. 2010, I-7505, Randnr. 27), genügt die Feststellung, dass das Fehlen einer solchen Zahlung nicht durch den Umstand aufgewogen werden kann, dass im Rahmen der Einkommensteuer diese private Nutzung eines dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes als ein quantifizierbarer geldwerter Vorteil und somit in gewisser Weise als ein Teil der Vergütung angesehen wird, auf die der Begünstigte als Gegenleistung für die Zurverfügungstellung des fraglichen Gebäudes verzichtet hat.
29 Denn zunächst einmal kann, wie der Gerichtshof in Randnr. 45 seines Urteils Seeling bereits entschieden hat, Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie nicht entsprechend angewandt werden, indem – wie von der belgischen Regierung vorgeschlagen wird – der für die Berechnung der Einkommensteuer ermittelte geldwerte Vorteil einem Mietzins gleichgestellt wird.
30 Sodann können Situationen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung nicht mit dem Sachverhalt verglichen werden, der dem Urteil in der Rechtssache Astra Zeneca UK zugrunde lag. Wie nämlich aus den Randnrn. 29 bis 31 jenes Urteils hervorgeht, wurde festgestellt, dass in jener Rechtssache ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Aushändigung der fraglichen Einkaufsgutscheine durch Astra Zeneca Ltd an ihre Beschäftigten und dem Teil der Barvergütung bestand, auf den diese als Gegenleistung für diese Aushändigung ausdrücklich verzichten mussten. In den Ausgangsverfahren ist jedoch offenbar weder festgestellt worden, dass den Geschäftsführern ein dem Wert der Zurverfügungstellung des fraglichen Gebäudes entsprechender Betrag von ihrem Lohn abgezogen worden wäre, noch ist sicher, dass ein Teil der von den Geschäftsführern geleisteten Arbeit als Gegenleistung für die Zurverfügungstellung des Gebäudes angesehen werden könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Oktober 1997, Fillibeck, C-258/95, Slg. 1997, I-5577, Randnrn. 15 und 16).
31 Schließlich geht aus Randnr. 15 des Urteils BLM hervor, dass dem Gerichtshof die Tatsache bekannt war, dass nach den nationalen Rechtsvorschriften, um die es in der Rechtssache, die zu jenem Urteil geführt hat, gegangen ist und die im Übrigen mit den in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Rechtsvorschriften identisch sind, die private Nutzung eines einem Verwaltungsratsmitglied der Gesellschaft BLM SA zu Wohnzwecken zur Verfügung gestellten Gebäudes, ohne dass von dem Verwaltungsratsmitglied die Entrichtung eines Mietzinses in Geld verlangt wurde, im Rahmen der Einkommensteuer für natürliche Personen einem geldwerten Vorteil gleichgestellt wurde, wobei eine pauschale Berechnung erfolgte. Diese Gleichstellung, die in den Randnrn. 23 bis 30 des genannten Urteils nicht übernommen wurde, hatte offenkundig keine Auswirkung auf die vom Gerichtshof vertretene Auslegung.
32 Diese Auslegung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Gerichtshof in Randnr. 32 seines Urteils BLM entschieden hat, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob in einer Situation wie in der Rechtssache, die zu diesem Urteil geführt hat, davon ausgegangen werden kann, dass eine Vermietung des Gebäudes im Sinne von Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorliegt.
33 Unstreitig ist es nämlich Sache der nationalen Gerichte, die allein für die Würdigung des Sachverhalts zuständig sind, in Anbetracht der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls die wesentlichen Merkmale des in Rede stehenden Umsatzes zum Zweck seiner Einstufung nach der Sechsten Richtlinie festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2011, Inter-Mark Group, C-530/09, Slg. 2011, I-10675, Randnr. 32). Da es somit nicht Aufgabe des Gerichtshofs war, den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden, hatte er es dem vorlegenden Gericht überlassen, dies unter Berücksichtigung des Umstands zu tun, dass nicht ausgeschlossen war, dass es außer den in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte enthaltenen Beweisen noch andere Beweise dafür gab, dass sämtliche Merkmale einer Vermietung im Sinne von Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie in dem damaligen Rechtsstreit vorlagen.
34 In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Zurverfügungstellung eines Teils eines einer juristischen Person gehörenden Gebäudes für den privaten Bedarf ihres Geschäftsführers, ohne dass vom Begünstigten als Gegenleistung für die Nutzung dieses Gebäudes ein in Geld zu entrichtender Mietzins verlangt wird, keine von der Steuer befreite Vermietung eines Gebäudes im Sinne dieser Richtlinie darstellt und es insoweit ohne Bedeutung ist, dass nach der nationalen einkommensteuerrechtlichen Regelung eine solche Zurverfügungstellung als ein geldwerter Vorteil angesehen wird, der den Begünstigten aus der Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben oder ihres Anstellungsvertrags zufließt.
