Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
15. Februar 2017(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Kapitalverkehr – Art. 64 AEUV – Kapitalverkehr mit Drittstaaten im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen – Auf einem schweizerischen Bankkonto gehaltene finanzielle Vermögenswerte – Nachforderungsbescheid – Nachforderungsfrist – Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats“
In der Rechtssache C-317/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 10. April 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2015, in dem Verfahren
X
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters C. Vajda (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der niederländischen Regierung, vertreten durch L. Noort, K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und T. Henze als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. M. de Socio, avvocato dello Stato,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 64 Abs. 1 AEUV.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X, einer natürlichen Person, und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) wegen Bescheiden über die Nachforderung von Einkommensteuer und Steuer auf Sozialversicherungsprämien für die Steuerjahre 1998 bis 2006.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrags [dieser Artikel wurde durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben] (ABl. 1988, L 178, S. 5) lautet:
„Unbeschadet der nachstehenden Bestimmungen beseitigen die Mitgliedstaaten die Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Gebietsansässigen in den Mitgliedstaaten. Zur Erleichterung der Durchführung dieser Richtlinie wird der Kapitalverkehr entsprechend der Nomenklatur in Anhang I gegliedert.“
4 Zu dem in Anhang I der Richtlinie 88/361 aufgeführten Kapitalverkehr gehören die in Rubrik VI genannten „Kontokorrent- und Termingeschäfte mit Finanzinstitutionen“, die u. a. „Geschäfte von Gebietsansässigen mit ausländischen Finanzinstitutionen“ umfassen.
Niederländisches Recht
5 In Art. 16 der Algemene Wet inzake Rijksbelastingen (Allgemeines Gesetz über die staatlichen Steuern, im Folgenden: AWR) heißt es:
„(1) Gibt ein Umstand Anlass zu der Annahme, dass zu Unrecht keine Steuer oder ein zu geringer Steuerbetrag festgesetzt worden ist, … kann der Inspektor die nicht erhobenen Steuern nachfordern. …
…
(3) Die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids erlischt fünf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld. …
(4) Ist ein Bestandteil des Steuergegenstands, der sich im Ausland befindet oder dort aufgetreten ist, zu gering besteuert worden, erlischt die Befugnis zum Erlass eines Nachforderungsbescheids abweichend von Abs. 3 Satz 1 zwölf Jahre nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
6 Im Mai 2002 wurde ein Verstoß gegen die Wet toezicht effectenverkeer (Gesetz über die Aufsicht im Wertpapierhandel) angezeigt. In der Folge wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, in deren Rahmen X mehrmals verhört wurde.
7 Mit Schreiben vom 13. Januar 2009 übermittelte X den niederländischen Steuerbehörden Informationen über ein von ihm bis Anfang 2004 bei einem Bankinstitut in der Schweiz unter einem Codenamen unterhaltenes Konto sowie über ein ab Beginn des Jahres 2004 bei einem Bankinstitut in Luxemburg unterhaltenes Konto, die in seinen Steuererklärungen für die diesem Schreiben vorhergehenden Jahre nicht angegeben worden waren.
8 Am 27. Juli 2010 übermittelte der Officier van Justitie (Staatsanwalt, Niederlande) den Steuerbehörden die Ergebnisse der strafrechtlichen Ermittlungen. Am 30. November 2010 wurden für die Jahre 1998 bis 2006 Nachforderungsbescheide erlassen.
9 X reichte gegen diese Nachforderungsbescheide Klage bei der Rechtbank te Breda (Gericht Breda, Niederlande) ein. Mit Urteil vom 12. September 2012 stellte dieses Gericht fest, dass die unter Anwendung der verlängerten Nachforderungsfrist nach Art. 16 Abs. 4 AWR für die Jahre bis einschließlich 2004 ergangenen Nachforderungsbescheide nicht mit der erforderlichen Entschlossenheit im Sinne des Urteils des Gerichtshofs vom 11. Juni 2009, X und Passenheim-van Schoot (C-155/08 und C-157/08, EU:C:2009:368), erlassen worden seien. Dieses Gericht entschied jedoch auf der Grundlage der Stillhalteklausel in Art. 64 Abs. 1 AEUV, dass die Kapitalverkehrsfreiheit und damit die auf diesem Urteil beruhende Rechtsprechung auf die Nachforderung nicht anwendbar sei, da sich diese auf das schweizerische Bankkonto bezogen habe. Aus diesen Gründen bestätigte es die Nachforderungsbescheide für die Jahre bis einschließlich 2003 abgesehen von einer Berichtigung hinsichtlich der Verteilung der Einkünfte auf X und seine Ehefrau und setzte die Nachforderung für 2004 um die sich auf das luxemburgische Bankkonto beziehende Steuer herab.
