URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
5. Februar 2014(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Direkte Steuern – Niederlassungsfreiheit – Nationale Steuerregelung, mit der eine Sondersteuer auf den Einzelhandelsumsatz in Verkaufsräumen eingeführt wird – Kaufhausketten – Bestehen einer diskriminierenden Wirkung – Mittelbare Diskriminierung“
In der Rechtssache C-385/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Székesfehérvári Törvényszék (Ungarn) mit Entscheidung vom 26. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 13. August 2012, in dem Verfahren
Hervis Sport- és Divatkereskedelmi Kft.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, L. Bay Larsen, T. von Danwitz, E. Juhász, M. Safjan und J. L. da Cruz Vilaça, der Richter A. Rosas, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und A. Arabadjiev sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Hervis Sport- és Divatkereskedelmi Kft., vertreten durch L. Darázs und A. Dezső, ügyvédek,
– der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága, vertreten durch Z. Horváthné Ádám,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer und F. Koppensteiner als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Talabér-Ritz und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. September 2013
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18, 26, 49, 54 bis 56, 63, 65 und 110 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hervis Sport- és Divatkereskedelmi Kft. (im Folgenden: Hervis) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Közép-dunántúli Regionális Adó Főigazgatósága (regionale Oberfinanzdirektion Közép-Dunántúl, die zur nationalen Steuer- und Zollverwaltung gehört) über die Entrichtung der von Ungarn für die Jahre 2010 bis 2012 eingeführten Sondersteuer auf den Umsatz bestimmter Sektoren des Einzelhandels in Verkaufsräumen.
Rechtlicher Rahmen
3 In der Präambel des Gesetzes Nr. XCIV 2010 über die Sondersteuer für bestimmte Sektoren (egyes ágazatokat terhelő különadóról szóló 2010. évi XCIV. Törvény, im Folgenden: Sondersteuergesetz) heißt es:
„Im Rahmen der Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichts erlässt das Parlament das nachstehende Gesetz über die Einführung einer Sondersteuer zulasten der Steuerpflichtigen, deren Fähigkeit, einen Beitrag zur Bestreitung der öffentlichen Lasten zu leisten, die allgemeine Steuerpflicht übersteigt.“
4 Art. 1 („Erläuternde Bestimmungen“) dieses Gesetzes bestimmt:
„Im Sinne dieses Gesetzes bedeutet:
1. Einzelhandelstätigkeit in Verkaufsräumen: nach dem am 1. Januar 2009 geltenden System zur einheitlichen Klassifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten die Tätigkeiten, die in Abschnitt Nr. 45.1 - mit Ausnahme des Großhandels mit Fahrzeugen und Anhängern -, in die Abschnitte Nrn. 45.32 und 45.40 - mit Ausnahme der Instandsetzung von und des Großhandels mit Krafträdern - sowie in die Abschnitte Nrn. 47.1 bis 47.9 eingereiht sind, d. h. alle gewerblichen Tätigkeiten, in deren Rahmen der Käufer auch eine nicht als Unternehmer geltende natürliche Person sein kann.
…
5. Nettoumsatz: im Fall eines dem Buchhaltungsgesetz unterliegenden Steuerpflichtigen der aus dem Verkauf stammende Nettoumsatz im Sinne des Buchhaltungsgesetzes; im Fall eines der vereinfachten Steuer für Unternehmer unterliegenden Steuerpflichtigen, der nicht dem Buchhaltungsgesetz unterliegt, der Umsatz ohne [Mehrwertsteuer] im Sinne des Gesetzes über die Besteuerungsregelung; im Fall eines dem Gesetz über die Einkommensteuer der Privatpersonen unterliegenden Steuerpflichtigen die Einkünfte ohne Mehrwertsteuer im Sinne des Einkommensteuergesetzes. …
6. Unternehmer: der Unternehmer im Sinne des Gesetzes über die örtlichen Steuern.“
5 Art. 2 des Sondersteuergesetzes lautet:
„Der Steuer unterliegen:
a) der Einzelhandel in Verkaufsräumen;
b) die Tätigkeiten der Telekommunikation und
c) die Lieferung von Energie.“
6 Art. 3 dieses Gesetzes definiert die Steuerpflichtigen wie folgt:
„(1) Steuerpflichtig sind die juristischen Personen, die sonstigen Organisationen im Sinne des allgemeinen Steuergesetzbuchs und die Selbständigen, die eine der Steuer unterliegende Tätigkeit im Sinne von Art. 2 ausüben.
