URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
22. Oktober 2013(*)
„Richtlinie 77/799/EWG – Gegenseitige Amtshilfe zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern – Informationsaustausch auf Ersuchen – Steuerverfahren – Grundrechte – Begrenzung des Umfangs der Pflichten des ersuchenden Mitgliedstaats und des ersuchten Mitgliedstaats gegenüber dem Steuerpflichtigen – Keine Verpflichtung, den Steuerpflichtigen über das Auskunftsersuchen zu informieren – Keine Verpflichtung, den Steuerpflichtigen zur Teilnahme an der Vernehmung von Zeugen zu laden – Recht des Steuerpflichtigen, die ausgetauschte Information in Frage zu stellen – Mindestinhalt der ausgetauschten Information“
In der Rechtssache C-276/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší správní soud (Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 3. April 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2012, in dem Verfahren
Jiří Sabou
gegen
Finanční ředitelství pro hlavní město Prahu
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, M. Safjan und C. G. Fernlund (Berichterstatter), der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und D. Šváby, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
– der griechischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou und G. Papagianni als Bevollmächtigte,
– der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und J.-S. Pilczer als Bevollmächtigte,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
– der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Barslev, M. Šimerdová und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Juni 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern und der Steuern auf Versicherungsprämien (ABl. L 336, S. 15) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 77/799) im Licht der Grundrechte.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Sabou, einem Profifußballer, und dem Finanční ředitelství pro hlavní město Prahu (Finanzdirektion für die Hauptstadt Prag) über die Höhe seiner steuerpflichtigen Einkommen im Jahr 2004.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 77/799
3 Die Richtlinie 77/799 wurde durch die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799 (ABl. L 64, S. 1) aufgehoben. In Anbetracht des Zeitraums, in den die im Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Ereignisse fallen, ist auf den Rechtsstreit jedoch weiterhin die Richtlinie 77/799 anwendbar.
4 Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Richtlinie 2003/35 lauteten:
„Die Praktiken der Steuerhinterziehung und Steuerflucht über die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten hinaus führen zu Haushaltseinnahmeverlusten, verstoßen gegen den Grundsatz der Steuergerechtigkeit und können Verzerrungen des Kapitalverkehrs und der Wettbewerbsbedingungen bewirken. Sie beeinträchtigen mithin das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes.
Der Rat hat daher am 10. Februar 1975 eine Entschließung über Maßnahmen der Gemeinschaft zur Bekämpfung der internationalen Steuerflucht und Steuerumgehung angenommen.“
5 Die Erwägungsgründe 5 und 6 der Richtlinie 77/799 hatten folgenden Wortlaut:
„Die Mitgliedstaaten sollten sich gegenseitig auf Ersuchen Auskünfte in Einzelfällen erteilen. Der um Auskunft ersuchte Staat sollte die notwendigen Ermittlungen zu deren Erlangung durchführen lassen.
Die Mitgliedstaaten sollten sich auch ohne Ersuchen gegenseitig alle Auskünfte erteilen, die für die zu treffende Festsetzung der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen geeignet erscheinen …“
6 Art. 1 („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie 77/799 sah in Abs. 1 vor:
„Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten erteilen einander gemäß dieser Richtlinie alle Auskünfte, die für die korrekte Festsetzung der Einkommens- und Vermögenssteuern geeignet sein können …“
7 Art. 2 („Auskunft auf Ersuchen“) der Richtlinie 77/799 lautete:
„(1) Die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats kann die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats um die Erteilung der in Artikel 1 Absatz 1 bezeichneten Auskünfte im Einzelfall ersuchen. Die zuständige Behörde des um Auskunft ersuchten Staates braucht dem Ersuchen nicht zu entsprechen, wenn es scheint, dass die zuständige Behörde des ersuchenden Staates ihre eigenen üblichen Auskunftsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft hat, von denen sie nach Lage des Falles ohne Gefährdung des Ermittlungszwecks hätte Gebrauch machen können.
