URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
11. Dezember 2014(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Indirekte Steuern – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie – Art. 18 und 22 – Recht auf Vorsteuerabzug – Innergemeinschaftlicher Erwerb – Reverse-Charge-Verfahren – Materielle Anforderungen – Formelle Anforderungen – Missachtung formeller Anforderungen“
In der Rechtssache C-590/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 7. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 2013, in dem Verfahren
Idexx Laboratories Italia Srl
gegen
Agenzia delle Entrate
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin C. Toader in Wahrnehmung der Aufgaben der Kammerpräsidentin sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Idexx Laboratories Italia Srl, vertreten durch F. Tesauro, avvocato,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Socio, avvocato dello Stato,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und D. Recchia als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 geänderten Fassung (ABl. L 376, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von zwei – vom vorlegenden Gericht verbundenen – Rechtsstreitigkeiten zwischen der Idexx Laboratories Italia Srl (im Folgenden: Idexx) und der Agenzia delle Entrate – Ufficio di Milano 1 (Steuerbehörde – Büro Mailand 1, im Folgenden: Agenzia) zum einen wegen eines von dieser Behörde erlassenen Erhebungsbescheids zur Berichtigung der von Idexx für das Jahr 1998 eingereichten Mehrwertsteuererklärung und zum anderen über die Ablehnung eines von dieser Gesellschaft gestellten Antrags auf Niederschlagung des Verfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Sechste Richtlinie enthält einen Abschnitt XVIa („Übergangsregelung für die Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten“), der durch die Richtlinie 91/680 eingefügt wurde und u. a. die Art. 28f bis 28h umfasst.
4 Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
5 In seiner Fassung aufgrund von Art. 28f der Sechsten Richtlinie sieht deren Art. 17 Abs. 2 vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
b) die Mehrwertsteuer, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist,
c) die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 5 Absatz 7 Buchstabe a), Artikel 6 Absatz 3 und Artikel 28a Absatz 6 geschuldet wird[,]
d) die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 28a Absatz 1 Buchstabe a) geschuldet wird.“
6 In seiner Fassung aufgrund von Art. 28f der Sechsten Richtlinie sieht deren Art. 18 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) in Abs. 1 Buchst. d vor:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige
…
d) bei der Entrichtung der Steuer als Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger im Falle der Anwendung des Artikels 21 Ziffer 1 die von jedem Mitgliedstaat vorgeschriebenen Förmlichkeiten erfüllen.“
7 In Bezug auf die Mehrwertsteuerschuldner bestimmt Art. 21 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie in seiner Fassung aufgrund von Art. 28g der Richtlinie, dass die Mehrwertsteuer im inneren Anwendungsbereich von der „Person, die einen steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb bewirkt“, geschuldet wird.
8 In Art. 22 der Sechsten Richtlinie in seiner Fassung aufgrund von Art. 28h („Verpflichtungen im inneren Anwendungsbereich“) der Richtlinie heißt es:
„…
2. a) Jeder Steuerpflichtige hat Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen.
b) …
Jeder Steuerpflichtige muss ein Register über das Material führen, das an ihn aus einem anderen Mitgliedstaat von einem in diesem Mitgliedstaat Steuerpflichtigen mit Umsatzsteuer-Identifikationsnummer oder für dessen Rechnung im Hinblick auf die Ablieferung eines aufgrund eines Werkvertrages hergestellten beweglichen Gegenstandes versandt worden ist.
…
4. a) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. …
b) Die Steuererklärung muss alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthalten, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der sich auf diese Steuer und Abzüge beziehenden Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Festlegung der Bemessungsgrundlage erforderlich ist.
c) Die Steuererklärung muss außerdem folgende Angaben enthalten:
…
– zum anderen den Gesamtbetrag – ohne Mehrwertsteuer – des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen nach Artikel 28a Absätze 1 und 6, für den der Steueranspruch eingetreten ist.
…
(8) Die Mitgliedstaaten können unter Beachtung der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen im Inland und zwischen Mitgliedstaaten bewirkten Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Förmlichkeiten beim Grenzübertritt führen.