(2) Ebenfalls steuerpflichtig sind die gebietsfremden Organisationen und Privatpersonen für die der Steuer unterliegenden Tätigkeiten im Sinne von Art. 2, sofern sie diese Tätigkeiten auf dem Inlandsmarkt über Zweigniederlassungen betreiben.“
7 Art. 4 dieses Gesetzes lautet:
„(1) Besteuerungsgrundlage ist der Nettoumsatz der Steuerpflichtigen aus den Tätigkeiten im Sinne von Art. 2 im jeweiligen Steuerjahr.
(2) Im Fall einer Tätigkeit im Sinne von Art. 2 Buchst. a umfasst die Besteuerungsgrundlage den Umsatz aus der Leistung, die im Rahmen der Vermarktung der angekauften Waren vom Lieferanten der zum Zweck eines Einzelhandelsverkaufs angekauften Waren (dem Hersteller oder Vertreiber der Ware) erbracht wird, und den Betrag der Einkünfte aus dem von diesem Lieferanten gewährten Preisnachlass.“
8 Art. 5 des Gesetzes, der den Satz dieser Steuer festsetzt, bestimmt:
„Der anwendbare Satz
a) auf die Tätigkeiten im Sinne von Art. 2 Buchst. a beträgt 0 % für den Teil der Besteuerungsgrundlage, der 500 Millionen [Ungarische Forint (HUF)] nicht übersteigt, 0,1 % für den Teil, der 500 Millionen HUF, jedoch nicht 30 Milliarden HUF übersteigt, 0,4 % für den Teil, der 30 Milliarden HUF, jedoch nicht 100 Milliarden HUF übersteigt, und 2,5 % für den Teil, der 100 Milliarden HUF übersteigt.
…“
9 Art. 6 des Sondersteuergesetzes, der Bestimmungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung enthält, lautet:
„Ist die Tätigkeit des Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 2 Buchst. c auch nach Art. 2 Buchst. a und/oder b steuerpflichtig, hat der Steuerpflichtige für die Tätigkeit im Sinne von Art. 2 Buchst. a oder b nur den höchsten der Beträge zu entrichten, die anhand der in Art. 5 Buchst. a und c oder Art. 5 Buchst. b und c festgelegten Sätze berechnet worden sind.“
10 Art. 7 des Gesetzes legt die Bedingungen fest, unter denen die Steuer auf sogenannte verbundene Unternehmen Anwendung findet:
„(1) Die Steuer der als verbundenes Unternehmen im Sinne des Gesetzes [Nr. LXXXI 1996] über die Körperschaftsteuer und die Dividendensteuer [im Folgenden: Gesetz Nr. LXXXI 1996] eingestuften Steuerpflichtigen wird durch Zusammenrechnung der Nettoumsätze aus den Tätigkeiten im Sinne von Art. 2 Buchst. a und b, die von Beziehungen eines verbundenen Unternehmens unterhaltenden Steuerpflichtigen ausgeübt werden, bestimmt, und der durch Anwendung des in Art. 5 festgelegten Satzes auf diese Summe erhaltene Betrag ist zwischen den Steuerpflichtigen entsprechend dem Anteil ihrer Nettoumsätze aus den Tätigkeiten im Sinne von Art. 2 Buchst. a und Buchst. b am gesamten Nettoumsatz sämtlicher verbundener Steuerpflichtiger aus den Tätigkeiten im Sinne von Art. 2 Buchst. a und b aufzuteilen.“
11 Art. 4 des Gesetzes Nr. LXXXI 1996, auf den Art. 7 des Sondersteuergesetzes Bezug nimmt, bestimmt den Begriff des verbundenen Unternehmens wie folgt:
„Im Sinne dieses Gesetzes
…
23. wird ein verbundenes Unternehmen gebildet durch:
a) den Steuerpflichtigen und eine Person, hinsichtlich deren er unmittelbar oder mittelbar über einen mehrheitlichen Einfluss nach dem Zivilgesetzbuch verfügt;
