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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

14. Dezember 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a – Besteuerungsgrundlage – Art. 17 – Recht auf Vorsteuerabzug – Art. 27 – Abweichende Sondermaßnahmen – Entscheidung 89/534/EWG – Vertriebssystem, das auf der Lieferung von Gegenständen durch nicht steuerpflichtige Personen beruht – Besteuerung auf der Grundlage des Normalwerts des Gegenstands im letzten Stadium des Vertriebs – Einbeziehung der diesen Personen entstandenen Kosten“

In der Rechtssache C-305/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Steuerkammer], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 25. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Mai 2016, in dem Verfahren

Avon Cosmetics Ltd

gegen

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Avon Cosmetics Ltd, vertreten durch D. Scorey, QC, und R. Cordara, QC, beauftragt von A. Cook, I. Hyde und S. P. Porter, Solicitors,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Kraehling, G. Brown und D. Robertson als Bevollmächtigte im Beistand von M. Hall, QC,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Bauerschmidt, E. Moro und E. Chatziioakeimidou als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, R. Lyal und A. Lewis als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2004/7/EG des Rates vom 20. Januar 2004 (ABl. 2004, L 27, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie der ihr zugrunde liegenden Grundsätze im Hinblick auf die mit der Entscheidung 89/534/EWG des Rates vom 24. Mai 1989 zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zur Anwendung einer Sondermaßnahme bezüglich bestimmter Lieferungen an nichtsteuerpflichtige Wiederverkäufer in Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie (ABl. 1989, L 280, S. 54) gewährte Abweichung und zum anderen die Gültigkeit dieser Entscheidung.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Avon Cosmetics Ltd (im Folgenden: Avon) und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich, im Folgenden: Steuerverwaltung) u. a. über die Nichtberücksichtigung bestimmter Kosten nicht steuerpflichtiger Wiederverkäufer bei der Bestimmung der Besteuerungsgrundlage für die von Avon gemäß der Entscheidung 89/534 zu zahlende Mehrwertsteuer.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Sechste Richtlinie wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) ersetzt.

4

Art. 2 der Sechsten Richtlinie lautete:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1.   Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

…“

5

Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmte:

„Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.“

6

Art. 11 dieser Richtlinie sah vor:

„A. Im Inland

(1)   Die Besteuerungsgrundlage ist:

a)

bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen;

…“

7

Art. 17 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“) der Richtlinie lautete:

„(1)   Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

(2)   Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,

…“

8

Art. 27 der Richtlinie bestimmte:

„(1)   Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 bezeichneten Maßnahmen einführen möchte, sendet der Kommission einen Antrag zu und übermittelt ihr alle erforderlichen Angaben. …

…“

9

Die Erwägungsgründe 2 bis 5, 9 und 10 der Entscheidung 89/534 lauten:

„Das Vereinigte Königreich wurde durch den am 13. Juni 1985 als gefasst geltenden Beschluss 85/369 … gemäß dem Verfahren nach Artikel 27 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie ermächtigt, für einen Zeitraum von zwei Jahren eine von der Sechsten Richtlinie abweichende Sondermaßnahme zur Bekämpfung von Steuerumgehungen einzuführen.

Bestimmte Vertriebssysteme, bei denen Steuerpflichtige zwecks Weiterverkaufs auf der Einzelhandelsstufe Waren an nichtsteuerpflichtige Personen verkaufen, ermöglichen eine Umgehung der Steuern im Stadium des Endverbrauchs.

Zur Verhinderung solcher Steuerumgehungen wendet das Vereinigte Königreich eine Maßnahme an, der zufolge die Steuerbehörden Verwaltungsbeschlüsse fassen können mit dem Ziel, die Lieferungen von Steuerpflichtigen, die derartige Vertriebssysteme in Anspruch nehmen, auf der Grundlage des Normalwerts auf der Einzelhandelsstufe zu besteuern.

Diese Maßnahme stellt eine Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie dar, [dem zufolge] im Inland bei Lieferungen von Gegenständen die Besteuerungsgrundlage alles ist, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer für diese Umsätze vom Abnehmer oder einem Dritten erhält oder erhalten soll.