10 Der Steuerinspektor legte gegen die Entscheidung der Rechtbank te Breda (Gericht Breda) beim Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch, Niederlande) Berufung ein, soweit diese Entscheidung den Nachforderungsbescheid für das Jahr 2004 betraf, und bestritt, dass nicht mit der erforderlichen Entschlossenheit vorgegangen worden sei. X legte seinerseits beim Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) Anschlussberufung gegen diese Entscheidung ein, soweit diese die Nachforderungen bezüglich sämtlicher vor der Rechtbank te Breda (Gericht Breda) im Streit stehenden Jahre betraf, und stellte in diesem Rahmen in Abrede, dass die Stillhalteklausel in Art. 64 Abs. 1 AEUV dazu führe, dass die Kapitalverkehrsfreiheit in Bezug auf sein schweizerisches Bankkonto nicht anwendbar sei.
11 Der Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) wies die Berufung des Steuerinspektors als unbegründet zurück. Die Anschlussberufung von X erklärte dieses Gericht für unzulässig, soweit sie Entscheidungen in Bezug auf die Nachforderungsbescheide für die Jahre bis einschließlich 2003 sowie 2005 und 2006 betraf, hielt sie aber für begründet, soweit sie sich auf die Entscheidung hinsichtlich des Nachforderungsbescheids für 2004 bezog. Hierzu stellte dieses Gericht fest, dass die Nachforderung bezüglich des schweizerischen Bankkontos in vollem Umfang unter die aus dem Urteil vom 11. Juni 2009, X und Passenheim-van Schoot (C-155/08 und C-157/08, EU:C:2009:368), hervorgegangene Rechtsprechung falle. Art. 64 Abs. 1 AEUV sei im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da die in Art. 16 Abs. 4 AWR genannte Maßnahme eine allgemeine Regelung sei, die in Fällen angewandt werden könne, die nichts mit Direktinvestitionen, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten, also den in Art. 64 Abs. 1 AEUV ausdrücklich genannten Kategorien, zu tun hätten.
12 X und der Staatssekretär für Finanzen legten gegen die Entscheidung des Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) Kassationsbeschwerde ein. Der Staatssekretär für Finanzen macht geltend, der Gerechtshof te ’s-Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch) habe zu Unrecht die Auffassung vertreten, dass Art. 64 Abs. 1 AEUV Maßnahmen wie die Nachforderung für das Jahr 2004 in Bezug auf die Erträge aus dem schweizerischen Bankkonto in Anwendung der verlängerten Nachforderungsfrist nach Art. 16 Abs. 4 AWR nicht erfasse.
13 Der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) äußert erstens Zweifel hinsichtlich der Frage, ob der sachliche Anwendungsbereich von Art. 64 Abs. 1 AEUV durch den Gegenstand der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften oder durch das Geschäft abgegrenzt wird, das durch diese nationalen Rechtsvorschriften eingeschränkt wird. Er weist insoweit zum einen darauf hin, dass die Bezugnahme auf die „Anwendung“ von Beschränkungen in Art. 64 Abs. 1 AEUV ein Argument für die letztgenannte Auslegung zu sein scheine. Zudem könnte seiner Ansicht nach die erstgenannte Auslegung dieser Vorschrift den Großteil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen. Zum anderen ließe sich im Urteil vom 14. Dezember 1995, Sanz de Lera u. a. (C-163/94, C-165/94 und C-250/94, EU:C:1995:451), ein Argument für die erstgenannte Auslegung finden. Der Gerichtshof habe in diesem Urteil entschieden, dass eine Regelung, die allgemein für alle Ausfuhren von Hartgeld, Banknoten oder Inhaberschecks einschließlich derjenigen gelte, die in den dritten Ländern nicht in Zusammenhang mit Direktinvestitionen, der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten stünden, nicht unter Art. 73c Abs. 1 EG-Vertrag (jetzt Art. 64 Abs. 1 AEUV) falle.
