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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

26. Oktober 2017 (*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Körperschaftsteuer – Richtlinie 90/435/EWG – Art. 1 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 – Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Gemeinsames Steuersystem – Abzugsfähigkeit vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft – Nationale Bestimmungen, mit denen die Doppelbesteuerung der von den Tochtergesellschaften ausgeschütteten Gewinne vermieden werden soll – Keine Berücksichtigung des Bestehens eines Zusammenhangs zwischen den Darlehenszinsen und der Finanzierung der Beteiligung, die zur Ausschüttung von Dividenden geführt hat“

In der Rechtssache C-39/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van eerste aanleg te Antwerpen (Gericht erster Instanz Antwerpen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2016, in dem Verfahren

Argenta Spaarbank NV

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter E. Levits und A. Borg Barthet sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. März 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Argenta Spaarbank NV, vertreten durch B. De Cock und K. Van Duyse, advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux, P. Cottin und M. Jacobs als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. April 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Argenta Spaarbank NV und dem Belgischen Staat über die Rechtmäßigkeit eines an dieses Unternehmen gerichteten Körperschaftsteuerbescheids für die Steuerjahre 2000 und 2001.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 90/435 lautet:

„Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf [Unionsebene] erleichtert werden.“

4        Art. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

–        auf Gewinnausschüttungen, die Gesellschaften dieses Staates von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen;

–        auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Staates an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten.

(2)      Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegen.“

5        Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie gilt als

a)      ‚Muttergesellschaft‘ wenigstens jede Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die die Bedingungen des Artikels 2 erfüllt und die einen Anteil von wenigstens 25 % am Kapital einer Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats, die die gleichen Bedingungen erfüllt, besitzt;

b)      ‚Tochtergesellschaft‘ die Gesellschaft, an deren Kapital eine andere Gesellschaft den unter Buchstabe a) genannten Anteil besitzt.

(2)      Abweichend von Absatz 1 haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit,

–        durch bilaterale Vereinbarung als Kriterium die Stimmrechte statt des Kapitalanteils vorzusehen;

–        von dieser Richtlinie ihre Gesellschaften auszunehmen, die nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren im Besitz einer Beteiligung bleiben, aufgrund deren sie als Muttergesellschaften gelten, oder an denen eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren eine solche Beteiligung hält.“

6        Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Bezieht eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinne, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so

–        besteuert der Staat der Muttergesellschaft diese Gewinne entweder nicht oder

–        lässt er im Fall einer Besteuerung zu, dass die Gesellschaft auf die Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, und gegebenenfalls die Quellensteuer, die der Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft nach den Ausnahmebestimmungen des Artikels 5 erhebt, bis zur Höhe der entsprechenden innerstaatlichen Steuer anrechnen kann.

(2)      Jeder Mitgliedstaat kann bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können. Wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, darf der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen.“

 Belgisches Recht

7        Die Richtlinie 90/435 wurde mit Gesetz vom 23. Oktober 1991 (Belgisch Staatsblad vom 15. November 1991, S. 25619) in belgisches Recht umgesetzt. Durch dieses Gesetz wurde die damals geltende Regelung über endgültig besteuerte Einkünfte (im Folgenden: EBE-Regelung) geändert.

8        Nach der Kodifizierung der Einkommensteuervorschriften im Jahr 1992 wurden die einschlägigen Bestimmungen über die EBE-Regelung in den Art. 202, 204 und 205 des Wetboek van de inkomstenbelastingen 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992) zusammengefasst, das durch den Königlichen Erlass vom 10. April 1992 koordiniert und durch das Gesetz vom 12. Juni 1992 bestätigt wurde (Beilage zum Belgisch Staatsblad vom 30. Juli 1992, im Folgenden: WIB 92); Durchführungsbestimmungen dazu finden sich im Koninklijk besluit van 27 augustus 1993 tot uitvoering van het Wetboek van de inkomstenbelastingen 1992 (Königlicher Erlass vom 27. August 1993 zur Ausführung des Einkommensteuergesetzbuchs 1992, Belgisch Staatsblad vom 13. September 1993, S. 20096).