(2) Zur Erteilung der Auskünfte nach Absatz 1 lässt die zuständige Behörde des um Auskunft ersuchten Mitgliedstaats gegebenenfalls die erforderlichen Ermittlungen durchführen.
Zur Beschaffung der erbetenen Auskünfte verfährt die ersuchte Behörde oder die von ihr befasste Verwaltungsbehörde so, als ob sie in Erfüllung eigener Aufgaben oder auf Ersuchen einer anderen Behörde ihres Landes handelte.“
8 Art. 6 („Hinzuziehung von Bediensteten der Steuerverwaltung des interessierten Staates“) der Richtlinie 77/799 bestimmte:
„Zur Anwendung der vorstehenden Bestimmungen können die zuständigen Behörden des auskunftgebenden Mitgliedstaats und des interessierten Mitgliedstaats im Konsultationsverfahren nach Artikel 9 vereinbaren, dass Bediensteten der Steuerverwaltung des interessierten Staates die Anwesenheit im auskunftgebenden Staat gestattet wird. Einzelheiten zur Durchführung von Satz 1 werden gleichfalls in dem Konsultationsverfahren festgelegt.“
9 Art. 8 („Grenzen des Auskunftsaustausches“) der Richtlinie 77/799 sah in Abs. 1 vor:
„Diese Richtlinie verpflichtet einen um Auskunft ersuchten Mitgliedstaat nicht zur Durchführung von Ermittlungen oder zur Übermittlung von Auskünften, wenn seine Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis der Durchführung solcher Ermittlungen oder der Beschaffung der erbetenen Auskünfte durch die zuständige Behörde dieses Staates entgegenstehen.“
Tschechisches Recht
10 Der Zákon č. 253/2000 Sb., o mezinárodní spolupráci při správě daní a o změně zákona č. 531/1990 Sb., o územních finančních orgánech (Gesetz Nr. 253/2000 der Sammlung über die internationale Zusammenarbeit in Steuersachen und zur Änderung des Gesetzes Nr. 531/1990 der Sammlung über die territorialen Finanzbehörden) in geänderter Fassung hat die Bestimmungen der Richtlinie 77/799 in tschechisches Recht umgesetzt.
11 Der Zákon č. 337/1992 Sb., o správě daní a poplatků (Gesetz Nr. 337/1992 der Sammlung über die Steuer- und Abgabenverwaltung) bestimmt in den §§ 16 und 31:
„§ 16
Steuerliche Überwachung
…
4) Der überprüfte Steuerpflichtige hat gegenüber dem Steuerbeamten das Recht,
e) bei der Anhörung und den Ermittlungen vor Ort Fragen an Zeugen und Sachverständige zu richten,
…
§ 31
Untersuchungsmaßnahmen
…
2) … Die Steuerverwaltung informiert den Steuerpflichtigen rechtzeitig über die Durchführung eines Zeugenbeweises, wenn keine Gefahr der Verzögerung besteht.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung für das Jahr 2004 in der Tschechischen Republik gab Herr Sabou Ausgaben in mehreren Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine etwaige Verlagerung seiner Tätigkeit als Fußballer zu einem der Fußballvereine dieser Staaten an. Diese Ausgaben hätten seine steuerpflichtigen Einkommen entsprechend gemindert. Die Einkommensteuer für das Jahr 2004 wurde daher auf 29 700 Tschechische Kronen (CZK) (ungefähr 1 100 Euro) festgesetzt.
13 Die tschechische Steuerverwaltung zog jedoch die Glaubhaftigkeit dieser Ausgaben in Zweifel und führte eine Prüfung durch, die Auskunftsersuchen bei den Steuerbehörden der betreffenden Mitgliedstaaten umfasste, und stützte sich dabei insbesondere auf das Gesetz Nr. 253/2000 und auf die Richtlinie 77/799. Sie ersuchte daher die spanische und die französische Steuerverwaltung sowie die des Vereinigten Königreichs um Amtshilfe und bat u. a. die betreffenden Fußballvereine um Stellungnahme. Aus den von diesen Verwaltungen gegebenen Antworten geht hervor, dass keiner der Fußballvereine, an die er angeblich herangetreten war, Herrn Sabou oder seinen Agenten kannte.