14 Zweitens äußert der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) Zweifel hinsichtlich der Frage, ob Art. 64 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er lediglich das nationale Recht betrifft, das für den Erbringer von Finanzdienstleistungen gilt und die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regelt. Hierzu weist er zum einen darauf hin, dass in der zum Zeitpunkt der Vorlageentscheidung anhängigen Rechtssache, in der später das Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith (C-560/13, EU:C:2015:347), erging, das vorlegende Gericht und die Kommission eine solche Auslegung befürwortet hätten. Zum anderen könnte seiner Ansicht nach gegen diese Auslegung eingewandt werden, dass der Wortlaut von Art. 64 Abs. 1 AEUV hierfür keine Anhaltspunkte biete und die tatsächliche Bedeutung dieser Vorschrift deshalb sehr begrenzt sei.
15 Drittens und letztens wirft der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) die Frage auf, ob die Anwendung von Art. 16 Abs. 4 AWR auf das von X bei einer Bank in der Schweiz unterhaltene Konto vom Ausdruck „Beschränkungen … für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit … der Erbringung von Finanzdienstleistungen“ in Art. 64 Abs. 1 AEUV erfasst wird. Hierzu führt er aus, dass es zwar möglich sei, das Führen eines Wertpapierkontos im Licht des Urteils vom 11. Juni 2009, X und Passenheim-van Schoot (C-155/08 und C-157/08, EU:C:2009:368), als Finanzdienstleistung einzustufen, dieses Urteil aber die Auslegung der Art. 49 und 56 EG (jetzt Art. 56 und 63 AEUV) betreffe und bezweifelt werden könne, ob Art. 64 Abs. 1 AEUV in der gleichen Weise auszulegen sei.
16 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Erstreckt sich der in Art. 64 Abs. 1 AEUV verankerte Grundsatz der Wahrung der Anwendung von Beschränkungen auf dritte Länder auch auf die Anwendung von Beschränkungen, die aufgrund einer einzelstaatlichen Regelung wie der in Rede stehenden verlängerten Nachforderungsfrist bestehen, die auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben?
2. Betrifft der in Art. 64 Abs. 1 AEUV verankerte Grundsatz der Wahrung der Anwendung von Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen auch Beschränkungen, die wie die in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln?
3. Ist zum „Kapitalverkehr im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen“ im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV auch ein Fall wie der vorliegende zu rechnen, in dem ein Einwohner eines Mitgliedstaats ein (Wertpapier-)Konto bei einem Bankinstitut außerhalb der Union eröffnet hat, und kommt es dabei darauf an, ob, und falls ja, in welchem Umfang das erwähnte Bankinstitut in diesem Rahmen Tätigkeiten für den Kontoinhaber ausführt?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
17 Die Vorlagefragen betreffen die Auslegung von Art. 64 Abs. 1 AEUV, demzufolge Art. 63 AEUV nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder berührt, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für den Kapitalverkehr mit dritten Ländern im Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestehen.
18 Zum einen ist festzustellen, dass diese Fragen auf der Annahme beruhen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung, die eine verlängerte Nachforderungsfrist vorsieht, eine Beschränkung des Kapitalverkehrs im Sinne von Art. 63 AEUV darstellt.
19 Zum anderen geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese Regelung am 8. Juni 1991 in Kraft getreten ist. Diese Regelung galt demnach vor dem in Art. 64 Abs. 1 AEUV vorgesehenen 31. Dezember 1993 und erfüllt somit das zeitliche Kriterium dieser Vorschrift.
Zur ersten Frage
20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 64 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung Anwendung findet, die eine Beschränkung des von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehrs vorschreibt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist, wenn diese Beschränkung auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben.
21 Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus dem Wortlaut von Art. 64 Abs. 1 AEUV hervorgeht, dass diese Vorschrift eine Ausnahme von dem in Art. 63 Abs. 1 AEUV aufgestellten Verbot zugunsten der „Anwendung“ der Beschränkungen vorsieht, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften für den Kapitalverkehr im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestehen. Die Anwendbarkeit von Art. 64 Abs. 1 AEUV hängt somit nicht vom Gegenstand der nationalen Regelung ab, die solche Beschränkungen enthält, sondern von deren Wirkung. Diese Vorschrift ist anzuwenden, wenn die nationale Regelung den Kapitalverkehr im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten beschränkt. Daraus folgt, dass der Umstand, dass diese Regelung auch in anderen Fällen Anwendung finden kann, die Anwendbarkeit von Art. 64 Abs. 1 AEUV unter den darin festgelegten Voraussetzungen nicht behindern kann.