9        Nach diesen Bestimmungen kann eine Gesellschaft 95 % der Dividenden, die sie von ihren Tochtergesellschaften im Sinne der Richtlinie 90/435 erhalten hat, als endgültig besteuerte Einkünfte von ihrem Ergebnis abziehen (im Folgenden: EBE-Abzug).

10      Die Funktionsweise der EBE-Regelung lässt sich wie folgt kurz beschreiben. Zunächst muss die von der Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividende in die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft aufgenommen werden. Dann wird diese Dividende von der genannten Besteuerungsgrundlage abgezogen, allerdings nur insoweit, als für den betreffenden Besteuerungszeitraum nach Abzug der übrigen steuerfreien Einkünfte ein positiver Gewinnsaldo verbleibt.

11      In diesem Zusammenhang wurde durch die Wet van 20 december 1995 houdende fiscale, financiële en diverse bepalingen (Gesetz vom 20. Dezember 1995 zur Festlegung steuerrechtlicher, finanzieller und sonstiger Bestimmungen, Belgisch Staatsblad vom 23. Dezember 1995, S. 34578) Art. 198 Nr. 10 in die WIB 92 eingefügt. Dieser bestimmt in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:

„Werbungskosten umfassen nicht:

10.      unbeschadet der Anwendung von Artikel 55 [WIB 92] die Zinsen bis zur Höhe eines Betrags, der dem Betrag der gemäß den Artikeln 202 bis 204 [WIB 92] abzugsfähigen Dividenden entspricht, die eine Gesellschaft auf Anteile erhielt, die sie zum Zeitpunkt ihrer Übertragung nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr gehalten hatte;

Der [vorstehende] Absatz gilt jedoch weder für Anteile an verbundenen Gesellschaften oder an Gesellschaften, zu denen ein Beteiligungsverhältnis besteht, auch wenn diese Anteile den Charakter von Geldanlagen haben, noch für andere Anteile, die zum Finanzanlagevermögen gehören.“

12      In der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung von Art. 202 WIB 92 heißt es:

„§ 1      Von den Gewinnen des Besteuerungszeitraums werden in dem Maße, wie sie sich darin befinden, ebenfalls abgezogen:

1.      Dividenden ausschließlich der Einkünfte, die anlässlich der Übertragung auf eine Gesellschaft ihrer eigenen Aktien oder Anteile oder anlässlich der Gesamt- oder Teilverteilung des Gesellschaftsvermögens einer Gesellschaft erzielt werden,

§ 2      In § 1 Nr. 1 und 2 erwähnte Einkünfte sind nur abzugsfähig, sofern am Datum der Zuerkennung oder Ausschüttung dieser Einkünfte die Gesellschaft, die die Einkünfte bezieht, am Kapital der Gesellschaft, die sie ausschüttet, eine Beteiligung von mindestens 5 Prozent oder mit einem Investitionswert von mindestens [50 Millionen belgischen Francs [BEF] (ca. 1 240 000 Euro)] besitzt.

Diese Bedingung ist jedoch nicht anwendbar auf Einkünfte,

1.      die von den in Artikel 56 § 1 erwähnten Kreditinstituten bezogen werden,

…“

13      Die im Ausgangsverfahren anwendbare Fassung von Art. 204 WIB 92 bestimmt:

„Gemäß Artikel 202 § 1 Nr. 1, 3 und 4 abzugsfähige Einkünfte gelten als in den Gewinnen des Besteuerungszeitraums befindlich bis zu 95 Prozent des eingenommenen oder erhaltenen Betrags, eventuell erhöht um den tatsächlichen oder fiktiven Mobiliensteuervorabzug oder, in Bezug auf die in Artikel 202 § 1 Nr. 4 und 5 erwähnten Einkünfte, verringert um die dem Verkäufer vergüteten Zinsen, wenn die Wertpapiere im Besteuerungszeitraum erworben wurden.“

14      Art. 106 Abs. 5 des Königlichen Erlasses vom 27. August 1993 zur Ausführung des Einkommensteuergesetzbuchs 1992 sieht in seiner im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung vor:

„Von der Einnahme des Mobiliensteuervorabzugs auf Dividenden, deren Schuldner eine belgische Tochtergesellschaft und deren Empfänger eine Muttergesellschaft ist, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ansässig ist, wird vollständig abgesehen.