14 Die tschechische Steuerverwaltung wandte sich auch an die ungarische Steuerverwaltung wegen mehrerer von Herrn Sabou vorgelegter Rechnungen über angeblich von einer Gesellschaft mit Sitz in Ungarn erbrachte Dienstleistungen. Die ersuchte Verwaltung antwortete, dass diese Gesellschaft nur die Vermittlerin einer Gesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat sei und dass nur mit einer in diesem Land durchgeführten Prüfung verlässliche Auskünfte erlangt werden könnten.
15 Nach Abschluss ihrer Prüfung erließ die tschechische Steuerverwaltung am 28. Mai 2009 einen ergänzenden Steuerbescheid, mit dem der Betrag der von Herrn Sabou geschuldeten Einkommensteuer für das Jahr 2004 auf 251 604 CZK (ungefähr 9 800 Euro) festgesetzt wurde. Herr Sabou legte gegen diesen Bescheid bei dem Finanční ředitelství pro hlavní město Prahu Einspruch ein, das diesen Bescheid abänderte und die Steuer auf 283 604 CZK (ungefähr 11 000 Euro) festsetzte.
16 Herr Sabou erhob gegen diesen abgeänderten Bescheid Klage beim Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag), das seine Klage mit Urteil vom 27. Juli 2011 abwies. Herr Sabou legte daraufhin Kassationsbeschwerde beim Nejvyšší správní soud (Oberster Verwaltungsgerichtshof) ein.
17 Vor diesem Gericht machte Herr Sabou geltend, dass die tschechische Steuerverwaltung rechtswidrig Informationen über ihn erlangt habe. Erstens habe sie ihn nicht über das von dieser bei anderen Steuerverwaltungen gestellte Auskunftsersuchen informiert, so dass er nicht an der Formulierung der ihnen gestellten Fragen habe mitwirken können. Zweitens sei er entgegen den Rechten, die ihm das tschechische Recht im Rahmen ähnlicher innerstaatlicher Verfahren zuerkenne, auch nicht zur Teilnahme an Zeugenvernehmungen in anderen Mitgliedstaaten geladen worden.
18 In seiner Vorlageentscheidung bemerkt der Nejvyšší správní soud, dass die tschechische Steuerverwaltung die ersuchten Verwaltungen nicht gebeten habe, Zeugenvernehmungen durchzuführen. Wenn diese Verwaltung ein solches Ersuchen gestellt hätte, hätte sie dies Herrn Sabou mitgeteilt, damit er, wenn das Recht der ersuchten Mitgliedstaaten dies erlaube, daran teilnehmen könne.
19 Was den Inhalt der gegebenen Antworten betrifft, bemerkt das vorlegende Gericht, dass bestimmte ersuchte Verwaltungen den Namen der befragten Personen genannt hätten, während andere lediglich die Vereine genannt hätten, von denen die erteilte Auskunft stamme. Außerdem sei nicht mitgeteilt worden, wie die Information – über Telefon, auf elektronischem Weg oder im Lauf einer Anhörung – erlangt worden sei.
20 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob für den Steuerpflichtigen ein Recht besteht, am Austausch von Informationen zwischen Verwaltungen im Rahmen der Richtlinie 77/799 teilzunehmen, und inwieweit die Grundrechte, wie sie von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährt werden, einen Einfluss auf das Bestehen dieses Rechts haben.