b) den Steuerpflichtigen und eine Person, die unmittelbar oder mittelbar über einen mehrheitlichen Einfluss auf den Steuerpflichtigen nach dem Zivilgesetzbuch verfügt;
c) den Steuerpflichtigen und eine andere Person, wenn ein Dritter unmittelbar oder mittelbar über einen mehrheitlichen Einfluss auf beide nach dem Zivilgesetzbuch verfügt; nahe Angehörige, die über einen mehrheitlichen Einfluss auf den Steuerpflichtigen und die andere Person verfügen, sind als Dritte anzusehen;
d) einen ausländischen Unternehmer und seine ungarische Niederlassung, die Niederlassungen des ausländischen Unternehmers, die ungarische Niederlassung des ausländischen Unternehmers und jede Person, die mit dem ausländischen Unternehmer in einer Beziehung gemäß Buchstaben a bis c steht;
e) den Steuerpflichtigen und seine ausländische Niederlassung sowie die ausländische Niederlassung des Steuerpflichtigen und jede Person, die mit dem Steuerpflichtigen in einer Beziehung gemäß Buchstaben a bis c steht.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
12 Hervis betreibt in Ungarn Sportartikelläden unter dem Firmenzeichen „Hervis Sport“. Ihre unmittelbaren Wettbewerber sind die Ladenketten „Décathlon“, „Intersport“ und „SPG Sporcikk“.
13 Hervis ist eine juristische Person und Tochtergesellschaft der SPAR Österreichische Warenhandels AG (im Folgenden: SPAR). Hervis gehört gemäß Art. 7 des Sondersteuergesetzes, der den Begriff „verbundene Unternehmen“ im Sinne dieses Gesetzes definiert, zur SPAR-Gruppe. In dieser Eigenschaft ist Hervis für einen ihrem Umsatzanteil entsprechenden Teil der Sondersteuer steuerpflichtig, die von allen dieser Gruppe angehörenden Unternehmen für ihren in Ungarn erzielten Gesamtumsatz geschuldet wird.
14 Wegen der Anwendung des stark progressiven Tarifs der Sondersteuer auf den Gesamtumsatz dieser Unternehmen unterlag Hervis einem deutlich höheren durchschnittlichen Steuersatz, als er der allein aus dem Umsatz ihrer eigenen Läden gebildeten Besteuerungsgrundlage entsprochen hätte. Nach Aussage von Hervis wird aber die Steuer, die von den mit ihr im Wettbewerb stehenden ungarischen Ladenketten geschuldet wird, auf der letztgenannten Grundlage berechnet, weil sie meistens als Franchiseverkaufsstätten mit eigener Rechtspersönlichkeit organisiert seien und keiner Gruppe angehörten.
15 Hervis leitet daraus ab, dass ein solches System gegen die Art. 18, 49 bis 55, 65 und 110 AEUV verstoße und eine verbotene staatliche Beihilfe darstelle, da es im Ergebnis der Sondersteuer unterliegende juristische Personen, die im Sinne des Gesetzes Nr. LXXXI 1996 mit gebietsfremden Unternehmen verbunden seien, höher besteuere. Nachdem die Steuerverwaltung ihren auf Befreiung von der Sondersteuer für das Jahr 2010 gerichteten Einspruch zurückgewiesen hatte, erhob Hervis beim als Verwaltungsgericht entscheidenden Székesfehérvári Törvényszék (Gericht Székesfehérvár) Klage auf Feststellung, dass die Bestimmungen des Sondersteuergesetzes gegen das Unionsrecht verstießen.