Dieser Verzicht gilt jedoch nicht, wenn die Beteiligung der Muttergesellschaft, die die Dividenden ausschüttet, nicht mindestens 25 % des Kapitals der Tochtergesellschaft erreicht und diese Mindestbeteiligung von 25 % nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr aufrechterhalten wird oder wurde.

Für die Anwendung der Absätze 1 und 2 versteht man unter Tochtergesellschaft und Muttergesellschaft die Tochtergesellschaften und Muttergesellschaften im Sinne der Richtlinie [90/435].“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Argenta Spaarbank ist ein nach belgischem Recht zugelassenes Kreditinstitut. In den Geschäftsjahren 1999 und 2000 (Steuerjahre 2000 und 2001) erhielt sie Dividenden aus Beteiligungen an Unternehmen in Belgien und anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In einigen Fällen bestanden die Beteiligungen zum Ausschüttungszeitpunkt seit weniger als einem Jahr, in anderen Fällen seit mehr als einem Jahr.

16      Aufgrund der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung der Art. 202 und 204 WIB 92 nahm Argenta Spaarbank als Muttergesellschaft den EBE-Abzug in Höhe von 95 % dieser Dividenden in Anspruch.

17      Außerdem zahlte sie in ihrer Eigenschaft als Kreditinstitut in den fraglichen Geschäftsjahren Zinsen in Höhe von 11 702 186 712 BEF (ca. 290 090 000 Euro) und 13 322 033 492 BEF (ca. 330 245 000 Euro), die in ihrer Erfolgsrechnung in den Posten „Zinsen und ähnliche Kosten“ aufgenommen wurden.

18      Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, wurden diese Zinsen nicht für Darlehen zum Erwerb der Beteiligungen am Kapital einer Tochtergesellschaft gezahlt. Sie betrafen vielmehr die von Argenta Spaarbank als Kreditinstitut für ihre Kunden geführten Sparkonten, Sichtkonten, Terminkonten und anderen Kapitalanlagen und wären als solche als Werbungskosten abzugsfähig gewesen.

19      Art. 198 Nr. 10 WIB 92 sieht jedoch vor, dass Zinsen bis zu einem Betrag in Höhe der nach den Art. 202 bis 204 WIB 92 abzugsfähigen Dividenden, die eine Muttergesellschaft aufgrund von Anteilen erhält, die sie zum Zeitpunkt ihrer Übertragung nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr gehalten hat, nicht abzugsfähig sind, und zwar unabhängig davon, ob ein Kausalzusammenhang zwischen den Zinsen und den Dividenden besteht, für die ein EBE-Abzug in Anspruch genommen wurde.

20      Argenta Spaarbank erhielt im Geschäftsjahr 1999 (Steuerjahr 2000) 3 059 292 BEF (ca. 75 838 Euro) und im Geschäftsjahr 2000 (Steuerjahr 2001) 11 960 419 BEF (ca. 296 490 Euro) an Dividenden aus Beteiligungen, die zum Ausschüttungszeitpunkt seit weniger als einem Jahr bestanden.

21      Daher richtete die Steuerverwaltung an Argenta Spaarbank aufgrund von Art. 198 Nr. 10 WIB 92 zwei Nacherhebungsbescheide für die Steuerjahre 2000 und 2001, in denen Zinsen in Höhe von 75 837,87 Euro bzw. 296 491,04 Euro zu den „nicht abzugsfähigen Ausgaben“ hinzugerechnet wurden und daher nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgezogen werden konnten.

22      Mit Entscheidung vom 4. Mai 2004 wies der Regionaldirektor des Nationaal Controlecentrum I van de administratie voor de ondernemings- en inkomensfiscaliteit (Nationales Kontrollzentrum I der Unternehmens- und Einkommensteuerverwaltung, Belgien) die von Argenta Spaarbank gegen diese Steuerbescheide eingelegten Einsprüche zurück.