21 Der Nejvyšší správní soud stellt fest, dass, wenn dem Steuerpflichtigen ein solches Recht nicht zugestanden würde, dies auf eine Minderung seiner Verfahrensrechte im Vergleich zu den Rechten, die ihm das tschechische Recht im Rahmen eines innerstaatlichen Steuerverfahrens gewähre, hinauslaufen würde. Er verweist auf zwei seiner Urteile vom 30. Januar 2008 bzw. 26. März 2009. Im ersten entschied er, dass bei einer Zeugenvernehmung „die Gewährleistung einer tatsächlichen Gelegenheit, an einer Zeugenvernehmung teilzunehmen, eines der Schlüsselelemente für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Erhebung eines solchen Beweises [ist], und jedwede Umgehung dieser Gewährleistung … grundsätzlich zu vermeiden [ist]“. Im zweiten Urteil, das ein Steuerverfahren in der Tschechischen Republik betraf, das die Inanspruchnahme der Amtshilfe eines anderen Mitgliedstaats nach der Richtlinie 77/799 und die Vernehmung eines Zeugen in diesem Mitgliedstaat einschloss, entschied das vorlegende Gericht, dass die tschechische Steuerverwaltung nur dann, wenn die Verwaltung des ersuchten Staats in Anwendung ihrer eigenen Rechtsvorschriften abgelehnt hätte, den tschechischen Steuerpflichtigen an der Vernehmung teilnehmen zu lassen, berechtigt gewesen wäre, die gemäß dem Recht des ersuchten Staates aus der Zeugenaussage erlangten Informationen als Beweismittel zu verwenden.
22 Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší správní soud das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ergibt sich aus dem Unionsrecht, dass der Steuerpflichtige das Recht hat, über eine Entscheidung der Steuerverwaltung, ein Auskunftsersuchen nach der Richtlinie 77/799 zu stellen, informiert zu werden? Hat der Steuerpflichtige das Recht, sich an der Formulierung des an den ersuchten Mitgliedstaat gerichteten Auskunftsersuchens zu beteiligen? Sofern sich solche Rechte für den Steuerpflichtigen nicht aus dem Recht der Europäischen Union ergeben, kann ihm dann das innerstaatliche Recht entsprechende Rechte zuerkennen?
2. Hat der Steuerpflichtige das Recht, im Verlauf der Behandlung eines Auskunftsersuchens nach der Richtlinie 77/799 an der Vernehmung von Zeugen im ersuchten Staat teilzunehmen? Ist der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet, dem Steuerpflichtigen vorab mitzuteilen, wann die Vernehmung durchgeführt werden wird, wenn der ersuchende Mitgliedstaat hierum gebeten hat?
3. Ist die Steuerverwaltung im ersuchten Mitgliedstaat bei der Erteilung von Auskünften nach der Richtlinie 77/799 verpflichtet, die Antwort in der Weise mit einem minimalen Inhalt zu versehen, dass ersichtlich ist, aus welchen Quellen und auf welche Art und Weise die ersuchte Steuerverwaltung zu den erteilten Auskünften gelangt ist? Kann der Steuerpflichtige die Richtigkeit der so erteilten Auskünfte z. B. aufgrund prozessualer Mängel des im ersuchten Staat vor der Erteilung der Auskunft durchgeführten Verfahrens bestreiten? Oder gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der Zusammenarbeit, wonach die von der ersuchten Steuerverwaltung erteilten Auskünfte nicht in Frage gestellt werden können?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
23 Die Kommission macht vorab geltend, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen zu den Verfahrensrechten des Steuerpflichtigen in Situationen, in denen die Steuerverwaltung beschlossen habe, auf das in der Richtlinie 77/799 vorgesehene Amtshilfeverfahren zurückzugreifen, wissen möchte, ob der Steuerpflichtige bestimmte Rechte aus der Charta ziehe. In Wirklichkeit bezögen sich diese Fragen teilweise auf die Anwendung der Charta in Verbindung mit dem nationalen Recht, und der Gerichtshof sei daher für ihre Beantwortung nicht zuständig.