16 Unter diesen Umständen hat das Székesfehérvári Törvényszék das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit den Vertragsbestimmungen über den Grundsatz des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV und Art. 26 AEUV), den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV), den Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 54 AEUV), den Grundsatz der Gleichheit der Beteiligung am Kapital von Gesellschaften im Sinne von Art. 54 AEUV (Art. 55 AEUV), den Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 56 AEUV), den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs (Art. 63 AEUV und Art. 65 AEUV) und den Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung von Gesellschaften (Art. 110 AEUV) vereinbar, dass Steuerpflichtige, die eine Einzelhandelstätigkeit in Verkaufsräumen ausüben, eine Sondersteuer entrichten müssen, wenn ihr jährliches Nettoumsatzvolumen 500 Mio. HUF übersteigt?
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
17 Die ungarische Regierung macht geltend, dass es dem vom Székesfehérvári Törvényszék vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen an Genauigkeit mangele. Es stelle nämlich die genauen Gründe, die das vorlegende Gericht zu der Annahme veranlasst hätten, dass die Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung der in der Vorlageentscheidung angeführten Bestimmungen des AEU-Vertrags erfordere, nicht hinreichend dar.
18 Die in der Vorlageentscheidung gemachten Angaben stehen jedoch in einem offenkundigen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens und erlauben es, wie aus den Rn. 12 bis 15 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Tragweite der Vorlagefrage und den Kontext, in dem sie gestellt wird, zu bestimmen. Ferner gibt die Vorlageentscheidung, die das Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens zur Auslegung des Unionsrechts zusammenfasst und Zweifel in Bezug auf die Richtigkeit dieser Auslegung zum Ausdruck bringt, die Gründe, die das vorlegende Gericht zu der Auffassung veranlasst haben, dass eine Auslegung des Unionsrechts für den Erlass seines Urteils erforderlich sei, hinreichend an.
19 Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur Vorlagefrage
Vorbemerkungen
20 Da sich die Vorlagefrage gleichzeitig auf die Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Kapitalverkehr bezieht, ist zunächst zu bestimmen, um welche Freiheit es im Ausgangsverfahren geht.
21 Hierzu ist nach gefestigter Rechtsprechung auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abzustellen (Urteil vom 13. November 2012, Test Claimants in the FII Group Litigation, C-35/11, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Eine nationale Regelung, die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, fällt in den Anwendungsbereich von Art. 49 AEUV, der die Niederlassungsfreiheit betrifft (vgl. Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens betrifft den angeblich diskriminierenden Satz der Sondersteuer für „als verbundenes Unternehmen eingestufte Steuerpflichtige“ im Sinne des Gesetzes Nr. LXXXI 1996. Art. 4 dieses Gesetzes bezieht sich für die Definition dieses Begriffs auf den Umstand, dass ein Unternehmen eine Beteiligung hält, die die unmittelbare oder mittelbare Ausübung eines Mehrheitseinflusses in einem anderen Unternehmen ermöglicht.
24 Unter diesen Umständen betrifft das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit. Daher erübrigt sich eine Auslegung der Art. 56 AEUV, 63 AEUV und 65 AEUV, die den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Kapitalverkehr betreffen.
25 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass Art. 18 AEUV als eigenständige Grundlage nur auf unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewendet werden kann, für die der Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht. Das Diskriminierungsverbot ist aber im Bereich der Niederlassungsfreiheit durch Art. 49 AEUV umgesetzt worden (Urteil vom 11. März 2010, Attanasio Group, C-384/08, Slg. 2010, I-2055, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Daher erübrigt sich auch eine Auslegung von Art. 18 AEUV und im Übrigen auch von Art. 26 AEUV.
27 Da es sich schließlich nicht erweist, dass die Sondersteuer Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten stärker belastet als inländische Erzeugnisse, ist die Auslegung von Art. 110 AEUV im Rahmen des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens unerheblich.
28 Nach alledem ist davon auszugehen, dass mit der Vorlagefrage Auskunft darüber begehrt wird, ob die Art. 49 AEUV und 54 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Umsatzsteuerregelung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art entgegenstehen.