23      Am 3. August 2004 focht Argenta Spaarbank diese Entscheidung vor dem vorlegenden Gericht, der Rechtbank van eerste aanleg te Antwerpen (Gericht erster Instanz Antwerpen, Belgien), an. Sie begehrt die Nichtigerklärung dieser Steuerbescheide und macht u. a. geltend, Art. 198 Nr. 10 WIB 92 sei mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 unvereinbar, da die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung Zinsen nur dann für nicht abzugsfähig erklären könnten, wenn sie einen Kausalzusammenhang mit den Dividenden aufwiesen, für die ein EBE-Abzug in Anspruch genommen worden sei.

24      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank van eerste aanleg te Antwerpen (Gericht erster Instanz Antwerpen) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Verstößt Art. 198 Nr. 10 WIB 92 in der für die Steuerjahre 2000 und 2001 geltenden Fassung gegen Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435, soweit er bestimmt, dass Zinsen bis zur Höhe eines Betrags nicht als Werbungskosten berücksichtigt werden, der dem Betrag der gemäß den Art. 202 bis 204 WIB 92 freistellbaren Dividenden entspricht, die eine Gesellschaft auf Anteile erhält, die sie zum Zeitpunkt ihrer Übertragung nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr gehalten hat, wobei nicht danach unterschieden wird, ob die genannten Zinsbelastungen mit der (Finanzierung der) Beteiligung in Zusammenhang stehen, aus der die freistellbaren Dividenden bezogen wurden, oder nicht?

2.      Stellt Art. 198 Nr. 10 WIB 92 in der für die Steuerjahre 2000 und 2001 geltenden Fassung eine Bestimmung zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 dar und, wenn ja, geht in diesem Fall Art. 198 Nr. 10 WIB 92 über das zur Verhinderung von derartigen Steuerhinterziehungen oder Missbräuchen erforderliche Maß hinaus, soweit er bestimmt, dass Zinsen bis zur Höhe eines Betrags nicht als Werbungskosten berücksichtigt werden, der dem Betrag der gemäß den Art. 202 bis 204 WIB 92 freistellbaren Dividenden entspricht, die eine Gesellschaft auf Anteile erhält, die sie zum Zeitpunkt ihrer Übertragung nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr gehalten hat, wobei nicht danach unterschieden wird, ob die genannten Zinsbelastungen mit der (Finanzierung der) Beteiligung in Zusammenhang stehen, aus der die freistellbaren Dividenden bezogen wurden, oder nicht?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

25      Die belgische Regierung bezweifelt die Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens. Zur Stützung dieser Einrede der Unzulässigkeit weist sie darauf hin, dass Art. 198 Nr. 10 WIB 92 den belgischen Steuerbehörden gestatte, allen von einer Muttergesellschaft im Lauf des betreffenden Steuerzeitraums gezahlten Zinsen die Abzugsfähigkeit in Höhe der Dividenden zu versagen, die aus weniger als ein Jahr lang gehaltenen Beteiligungen am Kapital einer Tochtergesellschaft bezogen worden seien und für die der EBE-Abzug in Anspruch genommen werden könne.

26      Unter diesen Voraussetzungen macht die belgische Regierung geltend, dass Art. 198 Nr. 10 WIB 92 zwar insofern Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 ähnele, als er ein Mittel zur Bekämpfung der missbräuchlichen Praxis biete, die darin bestehe, ein Darlehen aufzunehmen, um die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft zu mindern, wobei abzugsfähige Zinsen generiert würden, indem Beteiligungen an Tochtergesellschaften erworben würden, die ebenfalls abzugsfähige Dividenden erwirtschafteten.