…“
Italienisches Recht
9 Die wichtigsten einschlägigen Bestimmungen im Bereich der Mehrwertsteuer finden sich zum einen im mehrfach geänderten Dekret Nr. 633 des Präsidenten der Republik über die Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer (Decreto del presidente della Repubblica, n. 633, recante istituzione e disciplina dell’imposta sul valore aggiunto) vom 26. Oktober 1972 (ordentliche Beilage zur GURI Nr. 292 vom 11. November 1972, im Folgenden: DPR Nr. 633/72) und zum anderen im Decreto-legge Nr. 331 über die Angleichung der Bestimmungen über die Besteuerung von Mineralölen, Alkohol, alkoholischen Getränken und Tabakwaren sowie die Mehrwertsteuer an Richtlinien der EWG, sich aus dieser Angleichung ergebende Änderungen sowie Bestimmungen über zugelassene Steuerbeistandszentren, Steuererstattungsverfahren, den Ausschluss der ILOR von den Einkünften der Unternehmen bis zu dem Betrag, der dem direkten Arbeitseinsatz entspricht, die Einführung einer außerordentlichen staatlichen Abgabe auf bestimmte Güter für 1993 und sonstige steuerliche Bestimmungen (Decreto-legge, n. 331, recante armonizzazione delle disposizioni in materia di imposte sugli oli minerali, sull’alcole, sulle bevande alcoliche, sui tabacchi lavorati e in materia di IVA con quelle recate da direttive CEE e modificazioni conseguenti a detta armonizzazione, nonché disposizioni concernenti la disciplina dei centri autorizzati di assistenza fiscale, le procedure dei rimborsi di imposta, l’esclusione dall’ILOR dei redditi di impresa fino all’ammontare corrispondente al contributo diretto lavorativo, l’istituzione per il 1993 di un’imposta erariale straordinaria su taluni beni ed altre disposizioni tributarie) vom 30. August 1993 (GURI Nr. 203 vom 30. August 1993), als Gesetz verabschiedet durch das Gesetz Nr. 427 vom 29. Oktober 1993 (GURI Nr. 255 vom 29. Oktober 1993, im Folgenden: DL Nr. 331/93).
10 Die einschlägigen Bestimmungen zu den Einzelheiten und allgemeinen Bedingungen für die Rechnungstellung und die Registrierung von Rechnungen und Erwerbe sind in den Art. 21, 23 und 25 DPR Nr. 633/72 enthalten.
11 Hinsichtlich des Rechts auf Vorsteuerabzug für innergemeinschaftliche Umsätze sieht Art. 45 DL Nr. 331/93 vor:
„In Anwendung der Art. 19 ff. [DPR Nr. 633/72] und unter Vorbehalt der dort vorgesehenen Beschränkungen eröffnet die für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen im Rahmen der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens, einer künstlerischen Betätigung oder einer beruflichen Tätigkeit geschuldete Steuer ein Recht auf Vorsteuerabzug.“
12 Gemäß Art. 46 Abs. 1 DL Nr. 331/93 („Rechnungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen“) muss die Rechnung zu einem innergemeinschaftlichen Erwerb vom Erwerber oder Empfänger nummeriert und durch die Angabe des Werts der Gegenleistung in Lire und der anderen für die Steuerbemessungsgrundlage des Umsatzes maßgeblichen Daten, berechnet nach den Steuersätzen der bezogenen Gegenstände oder Dienstleistungen, vervollständigt werden.
13 Unter der Überschrift „Eintragung innergemeinschaftlicher Umsätze“ bestimmt Art. 47 DL Nr. 331/93:
„(1) Die Rechnungen über die innergemeinschaftlichen Erwerbe nach Art. 38 Abs. 2 und 3 Buchst. b und über Umsätze nach Art. 46 Abs. 1 Satz 2 müssen, nachdem sie entsprechend Satz 1 dieses Absatzes vervollständigt wurden, in dem Monat ihres Erhalts oder später, in jedem Fall innerhalb von 15 Tagen nach Erhalt, und unter dem jeweiligen Monat getrennt in das Register im Sinne des Art. 23 DPR Nr. 633/72 eingetragen werden, und zwar in der Reihenfolge der Nummerierung unter Angabe des Werts der Gegenleistung für die Umsätze in Fremdwährung. Die in Art. 46 Abs. 5 genannten Rechnungen müssen im Monat ihrer Ausgabe eingetragen werden. Sie sind innerhalb der in den vorstehenden Sätzen genannten Fristen getrennt unter Bezugnahme auf den Monat ihres Erhalts oder ihrer Ausgabe ebenfalls in das von Art. 25 des genannten Dekrets vorgesehene Register einzutragen.