22 Zweitens wird diese Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt. Dieser ist nämlich der Auffassung, dass eine Beschränkung des Kapitalverkehrs in Form einer ungünstigeren steuerlichen Behandlung von Dividenden aus ausländischen Quellen unter Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt, wenn sie sich auf Beteiligungen bezieht, die zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und unmittelbarer Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Anteilseigner und der betroffenen Gesellschaft erworben wurden und die es dem Anteilseigner ermöglichen, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder an deren Kontrolle zu beteiligen (Urteil vom 24. November 2016, SECIL, C-464/14, EU:C:2016:896, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso fällt nach Ansicht des Gerichtshofs eine Beschränkung als Beschränkung von Kapitalbewegungen, die mit Direktinvestitionen verbunden sind, unter Art. 64 Abs. 1 AEUV, soweit sie sich auf Investitionen jeder Art durch natürliche oder juristische Personen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die die Mittel bereitstellen, und den Unternehmen, für die diese Mittel zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind, bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2008, Orange European Smallcap Fund, C-194/06, EU:C:2008:289, Rn. 102). Aus diesen Urteilen, insbesondere aus den darin verwendeten Wörtern „wenn“ und „soweit“, geht hervor, dass der Anwendungsbereich von Art. 64 Abs. 1 AEUV nicht vom spezifischen Gegenstand einer nationalen Beschränkung abhängt, sondern von ihrer Auswirkung auf den von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehr.
23 Diese Auslegung von Art. 64 Abs. 1 AEUV wird durch das vom vorlegenden Gericht angeführte Urteil vom 14. Dezember 1995, Sanz de Lera u. a. (C-163/94, C-165/94 und C-250/94, EU:C:1995:451), nicht in Frage gestellt. Zwar hat der Gerichtshof, nachdem er in Rn. 33 dieses Urteils klargestellt hatte, dass die Ausfuhr von Zahlungsmitteln als solche nicht als eine Kapitalbewegung angesehen werden kann, in den Rn. 35 und 36 dieses Urteils festgestellt, dass eine nationale Regelung, die allgemein für alle Ausfuhren von Hartgeld, Banknoten oder Inhaberschecks einschließlich derjenigen gilt, die in den dritten Ländern nicht in Zusammenhang mit Direktinvestitionen einschließlich Anlagen in Immobilien, der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten stehen, nicht unter Art. 73c Abs. 1 EG-Vertrag (jetzt Art. 64 Abs. 1 AEUV) fällt. In Rn. 37 dieses Urteils hat der Gerichtshof jedoch befunden, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, die Art und die tatsächliche Durchführung der betreffenden Transaktionen oder Transfers zu überprüfen, um sich zu vergewissern, dass derartige Transfers nicht für Kapitalbewegungen verwendet werden, die gerade Gegenstand der nach Art. 73c Abs. 1 EG-Vertrag zulässigen Beschränkungen sind. Aus dem Urteil vom 14. Dezember 1995, Sanz de Lera u. a. (C-163/94, C-165/94 und C-250/94, EU:C:1995:451), ergibt sich, dass sich die Mitgliedstaaten auf Art. 64 Abs. 1 AEUV berufen können, wenn die nationale Regelung für den von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehr Anwendung findet.
24 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung, wonach Art. 64 Abs. 1 AEUV nur in dem Fall Anwendung fände, dass die fragliche nationale Regelung ausschließlich den von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehr betrifft, deren praktischer Wirksamkeit zuwiderliefe. Wie die niederländische Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen vorgetragen hat, hätte eine solche Auslegung nämlich zur Folge gehabt, dass alle Mitgliedstaaten, um von der Gestattung der Anwendung von Beschränkungen nach Art. 64 Abs. 1 AEUV Gebrauch machen zu können, gezwungen gewesen wären, ihr nationales Recht vor dem 1. Januar 1994 zu überarbeiten, um es der Tragweite dieser Vorschrift genauestens anzupassen.