27      Da Art. 198 Nr. 10 WIB 92 jedoch indirekt eine Neutralisierung des aufgrund der Art. 202 bis 204 WIB 92 erfolgenden Abzugs der aus kurzfristigen Beteiligungen stammenden Dividenden bewirke, sei davon auszugehen, dass er durch Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 gedeckt sei, der es den Mitgliedstaaten gestatte, von dem durch die Richtlinie eingeführten System der Gewinnminderung Unternehmen auszunehmen, „die nicht während eines Zeitraums von mindestens zwei Jahren im Besitz einer Beteiligung bleiben, aufgrund deren sie als Muttergesellschaften gelten“. Die letztgenannte Bestimmung impliziere nämlich, dass die Mitgliedstaaten in dem von ihr erfassten Fall nicht verpflichtet seien, der Richtlinie 90/435 nachzukommen. Daher stehe es ihnen nicht nur frei, die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Vorteile nicht zu gewähren, sondern sie könnten auch Kosten in einem Umfang und unter Bedingungen, die nicht den Vorschriften von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie entsprächen, als nicht abzugsfähig ansehen oder Gebrauch von einer Bestimmung zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie machen, die über das hinausgehe, was erforderlich sei, um die Steuerhinterziehungen und Missbräuche zu verhindern.

28      Insoweit betreffe Art. 198 Nr. 10 WIB 92 einen Fall, für den die Richtlinie 90/435 nicht gelte.

29      Hierzu ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 abweichend von Abs. 1 dieses Artikels den Mitgliedstaaten die „Möglichkeit“ gibt, von der Richtlinie ihre Gesellschaften „auszunehmen“, die nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren im Besitz einer Beteiligung bleiben, aufgrund deren sie als Muttergesellschaften gelten, oder an denen eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren eine solche Beteiligung hält.

30      Wie schon dem Wortlaut dieser Bestimmung zu entnehmen ist, sieht sie keine allgemeine Ausnahme von der Anwendung der Richtlinie 90/435 vor, sondern nur eine Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, denen, wenn sie davon Gebrauch machen wollen, die Umsetzung in ihr innerstaatliches Recht obliegt. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften einer Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Weise umgesetzt werden müssen, dass sie unzweifelhaft verbindlich und so konkret, bestimmt und klar sind, dass sie dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügen (vgl. Urteil vom 15. Oktober 2015, Kommission/Deutschland, C-137/14, EU:C:2015:683, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht das System des WIB 92 und insbesondere Art. 198 Nr. 10 WIB 92 anders auslegt, als es die belgische Regierung vor dem Gerichtshof getan hat.

32      Das vorlegende Gericht führt nämlich aus, der belgische Gesetzgeber habe die Richtlinie 90/435 ursprünglich in der Weise in innerstaatliches Recht umgesetzt, dass er sie zur Gänze auf inländische Muttergesellschaften angewandt habe, ohne ausdrücklich einen Mindestzeitraum vorzusehen, innerhalb dessen eine Gesellschaft Anteile halten müsse, um als Muttergesellschaft der Tochtergesellschaft, an der eine solche Beteiligung erworben worden sei, zu gelten und Anspruch auf Abzug der Dividenden auf diese Anteile zu haben.

33      Somit habe das Königreich Belgien beim Erlass des WIB 92 nicht von der den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich erster Satzteil der Richtlinie 90/435 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht.

34      Wie eine eingehende Analyse der Entstehungsgeschichte, des Gegenstands und des Zwecks von Art. 198 Nr. 10 WIB 92 zeige, werde mit dieser Bestimmung vielmehr Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 in belgisches Recht umsetzt, denn sie solle inländische Muttergesellschaften daran hindern, einen doppelten Steuerabzug vorzunehmen, indem sie mittels einer abzugsfähigen externen Finanzierung Anteile an Tochtergesellschaften erwürben, die ebenfalls abzugsfähige Dividenden generierten.

35      Daher liege der Grund dafür, dass Art. 198 Nr. 10 WIB 92 keinen Zusammenhang zwischen dem Erwerb solcher Anteile und der Finanzierung dieses Geschäfts vorsehe, nicht darin, dass der belgische Gesetzgeber den Abzug von Dividenden aus kurzfristigen Beteiligungen aufgrund der Ermächtigung in Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich erster Satzteil der Richtlinie 90/435 habe neutralisieren wollen, sondern darin, dass er die praktischen Schwierigkeiten habe überwinden wollen, die für die Steuerverwaltung bei der konkreten Prüfung des Zusammenhangs zwischen der Finanzierung eines Geschäfts und dem erworbenen Gegenstand im Rahmen der Umsetzung der Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie aufgetreten seien.