Zur Auslegung der Art. 49 AEUV und 54 AEUV
29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 49 AEUV und 54 AEUV einer Umsatzsteuerregelung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art entgegenstehen, wenn diese Steuer potenziell diskriminierende Wirkung gegenüber steuerpflichtigen juristischen Personen entfaltet, die innerhalb einer Gruppe „verbundene Unternehmen“ im Sinne dieser Regelung mit einem Unternehmen bilden, das seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.
30 Nach ständiger Rechtsprechung verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund des Sitzes der Unternehmen, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. entsprechend u. a. Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93, Slg. 1995, I-225, Rn. 26, vom 22. März 2007, Talotta, C-383/05, Slg. 2007, I-2555, Rn. 17, und vom 18. März 2010, Gielen, C-440/08, Slg. 2010, I-2323, Rn. 37).
31 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung stellt insbesondere ein Kriterium der Unterscheidung zwischen den Sondersteuerpflichtigen, die im Sinne der nationalen Regelung mit anderen Unternehmen in derselben Gruppe verbunden sind, und den Steuerpflichtigen, die keiner Unternehmensgruppe angehören, auf.
32 Dieses Unterscheidungskriterium führt keine unmittelbare Diskriminierung ein, da die Sondersteuer auf den Einzelhandel in Verkaufsräumen für alle Unternehmen, die in Ungarn entsprechend tätig sind, unter identischen Bedingungen erhoben wird.
33 Es bewirkt jedoch, dass juristische Personen, die mit anderen Unternehmen innerhalb einer Gruppe verbunden sind, gegenüber juristischen Personen benachteiligt werden, die keiner solchen Unternehmensgruppe angehören.
34 Dies ist mit der Kombination zweier Merkmale der Sondersteuer zu erklären.
35 Zum einen ist der Satz dieser Steuer je nach Umsatz, insbesondere auf seiner höchsten Tarifstufe, sehr stark progressiv. So beträgt er 0,1 % von 500 Mio. bis 30 Mrd. HUF, 0,4 % von 30 bis 100 Mrd. HUF und 2,5 % bei mehr als 100 Mrd. HUF.
36 Zum anderen wird dieser Tarif auf eine Bemessungsgrundlage angewandt, die bei einer Unternehmensgruppe angehörenden Steuerpflichtigen den konsolidierten Umsatz sämtlicher „verbundener“ Steuerpflichtiger der Gruppe (vor Aufteilung der gesamten Steuer nach dem Anteil des einzelnen Steuerpflichtigen am Umsatz) umfasst, während sie sich bei juristischen Personen wie den unabhängigen Franchisenehmern auf den Umsatz des Steuerpflichtigen für sich genommen beschränkt. Dies bedeutet, dass die einer Unternehmensgruppe angehörenden Steuerpflichtigen auf der Grundlage eines fiktiven Umsatzes besteuert werden.
37 Hervis, die österreichische Regierung und die Europäische Kommission machen geltend, dass die Art. 49 AEUV und 54 AEUV einer solchen unterschiedlichen Behandlung entgegenstünden, die rechtlich auf dem scheinbar objektiven Unterscheidungskriterium der Umsatzhöhe beruhe, jedoch faktisch die Tochtergesellschaften von Muttergesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten wegen der Struktur des Einzelhandels in Ungarn und insbesondere des Umstands, dass Großkaufhäuser, die solchen Unternehmen gehörten, allgemein, wie im Fall von Hervis, in Form von Tochtergesellschaften betrieben würden, benachteilige.
38 Es ist festzustellen, dass angesichts einer steuerlichen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die die Besteuerung des Umsatzes zum Gegenstand hat, die Situation eines Steuerpflichtigen, der einer Unternehmensgruppe angehört, mit derjenigen eines Steuerpflichtigen vergleichbar ist, der keiner solchen Gruppe angehört. Insbesondere unterliegen sowohl juristische Personen, die sich auf dem Markt des Einzelhandels in Verkaufsräumen im betreffenden Mitgliedstaat betätigen und einer Unternehmensgruppe angehören, als auch diejenigen, die keiner solchen Gruppe angehören, der Sondersteuer, und ihre Umsätze sind von denjenigen anderer Steuerpflichtiger unabhängig.