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1988[, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383),] unter anderem für Recht erkannt, dass Artikel 27 der Sechsten Richtlinie eine derartige abweichende Maßnahme erlaubt, sofern die daraus resultierende unterschiedliche Behandlung durch objektive Umstände gerechtfertigt ist.

Um zu beurteilen, ob diese Bedingung erfüllt ist, muss die Kommission von den Verwaltungsbeschlüssen in Kenntnis gesetzt werden, die die Steuerbehörden im Rahmen der betreffenden Ausnahmeregelung gegebenenfalls fassen.

…“

10

Art. 1 dieser Entscheidung sieht vor:

„In Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie wird das Vereinigte Königreich ermächtigt, in den Fällen, in denen ein auf der Lieferung von Gegenständen unter Einschaltung nichtsteuerpflichtiger Personen basierendes Vertriebssystem zu einer Nichtbesteuerung im Stadium des Endverbrauchs führt, Lieferungen an diese Personen auf der Grundlage des Normalwerts des Gegenstandes in diesem letzten Stadium zu besteuern.“

Recht des Vereinigten Königreichs

11

Section 1 (1) des Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz 1994, im Folgenden: Gesetz von 1994) sieht vor:

„Gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes unterliegen der Mehrwertsteuer

(a)

alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen im Vereinigten Königreich …“

12

Section 4 (1) dieses Gesetzes lautet:

„Mehrwertsteuer wird erhoben auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die im Vereinigten Königreich erfolgen, soweit es sich um eine steuerbare Lieferung handelt, die von einem Steuerpflichtigen im Rahmen oder zur Förderung seiner Geschäftstätigkeit erbracht wird.

…“

13

Section 19 (2) des Gesetzes bestimmt:

„Erfolgt die Lieferung für eine Gegenleistung in Geld, so ist ihr Wert der Betrag, der zuzüglich der zu erhebenden Mehrwertsteuer der Gegenleistung entspricht.

…“

14

Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes sieht vor:

„Wenn

(a)

die Geschäftstätigkeit eines Steuerpflichtigen ganz oder zum Teil darin besteht, an eine Anzahl von Personen Gegenstände zu liefern, die entweder durch diese oder durch andere im Einzelhandel verkauft werden sollen, und

(b)

diese Personen nicht steuerpflichtig sind,

[kann die Steuerverwaltung] durch schriftlichen Bescheid an den Steuerpflichtigen anordnen, dass sich der Wert jeder derartigen Lieferung durch ihn nach Zugang des Bescheids oder nach einem gegebenenfalls darin bezeichneten späteren Zeitpunkt nach dem Normalwert dieser Lieferung bei einem Verkauf im Einzelhandel bestimmt.“

15

Auf der Grundlage der in der vorstehenden Randnummer genannten Abweichung erteilte die Steuerverwaltung Avon eine schriftliche Weisung (Notice of Direction) (im Folgenden: Bescheid), die wie folgt lautete:

„Gemäß [Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 ordnet die Steuerverwaltung] hiermit an, dass sich ab dem 1. Juli 1985 der Wert, auf den Mehrwertsteuer auf steuerpflichtige Lieferungen von Gegenständen

(a)

durch Sie an nicht steuerpflichtige Personen ...

(b)

zum Einzelhandelsverkauf durch die unter (a) genannten Personen oder durch andere Personen

erhoben wird, nach dem Normalwert der Lieferung bei einem Verkauf im Einzelhandel bestimmt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Avon ist im Bereich der Herstellung und des Verkaufs von Waren tätig, die hauptsächlich dem kosmetischen Gebrauch dienen. Ihr Vertrieb im Einzelhandel wird durch selbständige Vertreterinnen (im Folgenden: Vertreterinnen) durchgeführt. Nahezu alle im Vereinigten Königreich tätigen Vertreterinnen sind nicht mehrwertsteuerpflichtig, da sie nicht im Mehrwertsteuerregister eingetragen sind und der von ihnen erzielte Umsatz nicht so hoch ist, dass eine Eintragung als Mehrwertsteuerpflichtige vorgeschrieben wäre.