36      Auf der Grundlage dieser Auslegung von Art. 198 Nr. 10 WIB 92 hat das vorlegende Gericht es für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem es befasst ist, als erforderlich erachtet, um Vorabentscheidung zu ersuchen.

37      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (Urteile vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves, C-48/07, EU:C:2008:758, Rn.16, sowie vom 21. Dezember 2016, Vervloet u. a., C-76/15, EU:C:2016:975, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Außerdem ist der Gerichtshof nicht befugt, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens darüber zu entscheiden, wie nationale Vorschriften auszulegen sind oder ob ihre Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist. Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen (Urteil vom 23. April 2009, Angelidaki u. a., C-378/07 bis C-380/07, EU:C:2009:250, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Nach alledem ist bei der Prüfung der von der belgischen Regierung erhobenen Einrede der Unzulässigkeit allein auf die vom vorlegenden Gericht vorgenommene, im Wesentlichen in den Rn. 32 bis 35 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Auslegung von Art. 198 Nr. 10 WIB 92 abzustellen.

40      In Anbetracht dieser Auslegung ist unter Berücksichtigung der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass eine Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 in den Anwendungsbereich der Richtlinie 90/435 fällt, da ihr Inhalt nicht so aufgefasst werden kann, dass er unter die in Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich erster Satzteil der Richtlinie vorgesehene fakultative Ausnahme fallen kann, sei es direkt oder – a fortiori – indirekt, wie die belgische Regierung vorbringt.

41      Folglich ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Beantwortung der Fragen

 Zur ersten Frage

42      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 einer nationalen Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 entgegensteht, wonach vom steuerpflichtigen Gewinn einer Muttergesellschaft die von ihr gezahlten Darlehenszinsen bis zu einem Betrag in Höhe der – bereits steuerlich absetzbaren – Dividenden aus Beteiligungen der Muttergesellschaft am Kapital von Tochtergesellschaften, die sie während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr gehalten hat, nicht abgesetzt werden können, auch wenn die Zinsen nicht mit der Finanzierung dieser Beteiligungen in Zusammenhang stehen.

43      Um diese Frage sachdienlich zu beantworten, sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435, sondern auch die Ziele und das System dieser Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. April 2008, Banque Fédérative du Crédit Mutuel, C-27/07, EU:C:2008:195, Rn. 22, vom 1. Oktober 2009, Gaz de France – Berliner Investissement, C-247/08, EU:C:2009:600, Rn. 26, und vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C-448/15, EU:C:2017:180, Rn. 24).

44      Zunächst ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 klar und eindeutig in dem Sinne formuliert ist, dass diese Bestimmung es einem Mitgliedstaat lediglich für „Kosten der Beteiligung“ einer Muttergesellschaft am Kapital einer Tochtergesellschaft gestattet, die Absetzbarkeit vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft auszuschließen.

45      Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht somit hervor, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, eine solche Absetzbarkeit für alle Darlehenszinsen einer Muttergesellschaft bis zu einem Betrag in Höhe der durch ihre Beteiligungen an ihren Tochtergesellschaften generierten Einkünfte auszuschließen.

46      Diese Auslegung des Wortlauts wird durch die Systematik der Richtlinie 90/435 und das mit ihr verfolgte Ziel bestätigt.

47      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 90/435 nach ihrem dritten Erwägungsgrund bezweckt, durch die Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats zu beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf der Ebene der Europäischen Union zu erleichtern. Die Richtlinie soll damit sicherstellen, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind (Urteile vom 1. Oktober 2009, Gaz de France – Berliner Investissement, C-247/08, EU:C:2009:600, Rn. 27, und vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C-448/15, EU:C:2017:180, Rn. 25).