(2) Die in Art. 22 [DPR Nr. 633/72] genannten Steuerpflichtigen können die in Abs. 1 genannten Rechnungen unbeschadet der in Abs. 1 angeführten Vorschriften zu Fristen und Modalitäten statt in das Register der ausgestellten Rechnungen in das in Art. 24 des Dekrets genannte Register eintragen.
(3) Die in Art. 4 Abs. 4 [DPR Nr. 633/72] genannten Steuerpflichtigen, die nicht für Steuerzwecke erfasst sind, müssen die in Abs. 1 dieses Artikels genannten Rechnungen nach chronologischer Nummerierung in dem Monat, der dem Monat des Erhalts der Rechnung folgt, oder, wenn es sich um unter Art. 46 Abs. 5 fallende Rechnungen handelt, in dem Monat der Rechnungsausstellung in das gemäß Art. 39 [DPR Nr. 633/72] geführte und aufbewahrte geeignete Register eintragen.
(4) Die Rechnungen zu innergemeinschaftlichen Umsätzen nach Art. 46 Abs. 2 müssen getrennt in das in Art. 23 [DPR Nr. 633/72] vorgesehene Register in der Reihenfolge ihrer Nummerierung und unter Bezugnahme auf ihr Ausstellungsdatum eingetragen werden.
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
14 Während des Jahres 1998 nahm Idexx innergemeinschaftliche Erwerbe bei einer französischen und einer niederländischen Gesellschaft vor, ohne jedoch die im nationalen Recht vorgeschriebenen Förmlichkeiten zu erfüllen.
15 Aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte geht hervor, dass Idexx bestimmte von der französischen Gesellschaft ausgestellte Rechnungen nicht in das Mehrwertsteuerregister eintrug.
16 Die von der niederländischen Gesellschaft ausgestellten Rechnungen wurden von Idexx nicht in das Register der ausgestellten Rechnungen eingetragen, sondern nur in ihr Einkaufsregister mit der Angabe „ohne Mehrwertsteuer“.
17 Nach einer von der Agenzia im Verlauf des Jahres 2000 vorgenommenen Prüfung nahm diese an, dass die genannten Umsätze mehrwertsteuerpflichtige innergemeinschaftliche Erwerbe darstellten und als solche dem Reverse-Charge-Verfahren unterlägen. In diesem Zusammenhang erstellte die Agenzia gegen Idexx ein Protokoll wegen Missachtung der italienischen Regelung zur Erfassung innergemeinschaftlicher Umsätze.
18 Im Anschluss an dieses Protokoll stellte die Agenzia Idexx am 27. Mai 2004 einen Erhebungsbescheid über die Mehrwertsteuer für das Jahr 1998 und einen der Steuer zu 100 % entsprechenden Betrag als Sanktion für die Missachtung der Verpflichtungen aus den Art. 46 und 47 DL Nr. 331/93 zu. In der Folge lehnte diese Behörde einen von Idexx gestellten Antrag auf Niederschlagung des Verfahrens ab.
19 Idexx erhob zwei getrennte Klagen gegen den Steuerbescheid und die Ablehnung ihres Antrags auf Niederschlagung des Verfahrens. Die Commissione tributaria provinciale di Milano gab beiden Klagen statt und erklärte demgemäß den Erhebungsbescheid und die Ablehnung der Verfahrensniederschlagung für nichtig.