39 Wenn feststeht, dass auf dem Markt des Einzelhandels in Verkaufsräumen in dem betreffenden Mitgliedstaat die Steuerpflichtigen, die einer Unternehmensgruppe angehören und von der höchsten Tarifstufe der Sondersteuer erfasst werden, in den meisten Fällen mit Unternehmen, die ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben, im Sinne der nationalen Regelung „verbunden“ sind, birgt unter Umständen die Anwendung des stark progressiven Tarifs der Sondersteuer auf eine am Umsatz ausgerichtete konsolidierte Bemessungsgrundlage die Gefahr, sich insbesondere zum Nachteil der Steuerpflichtigen auszuwirken, die mit Unternehmen „verbunden“ sind, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben.
40 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzung hinsichtlich des Gesamtkontextes erfüllt ist, in dem die nationale Regelung ihre Wirkungen entfaltet.
41 Ist dies der Fall, errichtet eine Regelung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art, obwohl sie keine förmliche Unterscheidung nach dem Sitz der Unternehmen einführt, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Sitzes der Unternehmen im Sinne der Art. 49 und 54 AEUV (vgl. in diesem Sinne Urteil Gielen, Rn. 48).
42 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine solche Beschränkung nur statthaft, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Sie muss dann aber außerdem geeignet sein, die Erreichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C-371/10, Slg. 2011, I-12273, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 In diesem Zusammenhang hat sich die ungarische Regierung weder in ihren schriftlichen Erklärungen noch in der mündlichen Verhandlung auf einen Grund des Allgemeininteresses berufen, der es erlaubte, ein System wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegebenenfalls zu rechtfertigen.
44 Auf alle Fälle ist darauf hinzuweisen, dass weder der Schutz der Wirtschaft des Landes (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2000, Verkooijen, C-35/98, Slg. 2000, I-4071, Rn. 47 und 48) noch die Wiederherstellung des Haushaltsgleichgewichts durch Erhöhung der Steuereinnahmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2002, X und Y, C-436/00, Slg. 2002, I-10829, Rn. 50) mit Erfolg zugunsten eines solchen Systems angeführt werden könnten.
45 Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Art. 49 AEUV und 54 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats betreffend eine Steuer auf den Umsatz des Einzelhandels in Verkaufsräumen entgegenstehen, die die Steuerpflichtigen, die in einer Unternehmensgruppe „verbundene Unternehmen“ im Sinne dieser Regelung bilden, verpflichtet, ihre Umsätze im Hinblick auf die Anwendung eines stark progressiven Steuersatzes zusammenzurechnen und sodann den auf diese Weise erhaltenen Steuerbetrag anteilsmäßig nach ihrem tatsächlichen Umsatz untereinander aufzuteilen, wenn – was zu prüfen dem vorlegenden Gericht obliegt – die einer Unternehmensgruppe angehörenden und von der höchsten Tarifstufe der Sondersteuer erfassten Steuerpflichtigen in den meisten Fällen mit Unternehmen „verbunden“ sind, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben.
Kosten
46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 49 AEUV und 54 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats betreffend eine Steuer auf den Umsatz des Einzelhandels in Verkaufsräumen entgegenstehen, die die Steuerpflichtigen, die in einer Unternehmensgruppe „verbundene Unternehmen“ im Sinne dieser Regelung bilden, verpflichtet, ihre Umsätze im Hinblick auf die Anwendung eines stark progressiven Steuersatzes zusammenzurechnen und sodann den auf diese Weise erhaltenen Steuerbetrag anteilsmäßig nach ihrem tatsächlichen Umsatz untereinander aufzuteilen, wenn – was zu prüfen dem vorlegenden Gericht obliegt – die einer Unternehmensgruppe angehörenden und von der höchsten Tarifstufe der Sondersteuer erfassten Steuerpflichtigen in den meisten Fällen mit Unternehmen „verbunden“ sind, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Ungarisch.