48      Die Richtlinie zielt somit darauf ab, mittels der in ihrem Art. 4 Abs. 1 und in ihrem Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Mechanismen zu verhindern, dass es zu einer Doppelbesteuerung der von den Tochtergesellschaften an die Muttergesellschaften ausgeschütteten Gewinne kommt, dass also die ausgeschütteten Gewinne ein erstes Mal bei der Tochtergesellschaft und ein zweites Mal bei der Muttergesellschaft belastet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. April 2008, Banque Fédérative du Crédit Mutuel, C-27/07, EU:C:2008:195, Rn. 27; vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 29, vom 1. Oktober 2009, Gaz de France – Berliner Investissement, C-247/08, EU:C:2009:600, Rn. 57, und vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C-448/15, EU:C:2017:180, Rn. 36).

49      Insbesondere sieht Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 vor, dass der Mitgliedstaat einer Muttergesellschaft, wenn diese als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft Gewinne bezieht, diese Gewinne entweder nicht besteuert oder es zulässt, dass die Muttergesellschaft auf die Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, und gegebenenfalls die Quellensteuer, die der Mitgliedstaat der Tochtergesellschaft erhebt, bis zur Höhe der entsprechenden innerstaatlichen Steuer anrechnen kann (Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C-446/04, EU:C:2006:774, Rn. 102, vom 3. April 2008, Banque Fédérative du Crédit Mutuel, C-27/07, EU:C:2008:195, Rn. 25, und vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C-448/15, EU:C:2017:180, Rn. 37).

50      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 räumt den Mitgliedstaaten daher ausnahmsweise die Befugnis ein, zu bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können.

51      In diesem Kontext ist zum einen hervorzuheben, dass diese Bestimmung eng auszulegen ist und somit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht in einer Weise ausgelegt werden darf, die über ihren Wortlaut hinausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Oktober 1996, Denkavit u. a., C-283/94, C-291/94 und C-292/94, EU:C:1996:387, Rn. 27, und vom 25. September 2003, Océ van der Grinten, C-58/01, EU:C:2003:495, Rn. 86).

52      Zum anderen ist festzustellen, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 aufgestellte Regel der in Abs. 1 dieses Artikels enthaltenen Regel die praktische Wirksamkeit nehmen würde, wenn die erstgenannte Regel dahin auszulegen wäre, dass sie es den Mitgliedstaaten gestattet, den Abzug aller Darlehenszinsen vom steuerpflichtigen Gewinn einer Muttergesellschaft bis zu einem Betrag in Höhe der ihr aufgrund einer Beteiligung am Kapital einer Tochtergesellschaft zufließenden, von der Steuer befreiten Dividenden auszuschließen, ohne dass diese Nichtabsetzbarkeit auf die Zinsen für die Finanzierung der zur Ausschüttung der Dividenden führenden Beteiligung beschränkt wäre. Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, es den Mitgliedstaaten zu gestatten, indirekt die steuerpflichtigen Einkünfte einer Muttergesellschaft zu erhöhen und damit die steuerliche Neutralität der Ausschüttung von Dividenden zu beeinträchtigen, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft ihrer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft zahlt.

53      Schließlich ist allein die in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung des Wortlauts der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 aufgestellten Regel mit dem speziellen Ziel vereinbar, das diese Bestimmung im Rahmen des Systems der Richtlinie 90/435 verfolgt.

54      Die den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung eingeräumte Möglichkeit soll nämlich verhindern, dass einer Muttergesellschaft dadurch ein doppelter Steuervorteil zufließt, dass zum einen ihre Gewinne nach Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 nicht besteuert werden und zum anderen die Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung dieser Gewinne ergeben, zu einer Steuerminderung führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves, C-48/07, EU:C:2008:758, Rn. 42).

55      Im Hinblick darauf muss Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 notwendigerweise dahin ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten nur gestattet, zu verhindern, dass eine Muttergesellschaft in den Genuss des in der vorstehenden Randnummer angesprochenen doppelten Steuervorteils kommt. Würde man den Mitgliedstaaten gestatten, den Muttergesellschaften den Abzug von Zinsen zu versagen, die nicht mit dem Erwerb der zur Ausschüttung der von der Steuer befreiten Dividenden führenden Beteiligungen zusammenhängen, ginge dies offensichtlich über das zur Erreichung eines solchen Ziels erforderliche Maß hinaus.