20 Die Agenzia legte gegen diese Entscheidungen Berufung ein, der die Commissione tributaria regionale della Lombardia stattgab. Dieses Gericht stellte fest, dass die Vorschriften des italienischen Rechts zum innergemeinschaftlichen Erwerb, insbesondere die Art. 46 und 47 DL Nr. 331/93, dem Erwerber oder Empfänger nicht nur die Verpflichtung auferlegten, bei einem innergemeinschaftlichen Erwerb die Rechnung zu nummerieren und mit allen für die Steuerbemessungsgrundlage des Umsatzes maßgeblichen Angaben zu versehen, sondern auch die Verpflichtung, die solchermaßen ergänzten Rechnungen getrennt in die verschiedenen in den Art. 23 und 25 DPR Nr. 633/72 genannten Register einzutragen.
21 Die Commissione tributaria regionale della Lombardia ging davon aus, dass es sich bei der fehlenden Eintragung nicht um einen formellen, sondern um einen materiellen Mangel handele. Darin liege ein Verstoß, der eine Berichtigung und/oder Steuererhebung rechtfertigen könne.
22 Idexx erhob zwei Kassationsbeschwerden bei der Corte di cassazione, die beschloss, die beiden Rechtssachen zu verbinden. In ihren Kassationsbeschwerden hielt Idexx an ihrer Rechtsauffassung fest. Sie trug erneut vor, dass die Commissione tributaria regionale della Lombardia die unterlassene Rechnungstellung und Eintragung der Rechnungen im Rahmen der innergemeinschaftlichen Erwerbe zu Unrecht als einen „erheblichen Mangel“ eingestuft habe.
23 Idexx machte geltend, dass die innergemeinschaftlichen Erwerbe keine wesentlichen Auswirkungen hätten, da sie weder Steuerschulden noch Steuergutschriften entstehen ließen, sondern lediglich „scheinbare“ Schulden und Gutschriften sowie die formale Verpflichtung schüfen, einen durchlaufenden Posten in die beiden Mehrwertsteuerregister einzutragen, ohne jedoch materielle Folgen zu zeitigen.
24 Daher geht Idexx davon aus, dass ein Verstoß gegen solche Verpflichtungen es der Agenzia nicht erlaube, die Mehrwertsteuererklärung des Erwerbers zu berichtigen. In einem solchen Fall habe die Agenzia kein Recht, von dem Erwerber die Zahlung einer Steuer zu verlangen, die nur theoretisch bestehe, und das Recht auf Vorsteuerabzug außer Acht zu lassen, das im vorliegenden Fall nicht bestritten werden könne.
25 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Entscheidung über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten von der vorzunehmenden Auslegung des Urteils Ecotrade (C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267) abhänge. Es erläutert, dass dieses Urteil Gegenstand zweier verschiedener Auslegungen innerhalb der Corte di cassazione und damit im Rahmen der nationalen Rechtsordnung sei, die zu zwei unterschiedlichen Rechtsauffassungen geführt hätten.
26 Nach der ersten Rechtsauffassung setze das Recht auf Vorsteuerabzug voraus, dass die im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahrens von den nationalen Vorschriften und dem Unionsrecht vorgesehenen Verpflichtungen zur Selbstfakturierung und Eintragung erfüllt worden seien, da diese Verpflichtungen als materielle Verpflichtungen anzusehen seien.
27 Nach der zweiten Rechtsauffassung entstehe das Recht auf Vorsteuerabzug in dem Moment des Entstehens der Mehrwertsteuer, d. h. nicht infolge der Erfüllung der für die Ausübung dieses Rechts vorgesehenen Förmlichkeiten, sondern grundsätzlich im Moment der Ausführung des Umsatzes aus der Lieferung von Gegenständen oder der Erbringung von Dienstleistungen. Daher könne die Nichterfüllung der formellen Verpflichtungen, an die der Steuerpflichtige für die Ausübung dieses Rechts gebunden sei, nicht zum Verlust des Rechts selbst führen, wenn auch auf andere Weise der Beweis erbracht werden könne, dass der geschuldete Betrag tatsächlich gezahlt worden sei, und die anspruchsbegründenden Merkmale des Rechts auf Vorsteuerabzug unstrittig seien. Die Nichterfüllung der formellen Verpflichtungen könne jedoch in bestimmten Fällen die Verhängung von verwaltungsrechtlichen Bußgeldern rechtfertigen.