17

Avon verkauft an diese Vertreterinnen zu einem Preis, der unter dem von Avon vorgesehenen Einzelhandelspreis liegt. Diese Verkäufe unterliegen der Mehrwertsteuer. Dagegen unterliegen, da die Vertreterinnen nicht mehrwertsteuerpflichtig sind, die von ihnen vorgenommenen Einzelhandelsverkäufe nicht der Mehrwertsteuer.

18

Dieses System hat zur Folge, dass die Differenz zwischen dem Einzelhandelspreis und dem von den Vertreterinnen an Avon gezahlten Preis nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

19

Um dieser Situation abzuhelfen, ermächtigte das Vereinigte Königreich die Steuerverwaltung u. a. durch den Finance Act 1977 (Finanzgesetz 1977), Mehrwertsteuerpflichtigen Weisungen zu erteilen, damit die von ihnen geschuldete Steuer nach Maßgabe des Einzelhandelspreises berechnet wird.

20

Das Vereinigte Königreich teilte der Kommission der Europäischen Gemeinschaften diese Maßnahme nach Art. 27 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie als abweichende Sondermaßnahme im Sinne von Art. 27 Abs. 1 mit, die es nach dem Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie am 1. Januar 1978 aufrechtzuerhalten gedachte.

21

Mit der Entscheidung 85/369/EWG („Anwendung von Artikel 27 der sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 [Genehmigung einer vom Vereinigten Königreich beantragten abweichenden Maßnahme zur Verhinderung bestimmter Steuerumgehungen]“) des Rates vom 13. Juni 1985 (ABl. 1985, L 199, S. 60) wurde die abweichende Maßnahme für die Dauer von zwei Jahren genehmigt und zu einem späteren Zeitpunkt um zwei weitere Jahre verlängert.

22

Der Gerichtshof, der mit Vorabentscheidungsersuchen über die Durchführung der mit der Entscheidung 85/369 genehmigten abweichenden Maßnahme befasst wurde, stellte nichts fest, was die Gültigkeit dieser Entscheidung hätte in Frage stellen können (Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs, 138/86 und 139/86, EU:C:1988:383).

23

Mit der Entscheidung 89/534 verlängerte der Rat die dem Vereinigten Königreich erteilte Ermächtigung, von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie abzuweichen, um eine Nichtbesteuerung im Stadium des Endverbrauchs zu verhindern.

24

Gemäß Anhang 6 Abs. 2 des auf der Grundlage dieser Entscheidung erlassenen Gesetzes von 1994 und des Bescheids entspricht die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer im Fall von Avon dem Verkaufswert im Stadium des Endverbrauchs der Gegenstände, die Avon an nicht steuerpflichtige Personen geliefert hat. Mit anderen Worten wird die Mehrwertsteuer auf die von Avon an die Vertreterinnen verkauften Waren gemäß diesem System nicht auf der Grundlage des Preises ohne Steuer berechnet, zu dem Avon ihnen diese Waren verkauft, sondern auf der Grundlage des Preises, zu dem die Vertreterinnen sie an ihre Kunden weiterverkaufen sollen, wobei diese Mehrwertsteuermehrzahlung zulasten von Avon geht. Jedoch passt die Steuerverwaltung diese Berechnung in der Praxis in zweierlei Hinsicht an, um die Tatsache zu berücksichtigen, dass die nicht steuerpflichtigen Vertreterinnen bestimmte Waren für ihren persönlichen Gebrauch erwerben und dass sie bestimmte Waren mit einem Preisnachlass veräußern.