24 Zum einen ziele das Amtshilfeersuchen auf die korrekte Festsetzung der Einkommensteuer ab, einen nicht vom Unionsrecht harmonisierten Bereich, und zum anderen enthalte die Richtlinie 77/799 keinen Hinweis darauf, wie der ersuchende Staat die Auskunft, die er erhalte, um die Steuer festzusetzen, behandeln müsse. Diese Richtlinie sehe bloß eine Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vor, die Amtshilfe anderer Mitgliedstaaten in Anspruch zu nehmen. Folglich gehöre die Frage, ob der ersuchende Mitgliedstaat verpflichtet sei, den Steuerpflichtigen über das von ihm gestellte Amtshilfeersuchen zu informieren, nicht zum Unionsrecht, sondern einzig zum nationalen Recht.
25 Was zunächst die Charta betrifft, ist festzustellen, dass diese, da sie am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, auf das Amtshilfeverfahren, das zu dem ergänzenden Steuerbescheid vom 28. Mai 2009 geführt hat, nicht anwendbar ist.
26 Was sodann die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung der Richtlinie 77/799 in der vorliegenden Rechtssache angeht, berechtigt der Umstand, dass der ersuchende Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, ein Amtshilfeersuchen an einen anderen Mitgliedstaat zu richten, nicht zu der Annahme, dass die Regeln über das Auskunftsersuchen und die Verwendung der von diesem Mitgliedstaat erlangten Informationen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegen. Sobald ein Mitgliedstaat beschließt, entsprechende Amtshilfe in Anspruch zu nehmen, muss er sich an die von der Richtlinie 77/799 vorgesehenen Regeln halten. Es geht nämlich u. a. aus dem fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Amtshilfe bestimmte Verpflichtungen beachten müssen.
27 Folglich betreffen die Fragen zu den Verpflichtungen des ersuchenden Mitgliedstaats gegenüber dem Steuerpflichtigen die Umsetzung des Unionsrechts, und der Gerichtshof ist dafür zuständig, die Anwendung der Grundrechte und insbesondere des Rechts auf rechtliches Gehör in diesem Zusammenhang zu prüfen.
28 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass die Verteidigungsrechte, die das Recht auf rechtliches Gehör beinhalten, zu den Grundrechten gehören, die integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnrn. 33 und 36). Der Gerichtshof hat im Vorabentscheidungsverfahren, wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit der betreffenden Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können (vgl. insbesondere Urteile vom 18. Juni 1991, ERT, C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42, sowie Sopropé, Randnrn. 33 und 34).
29 Folglich sind alle vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu beantworten.
Zu den Vorlagefragen
Zu den ersten beiden Fragen
30 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, wie es sich insbesondere aus der Richtlinie 77/799 und dem Grundrecht auf rechtliches Gehör ergibt, dem Steuerpflichtigen eines Mitgliedstaats das Recht verleiht, über das von diesem Staat an einen anderen Mitgliedstaat gestellte Amtshilfeersuchen informiert zu werden, an der Formulierung des an den ersuchten Mitgliedstaat gestellten Ersuchens mitzuwirken und an einer von diesem letztgenannten Staat organisierten Zeugenvernehmung teilzunehmen.
31 Zuerst ist zu prüfen, ob das mit der Richtlinie 77/799 geschaffene Amtshilfeverfahren ein solches Recht für den Steuerpflichtigen vorsieht.
32 Wie der Gerichtshof in den Randnrn. 30 und 31 des Urteils vom 27. September 2007, Twoh International (C-184/05, Slg. 2007, I-7897), festgestellt hat, geht aus den ersten beiden Erwägungsgründen der Richtlinie 77/799 hervor, dass mit dieser die internationale Steuerhinterziehung und Steuerflucht bekämpft werden soll und dass sie somit zur Regelung der Zusammenarbeit der Finanzbehörden der Mitgliedstaaten erlassen wurde.
33 Der Gerichtshof hat auch festgestellt, dass nach dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 77/789 die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats die Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaats um Auskünfte bitten „kann“, die sie nicht selbst erlangen kann. Er hat somit hervorgehoben, dass der Unionsgesetzgeber durch die Verwendung des Wortes „kann“ zu erkennen gegeben hat, dass die nationalen Steuerverwaltungen insoweit über eine Möglichkeit verfügen und in keiner Weise verpflichtet sind, auf ein solches Ersuchen zurückzugreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil Twoh International, Randnr. 32).