28 Unter diesen Umständen hat die Corte di cassazione beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Gelten die vom Gerichtshof im Urteil Ecotrade (EU:C:2008:267) aufgestellten Grundsätze, denen zufolge Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 22 der Sechsten Richtlinie einer Praxis der Berichtigung von Steuererklärungen und der Erhebung der Mehrwertsteuer entgegenstehen, nach der eine Nichterfüllung zum einen der Verpflichtungen, die sich aus den von der nationalen Regelung in Anwendung von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d vorgeschriebenen Förmlichkeiten ergeben, und zum anderen der Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten nach Art. 22 Abs. 2 und 4 im Fall der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens mit der Versagung des Abzugsrechts geahndet wird, auch bei einer völligen Missachtung der in der nationalen Regelung vorgesehenen Verpflichtungen, wenn jedenfalls hinsichtlich der Stellung als Steuerschuldner und seines Rechts auf Vorsteuerabzug keine Zweifel bestehen?
2. Beziehen sich die Ausdrücke „materielle Anforderungen“ („obblighi sostanziali“), „substantive requirements“ und „exigences de fond“, die vom Gerichtshof in den verschiedenen Sprachfassungen des Urteils Ecotrade (EU:C:2008:267) verwendet werden, in Fällen des sogenannten Reverse-Charge-Verfahrens, das im Bereich der Mehrwertsteuer vorgesehen ist, auf die Notwendigkeit der Zahlung der Mehrwertsteuer oder der Übernahme der Steuerschuld oder auf das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen – wie z. B. Inhärenz, Besteuerbarkeit, völlige Abzugsfähigkeit –, welche die Unterwerfung des Steuerpflichtigen unter diese Steuer rechtfertigen und das Abzugsrecht regeln, das darauf ausgerichtet ist, den unionsrechtlichen Grundsatz der Neutralität der genannten Steuer zu wahren?
Zu den Vorlagefragen
29 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 22 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass diese Vorschriften formelle Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug enthalten, oder vielmehr dahin, dass sie materielle Anforderungen dieses Rechts vorsehen, deren Missachtung unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zum Verlust dieses Rechts führt.
30 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (Urteil Tóth, C-324/11, EU:C:2012:549, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ist dieses Recht integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann es für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Tóth, EU:C:2012:549, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Durch die so eingeführte Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteile Tóth, EU:C:2012:549, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Fatorie, C-424/12, EU:C:2014:50, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Im Rahmen des steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen ist erstens darauf hinzuweisen, dass im Fall der Anwendung des von Art. 21 Abs. 1 Buchst. d der Sechsten Richtlinie eingeführten Reverse-Charge-Verfahrens zwischen dem Verkäufer und dem Erwerber des Gegenstands keine Mehrwertsteuerzahlung erfolgt, wobei der Letztere für den getätigten Umsatz Vorsteuer zu entrichten hat, diese aber grundsätzlich in Abzug bringen kann, so dass der Steuerverwaltung kein Betrag geschuldet wird.
34 Zweitens gestattet Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten, bei Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens die Förmlichkeiten für die Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug festzulegen.
35 Allerdings darf der Umfang dieser von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgeschriebenen Förmlichkeiten, die der Steuerpflichtige erfüllen muss, um dieses Recht ausüben zu können, nicht über das zur Gewährleistung der korrekten Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens absolut Notwendige hinausgehen (Urteile Bockemühl, C-90/02, EU:C:2004:206, Rn. 50, sowie Fatorie, EU:C:2014:50, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im Übrigen sieht Art. 22 der Sechsten Richtlinie zum Zwecke der Anwendung der Mehrwertsteuer und ihrer Kontrolle durch die Steuerverwaltung bestimmte Verpflichtungen vor, die den steuerpflichtigen Schuldnern dieser Steuer obliegen, wie etwa die Führung von Aufzeichnungen und die Abgabe einer Steuererklärung. Nach Art. 22 Abs. 8 können die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.