25

Avon erhob beim vorlegenden Gericht eine Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Mehrwertsteuer in Höhe von 14 Mio. Pfund Sterling (GBP) (rund 15792000 Euro) und trug zur Begründung vor, dass das aufgrund des Bescheids auf das Unternehmen anwendbare Steuersystem nicht die Steuer bezüglich der Kosten für die Anschaffung von Vorführartikeln durch die Vertreterinnen berücksichtige. Diese Vorführartikel seien dafür bestimmt, den Vertreterinnen bei der Steigerung ihres Absatzes zu helfen, und Avon verkaufe sie ihnen mit einem größeren Nachlass als andere Artikel. Da es sich Avon zufolge bei den Anschaffungen dieser Artikel um Geschäftskosten handeln würde, wenn die Vertreterinnen mehrwertsteuerpflichtig wären, hätten sie die auf diese Anschaffungen entfallene Mehrwertsteuer abziehen können.

26

Der Bescheid gehe daher über das hinaus, was erforderlich sei, um das verfolgte Ziel zu erreichen, und habe eine Mehrwertsteuerüberzahlung zur Folge, weil keine Anpassung vorgenommen werde, um die Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, die den Vertreterinnen bei der Anschaffung von Vorführartikeln auferlegt werde. Folglich werde gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität verstoßen, und Avon werde im Wettbewerb gegenüber den Marktteilnehmern benachteiligt, die sich traditioneller Vertriebsmethoden bedienten und diese Mehrwertsteuerlast nicht zu tragen hätten.

27

Außerdem macht Avon geltend, das Vereinigte Königreich habe in seinem Antrag auf eine Abweichung bei der Kommission nicht alle erforderlichen Angaben im Sinne von Art. 27 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie übermittelt, obgleich das Problem der Ungleichbehandlung hinsichtlich der Mehrwertsteuer auf Vorführartikel schon bekannt gewesen sei. Daher zielt der von ihr bei dem vorlegenden Gericht gestellte Antrag darauf ab, dass die geschuldete Mehrwertsteuer angepasst wird, um die auf die Vorführartikel erhobene Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, oder – hilfsweise – dass die Entscheidung 89/534, Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 und der Bescheid für ungültig erklärt werden.

28

Die Steuerverwaltung betont, dass diese Bestimmung darauf abziele, einen Einnahmenverlust bei Umsätzen zu verhindern, die in Bezug auf ihren Einzelhandelspreis der Mehrwertsteuer entgingen. Sie ist der Ansicht, die fehlende Berücksichtigung der Mehrwertsteuer, die die Vertreterinnen für die Anschaffung von Vorführartikeln entrichteten, verstoße nicht gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der Neutralität und führe nicht zu Wettbewerbsverzerrungen, da Avon eine Betriebsstruktur und einen Marktansatz gewählt habe, die von denen der traditionellen Wiederverkäufer abwichen, und da Avon und diese Wiederverkäufer ihre Tätigkeiten auf unterschiedlichen Märkten ausübten, auch wenn die veräußerten Waren ähnlich seien. Diese Umstände rechtfertigten eine unterschiedliche steuerliche Behandlung.

29

Des Weiteren sei es nicht angemessen, die Berechnung und Erhebung der Mehrwertsteuer für die Steuerpflichtigen oder die Steuerbehörden unnötig zu erschweren. Folgte man den Argumenten von Avon, so würde dies aber dazu führen, den nicht steuerpflichtigen Vertreterinnen einen bedeutenden Verwaltungsaufwand aufzuerlegen.

30

Die Steuerverwaltung ist der Ansicht, sie könne Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 nicht dahin auslegen, dass Avon die von den Vertreterinnen entrichtete Mehrwertsteuer für den Erwerb von Vorführartikeln abziehen könne, ohne über die Genehmigung des Rates, über ihre eigenen Vorschriften und über den Grundsatz, dass eine Ausnahme von dem normalen Mehrwertsteuermechanismus eng auszulegen sei, hinauszugehen.