Zur zweiten Frage
35 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Umstand, dass die Zurverfügungstellung des insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes oder eines Teils davon an die Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter des Unternehmens einen unmittelbaren Zusammenhang zum Betrieb des Unternehmens aufweist oder nicht, erheblich für die Bestimmung ist, ob diese Zurverfügungstellung unter die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. b fällt.
36 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hängt die Anwendung des Systems der Mehrwertsteuer und damit des Berichtigungsmechanismus vom Erwerb eines Gegenstands durch einen als solchen handelnden Steuerpflichtigen ab. Die tatsächliche oder beabsichtigte Verwendung eines Gegenstands bestimmt nur den Umfang des ursprünglichen Vorsteuerabzugs, zu dem der Steuerpflichtige nach Art. 17 der Sechsten Richtlinie befugt ist, und den Umfang etwaiger Berichtigungen während der darauffolgenden Zeiträume (vgl. Urteil Lennartz, Randnr. 15). Ein Steuerpflichtiger, der einen Gegenstand ausschließlich für seinen privaten Bedarf erwirbt, handelt dagegen als Privatperson und nicht als Steuerpflichtiger im Sinne der Sechsten Richtlinie (vgl. Urteil vom 6. Mai 1992, de Jong, C-20/91, Slg. 1992, I-2847, Randnr. 17).
37 Wie sich ferner aus der in den Randnrn. 21 bis 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist ein Steuerpflichtiger, der sich dafür entscheidet, ein Gebäude insgesamt seinem Unternehmen zuzuordnen, und später einen Teil dieses Gebäudes für seinen privaten Bedarf verwendet, zum einen zum Abzug der auf die gesamten Herstellungskosten dieses Gebäudes entrichteten Vorsteuerbeträge berechtigt und zum anderen, als Gegenstück zu diesem Recht, verpflichtet, die Mehrwertsteuer auf den Betrag der für diese Verwendung angefallenen Ausgaben zu entrichten.
38 Anders als die belgische Regierung offenbar geltend macht, ist in einer solchen Situation ein Steuerpflichtiger nicht zum Nachweis verpflichtet, dass die Zurverfügungstellung des insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes oder eines Teils davon an die Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter des Steuerpflichtigen „für Zwecke seiner besteuerten Umsätze“ im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgenommen wird.
39 Denn sobald sich ein Steuerpflichtiger dafür entschieden hat, ein Gebäude insgesamt seinem Unternehmen zuzuordnen, kann er es, wie aus Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Sechsten Richtlinie hervorgeht, für unternehmensfremde Zwecke verwenden und nicht zum Nachweis gezwungen werden, dass diese Verwendung für Zwecke seiner besteuerten Umsätze vorgenommen wird. Der Steuerpflichtige muss somit nicht nachweisen, dass zwischen der Verwendung des fraglichen Gebäudes zu privaten Zwecken und seinen steuerpflichtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang besteht.
40 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Umstand, dass die Zurverfügungstellung des insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes oder eines Teils davon an die Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter des Unternehmens einen unmittelbaren Zusammenhang zum Betrieb des Unternehmens aufweist oder nicht, nicht erheblich für die Bestimmung ist, ob diese Zurverfügungstellung unter die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. b fällt.
Kosten
41 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Zurverfügungstellung eines Teils eines einer juristischen Person gehörenden Gebäudes für den privaten Bedarf ihres Geschäftsführers, ohne dass vom Begünstigten als Gegenleistung für die Nutzung dieses Gebäudes ein in Geld zu entrichtender Mietzins verlangt wird, keine von der Steuer befreite Vermietung eines Gebäudes im Sinne dieser Richtlinie darstellt und es insoweit ohne Bedeutung ist, dass nach der nationalen einkommensteuerrechtlichen Regelung eine solche Zurverfügungstellung als ein geldwerter Vorteil angesehen wird, der den Begünstigten aus der Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben oder ihres Anstellungsvertrags zufließt.
2. Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a und Art. 13 Teil B Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 95/7 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Umstand, dass die Zurverfügungstellung des insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Gebäudes oder eines Teils davon an die Geschäftsführer, Verwaltungsratsmitglieder oder Gesellschafter des Unternehmens einen unmittelbaren Zusammenhang zum Betrieb des Unternehmens aufweist oder nicht, nicht erheblich für die Bestimmung ist, ob diese Zurverfügungstellung unter die Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil B Buchst. b fällt.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Französisch.