37 Allerdings dürfen solche Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, und dürfen die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteile Collée, C-146/05, EU:C:2007:549, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Ecotrade, EU:C:2008:267, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Drittens geht aus Rn. 63 des Urteils Ecotrade (EU:C:2008:267) und der späteren Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. u. a. Urteile Uszodaépítő, C-392/09, EU:C:2010:569, Rn. 39, Nidera Handelscompagnie, C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 42, EMS-Bulgaria Transport, C-284/11, EU:C:2012:458, Rn. 62, und Fatorie, EU:C:2014:50, Rn. 35) hervor, dass der tragende Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahrens erfordert, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat.
39 Anders verhält es sich, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil EMS-Bulgaria Transport, EU:C:2012:458, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Verfügt die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt sind, so darf sie daher hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (vgl. in diesem Sinne Urteil EMS-Bulgaria Transport, EU:C:2012:458, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 In dieser Hinsicht ist klarzustellen, dass es sich bei den materiellen Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug um diejenigen handelt, die die eigentliche Grundlage und den Umfang dieses Rechts regeln, so wie sie in Art. 17 der Sechsten Richtlinie („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Niederlande, C-338/98, EU:C:2001:596, Rn. 71, Dankowski, C-438/09, EU:C:2010:818, Rn. 26 und 33, Kommission/Ungarn, C-274/10, EU:C:2011:530, Rn. 44, und Kopalnia Odkrywkowa Polski Trawertyn P. Granatowicz, M. Waiewicz, C-280/10, EU:C:2012:107, Rn. 43 und 44).
42 Die formellen Anforderungen dieses Rechts regeln im Gegenzug die Modalitäten und die Kontrolle seiner Ausübung sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des Mehrwertsteuersystems, so wie die Verpflichtungen zu Aufzeichnungen, Rechnungstellung und Steuererklärung. Diese Verpflichtungen sind in den Art. 18 und 22 der Sechsten Richtlinie enthalten (vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Niederlande, EU:C:2001:596, Rn. 71, Collée, EU:C:2007:549, Rn. 25 und 26, Ecotrade, EU:C:2008:267, Rn. 60 bis 65, Nidera Handelscompagnie, EU:C:2010:627, Rn. 47 bis 51, Kopalnia Odkrywkowa Polski Trawertyn P. Granatowicz, M. Wasiewicz, EU:C:2012:107, Rn. 41 und 48, sowie Tóth, EU:C:2012:549, Rn. 33).
43 Bei einem steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen setzen die materiellen Anforderungen, wie aus Art. 17 Abs. 2 Buchst. d der Sechsten Richtlinie folgt, voraus, dass dieser Erwerb von einem Steuerpflichtigen vorgenommen wurde, dass Letzterer auch der Steuerschuldner für die aus diesem Erwerb geschuldete Mehrwertsteuer ist und dass die in Rede stehenden Gegenstände für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden.
44 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Agenzia im Ausgangsverfahren über alle notwendigen Daten verfügte, um festzustellen, dass die materiellen Anforderungen erfüllt waren.
45 Unter diesen Bedingungen ergibt sich aus den vorstehenden Erwägungen, dass Idexx das in Art. 17 Abs. 2 Buchst. d der Sechsten Richtlinie genannte Recht auf Vorsteuerabzug der für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innergemeinschaftlichen Erwerbe geschuldeten Mehrwertsteuer nicht mit der Begründung versagt werden darf, dass sie die Verpflichtungen, die sich aus den von der nationalen Regelung in Anwendung von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 22 der Sechsten Richtlinie ergeben, nicht eingehalten habe. Dieses Recht auf Vorsteuerabzug entsteht nach Art. 17 Abs. 1, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
46 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 22 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass diese Bestimmungen formelle Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug enthalten, deren Missachtung unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht zu einem Verlust dieses Rechts führen kann.
Kosten
47 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 22 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass diese Bestimmungen formelle Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug enthalten, deren Missachtung unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht zu einem Verlust dieses Rechts führen kann.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Italienisch.