56      Folglich stellt eine nationale Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92, die allgemein und automatisch die steuerliche Absetzbarkeit der Zinsen für ein von einer Muttergesellschaft aufgenommenes Darlehen bis zu einem Betrag in Höhe der bereits steuerlich absetzbaren Dividenden aufgrund einer Beteiligung dieser Muttergesellschaft am Kapital einer Tochtergesellschaft als Kosten oder Werbungskosten auch dann ausschließt, wenn die Zahlung dieser Zinsen in keinem Zusammenhang mit der Finanzierung des Erwerbs einer solchen Beteiligung steht, keine zulässige Umsetzung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 enthaltenen Ausnahmeregel dar.

57      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 entgegensteht, wonach vom steuerpflichtigen Gewinn einer Muttergesellschaft die von ihr gezahlten Darlehenszinsen bis zu einem Betrag in Höhe der – bereits steuerlich absetzbaren – Dividenden aus Beteiligungen der Muttergesellschaft am Kapital von Tochtergesellschaften, die sie während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr gehalten hat, nicht abgesetzt werden können, auch wenn die Zinsen nicht mit der Finanzierung dieser Beteiligungen in Zusammenhang stehen.

 Zur zweiten Frage

58      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten ermächtigt, eine nationale Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 anzuwenden.

59      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 vorsieht, dass die Richtlinie der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegensteht.

60      Wie die Generalanwältin in Nr. 51 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, spiegelt sich in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 der allgemeine Grundsatz des Unionsrechts wider, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist (Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed, C-321/05, EU:C:2007:408, Rn. 38), so dass sich niemand in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf das Unionsrecht berufen darf (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 69, und vom 28. Juli 2016, Kratzer, C-423/15, EU:C:2016:604, Rn. 37).

61      Wie die Generalanwältin in Nr. 52 ihrer Schlussanträge ebenfalls hervorgehoben hat, stellt Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 eine Grundsatzbestimmung dar, deren Inhalt in spezieller Form in anderen Bestimmungen der Richtlinie wieder aufgegriffen wird, u. a. in ihrem Art. 4 Abs. 2, der gerade zur Bekämpfung von Missbräuchen der Muttergesellschaften in Form eines doppelten Steuerabzugs dient (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Oktober 1996, Denkavit u. a., C-283/94, C-291/94 und C-292/94, EU:C:1996:387, Rn. 31).

62      Der Antwort auf die erste Frage ist aber zu entnehmen, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 einer nationalen Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 entgegensteht, da sie über die Maßnahmen hinausgeht, die der Unionsgesetzgeber für angemessen erachtet hat, um Missbräuche der Muttergesellschaften in Zusammenhang mit der Möglichkeit eines doppelten Steuerabzugs zu verhindern.

63      Nach alledem ist zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, eine nationale Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 WIB 92 anzuwenden, da sie über das zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen erforderliche Maß hinausgeht.

 Kosten

64      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 des Einkommensteuergesetzbuchs 1992, das durch den Königlichen Erlass vom 10. April 1992 koordiniert und durch das Gesetz vom 12. Juni 1992 bestätigt wurde, entgegensteht, wonach vom steuerpflichtigen Gewinn einer Muttergesellschaft die von ihr gezahlten Darlehenszinsen bis zu einem Betrag in Höhe der – bereits steuerlich absetzbaren – Dividenden aus Beteiligungen der Muttergesellschaft am Kapital von Tochtergesellschaften, die sie während eines Zeitraums von weniger als einem Jahr gehalten hat, nicht abgesetzt werden können, auch wenn die Zinsen nicht mit der Finanzierung dieser Beteiligungen in Zusammenhang stehen.

2.      Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, eine nationale Vorschrift wie Art. 198 Nr. 10 des Einkommensteuergesetzbuchs 1992, das durch den Königlichen Erlass vom 10. April 1992 koordiniert und durch das Gesetz vom 12. Juni 1992 bestätigt wurde, anzuwenden, da sie über das zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen erforderliche Maß hinausgeht.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.