34 Dagegen ist der ersuchte Mitgliedstaat infolge eines Ersuchens, das von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats unter den in Art. 2 der Richtlinie 77/799 vorgesehenen Voraussetzungen gestellt wird, grundsätzlich verpflichtet, auf dieses Ersuchen zu antworten und gegebenenfalls gemäß Art. 2 der Richtlinie 77/799 die erforderlichen Ermittlungen durchführen zu lassen.
35 Aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 8 der Richtlinie 77/799 geht hervor, dass die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats unter Anwendung ihres nationalen Rechts und insbesondere ihrer Verfahrensregeln auf ein solches Ersuchen antwortet.
36 Aus der Prüfung der Richtlinie 77/799 ergibt sich somit, dass diese die Regelung der Zusammenarbeit der Finanzbehörden der Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat und die Erteilung von Auskünften zwischen zuständigen Behörden koordiniert, indem sie den Mitgliedstaaten bestimmte Verpflichtungen auferlegt. Diese Richtlinie verleiht dem Steuerpflichtigen hingegen keine spezifischen Rechte (vgl. Urteil Twoh International, Randnr. 31) und sieht insbesondere keine Verpflichtung für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten vor, diesen zu konsultieren.
37 Daher ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob der Steuerpflichtige nicht gleichwohl aus den Verteidigungsrechten einen Anspruch darauf herleiten kann, an dem Austausch von Informationen zwischen den zuständigen Behörden teilzunehmen.
38 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen (vgl. Urteil Sopropé, Randnr. 36). Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (vgl. insbesondere Urteile vom 24. Oktober 1996, Kommission/Lisrestal u. a., C-32/95 P, Slg. 1996, I-5373, Randnr. 21, und Sopropé, Randnr. 37). Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (vgl. Urteile Sopropé, Randnr. 38, und vom 10. September 2013, G. und R., C-383/13 PPU, Randnr. 35).
39 Es stellt sich die Frage, ob die Entscheidung einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats, die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats um Amtshilfe zu ersuchen, und die Entscheidung dieser letztgenannten Behörde, Zeugen zu vernehmen, um dieses Ersuchen zu beantworten, Handlungen darstellen, die wegen ihrer Konsequenzen für den Steuerpflichtigen erfordern, dass dieser angehört wird.
40 Alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, haben vorgetragen, dass das an die Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaats gerichtete Auskunftsersuchen eines Mitgliedstaats keine Handlung darstelle, die eine solche Verpflichtung nach sich ziehe. Sie sind zu Recht der Auffassung, dass im Rahmen der Verfahren der Steuerprüfung zu unterscheiden ist zwischen der Ermittlungsphase, während der Informationen gesammelt werden und zu der das Auskunftsersuchen einer Steuerverwaltung an eine andere gehört, und der kontradiktorischen Phase zwischen der Steuerverwaltung und dem Steuerpflichtigen, an den sie gerichtet ist und die mit der Versendung eines Vorschlags zur Berichtigung an diesen beginnt.
41 Wenn die Verwaltung Informationen sammelt, ist sie nicht verpflichtet, dies dem Steuerpflichtigen anzuzeigen und seine Stellungnahme einzuholen.
42 Das von der Steuerverwaltung in Anwendung der Richtlinie 77/799 gestellte Amtshilfeersuchen ist jedoch Teil der Phase der Sammlung von Informationen.
43 Gleiches gilt für die von der ersuchten Steuerverwaltung übermittelte Auskunft und für die von dieser Verwaltung durchgeführten Vorermittlungen einschließlich der Vernehmung von Zeugen.