25 Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Art. 64 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung Anwendung findet, die eine Beschränkung des von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehrs vorschreibt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist, selbst wenn diese Beschränkung auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben.
Zur dritten Frage
26 Mit seiner dritten Frage, die vor der zweiten Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den Begriff des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt.
27 Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof mangels einer im AEU-Vertrag enthaltenen Definition des Begriffs „Kapitalverkehr“ der Nomenklatur in Anhang I der Richtlinie 88/361 Hinweischarakter zuerkannt hat, wobei nach der Einleitung dieses Anhangs die darin enthaltene Aufzählung aber keinen erschöpfenden Charakter hat (Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith, C-560/13, EU:C:2015:347, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie die Kommission in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen vorgetragen hat, nennt dieser Anhang aber in seiner Rubrik VI „Kontokorrent- und Termingeschäfte mit Finanzinstitutionen“, die u. a. „Geschäfte von Gebietsansässigen mit ausländischen Finanzinstitutionen“ umfassen. Die Eröffnung eines Wertpapierkontos bei einem Bankinstitut wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt daher unter den Begriff „Kapitalverkehr“.
28 Zweitens hat der Gerichtshof entschieden, dass die nationale Maßnahme, um unter die in Art. 64 Abs. 1 AEUV vorgesehene Ausnahme zu fallen, Kapitalbewegungen betreffen muss, die einen hinreichend engen Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen aufweisen, was einen Kausalzusammenhang zwischen den Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen voraussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith, C-560/13, EU:C:2015:347, Rn. 43 und 44).
29 Insoweit ist festzustellen, dass die Kapitalbewegungen, zu denen die Eröffnung eines Wertpapierkontos bei einem Bankinstitut Anlass gibt, mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Zusammenhang stehen. Zum einen steht nämlich fest, dass dieses Bankinstitut für den Inhaber dieses Kontos Verwaltungsdienstleistungen bezüglich dieses Kontos erbringt, was als Erbringung von Finanzdienstleistungen einzustufen ist.
30 Zum anderen besteht ein Kausalzusammenhang zwischen den betreffenden Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen, da der Inhaber sein Kapital auf einem Wertpapierkonto anlegt, weil er als Gegenleistung vom Bankinstitut Verwaltungsdienstleistungen erhält. Somit besteht in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen den Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen.
31 Daraus folgt, dass auf die dritte Frage zu antworten ist, dass die Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unter den Begriff des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt.
Zur zweiten Frage
32 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die den Mitgliedstaaten durch Art. 64 Abs. 1 AEUV zuerkannte Möglichkeit, Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen anzuwenden, auch für Beschränkungen gilt, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln.
33 Hierzu ist festzustellen, dass das entscheidende Kriterium für die Anwendung von Art. 64 Abs. 1 AEUV der Kausalzusammenhang zwischen den Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen ist, und nicht der persönliche Anwendungsbereich der streitigen nationalen Maßnahme oder ihr Verhältnis zum Erbringer anstatt zum Empfänger solcher Dienstleistungen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift wird nämlich durch Bezugnahme auf Kategorien von Kapitalbewegungen definiert, die Gegenstand von Beschränkungen sein können (Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith, C-560/13, EU:C:2015:347, Rn. 39).
34 Der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in erster Linie den Anleger und nicht den Erbringer einer Finanzdienstleistung betrifft, steht folglich der Feststellung, dass diese Maßnahme unter Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt, nicht entgegen (Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith, C-560/13, EU:C:2015:347, Rn. 40). Ebenso wenig steht der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in keinem Zusammenhang mit den Voraussetzungen und der Art der Erbringung einer Finanzdienstleistung steht, der Feststellung entgegen, dass diese Maßnahme unter diese Vorschrift fällt.
35 Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 64 Abs. 1 AEUV zuerkannte Möglichkeit, Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen anzuwenden, auch für Beschränkungen gilt, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 64 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er auf eine nationale Regelung Anwendung findet, die eine Beschränkung des von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehrs vorschreibt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist, selbst wenn diese Beschränkung auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben.
2. Die Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt unter den Begriff des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV.
3. Die den Mitgliedstaaten durch Art. 64 Abs. 1 AEUV zuerkannte Möglichkeit, Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen anzuwenden, gilt auch für Beschränkungen, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Niederländisch.