44 Daraus folgt, dass die Beachtung der Verteidigungsrechte des Steuerpflichtigen nicht verlangt, dass dieser an dem vom ersuchenden Staat an den ersuchten Staat gestellten Auskunftsersuchen mitwirkt. Sie verlangt auch nicht, dass der Steuerpflichtige zu dem Zeitpunkt angehört wird, zu dem Ermittlungen, die die Vernehmung von Zeugen beinhalten können, im ersuchten Staat durchgeführt werden oder bevor dieser Mitgliedstaat Auskünfte an den ersuchenden Mitgliedstaat erteilt.
45 Nichts hindert einen Mitgliedstaat jedoch daran, den Anspruch auf rechtliches Gehör auf andere Teile der Ermittlungsphase auszudehnen, indem der Steuerpflichtige an verschiedenen Phasen der Sammlung von Informationen und insbesondere der Vernehmung von Zeugen beteiligt wird.
46 Daher ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht, wie es sich insbesondere aus der Richtlinie 77/799 und dem Grundrecht auf rechtliches Gehör ergibt, dahin auszulegen ist, dass es dem Steuerpflichtigen eines Mitgliedstaats weder das Recht verleiht, über das Amtshilfeersuchen informiert zu werden, das dieser Staat an einen anderen Mitgliedstaat stellt, um u. a. die von diesem Steuerpflichtigen im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung gemachten Angaben zu überprüfen, noch das Recht, an der Formulierung des an den ersuchten Mitgliedstaat gestellten Ersuchens mitzuwirken, noch das Recht, an von diesem letztgenannten Staat organisierten Zeugenvernehmungen teilzunehmen.
Zur dritten Frage
47 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 77/799 dahin auszulegen ist, dass zum einen der Steuerpflichtige die ihn betreffende, der Steuerverwaltung des ersuchenden Mitgliedstaats erteilte Auskunft in Frage stellen kann und zum anderen die Steuerverwaltung des ersuchten Mitgliedstaats, wenn sie die ermittelte Auskunft erteilt, angeben muss, aus welchen Quellen und auf welche Art und Weise sie die Informationen erlangt hat.
48 Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinie 77/799 nicht vom Recht des Steuerpflichtigen handelt, die Richtigkeit der erteilten Auskunft in Frage zu stellen, und keine besondere Anforderung an den Inhalt der erteilten Auskunft stellt.
49 Es ist daher einzig Sache der nationalen Rechtsordnungen, die diesbezüglichen Regeln festzulegen. Der Steuerpflichtige kann die ihn betreffende, der Steuerverwaltung des ersuchenden Mitgliedstaats erteilte Auskunft gemäß den im betreffenden Mitgliedstaat anwendbaren Regeln und Verfahren in Frage stellen.
50 Demzufolge ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 77/799 nicht die Frage regelt, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Richtigkeit der vom ersuchten Mitgliedstaat erteilten Auskunft in Frage stellen kann, und keine besondere Anforderung an den Inhalt der erteilten Auskunft stellt.
Kosten
51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Das Unionsrecht, wie es sich insbesondere aus der Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern und der Steuern auf Versicherungsprämien in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung und aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör ergibt, ist dahin auszulegen, dass es dem Steuerpflichtigen eines Mitgliedstaats weder das Recht verleiht, über das Amtshilfeersuchen informiert zu werden, das dieser Staat an einen anderen Mitgliedstaat stellt, um u. a. die von diesem Steuerpflichtigen im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung gemachten Angaben zu überprüfen, noch das Recht, an der Formulierung des an den ersuchten Mitgliedstaat gestellten Ersuchens mitzuwirken, noch das Recht, an von diesem letztgenannten Staat organisierten Zeugenvernehmungen teilzunehmen.
2. Die Richtlinie 77/799 in der durch die Richtlinie 2006/98 geänderten Fassung regelt nicht die Frage, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Richtigkeit der vom ersuchten Mitgliedstaat erteilten Auskunft in Frage stellen kann, und stellt keine besondere Anforderung an den Inhalt der erteilten Auskunft.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Tschechisch.