31

Mit Zwischenurteil vom 19. Februar 2014 stellte das vorlegende Gericht fest, dass der Wortlaut der in Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 wiedergegebenen Entscheidung 89/534 eine Berücksichtigung der von den Vertreterinnen für den Erwerb von Vorführartikeln entrichteten Mehrwertsteuer nicht erlaube und so zu einer „zurückbleibenden“ Steuer führe, d. h. zu einer nicht erstattungsfähigen Vorsteuer. Daraus leitete es ab, dass die genannte Bestimmung einen unlauteren Wettbewerb zwischen Avon und Rechtseinheiten schaffe, die durch steuerpflichtige Einzelhändler vertrieben. Folglich gehe Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 über das hinaus, was notwendig sei, um sein Ziel, die Verhinderung von Steuerumgehungen, zu erreichen.

32

Das vorlegende Gericht sieht sich veranlasst, den Gerichtshof hierzu zu befragen, da diese Bestimmung seiner Ansicht nach den Wortlaut der Entscheidung 89/534 wiedergibt und da es die Gültigkeit dieser Entscheidung u. a. im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Frage stellt.

33

Daher hat das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Steuerkammer]) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Verkauft ein Direktverkäufer Waren („Verkaufshilfen“) an einen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer oder erwirbt ein nicht steuerpflichtiger Wiederverkäufer Waren oder Dienstleistungen von Dritten („von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen“), die in beiden Fällen von dem nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer zur Unterstützung seiner Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, die darin besteht, andere Waren zu vertreiben, die ebenfalls von dem Direktverkäufer erworben werden und die Gegenstand von Verwaltungsvereinbarungen sind, die aufgrund einer abweichenden Maßnahme erlassen wurden, zu der zuletzt die Entscheidung 89/534 ermächtigt hat, verstoßen dann die relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften und/oder Verwaltungsvereinbarungen insoweit gegen einschlägige Vorschriften und/oder Grundsätze des Unionsrechts, als sie den Direktverkäufer verpflichten, die Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Verkaufspreises der anderen Waren des nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufers zu berechnen, ohne dass die vom nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf solche Verkaufshilfen und/oder von Dritten erworbenen Waren und Dienstleistungen gezahlte Mehrwertsteuer abgezogen werden kann?

2.

War das Vereinigte Königreich verpflichtet, als es beim Rat die Ermächtigung für die abweichende Maßnahme gemäß Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 beantragte, die Kommission zu informieren, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuern auf den Erwerb von Verkaufshilfen und/oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen zu zahlen haben, die sie für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit nutzen, und dass die abweichende Maßnahme folglich angepasst werden sollte, um nicht erstattungsfähige Vorsteuern oder überzahlte Mehrwertsteuern zu berücksichtigen?

3.

Für den Fall, dass Frage 1 und/oder Frage 2 zu bejahen ist/sind:

a)

Können und sollten die relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften oder Verwaltungsvereinbarungen dahin ausgelegt werden, dass Folgendes zu berücksichtigen ist: entweder i) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder ii) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von der Steuerverwaltung eingetrieben wurden, oder iii) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen?

b)

Ferner:

i)

War die Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zu der Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie rechtswidrig?

ii)

Ist neben einer Abweichung – gemäß Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 – von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a eine Abweichung von Art. 17 der Sechsten Richtlinie notwendig? Wenn ja, handelte das Vereinigte Königreich rechtswidrig, indem es bei der Kommission oder beim Rat keine Ermächtigung zu einer Abweichung von Art. 17 beantragte?

iii)

Handelt das Vereinigte Königreich rechtswidrig, weil die Mehrwertsteuerverwaltung nicht so gestaltet ist, dass Direktverkäufer eine Gutschrift für Mehrwertsteuern verlangen können, die nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen gezahlt haben?

iv)

Sind daher alle oder Teile der relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften und/oder Verwaltungsvereinbarungen ungültig und/oder rechtswidrig?

c)

Ist die geeignete Abhilfemaßnahme seitens des Gerichtshofs oder seitens des innerstaatlichen Gerichts

i)

die Weisung, dass der Mitgliedstaat verpflichtet ist, der abweichenden Maßnahme gemäß Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 im innerstaatlichen Recht Wirkung zu verleihen, indem in Bezug auf folgende Punkte eine angemessene Anpassung vorgesehen wird: a) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder b) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von der Steuerverwaltung eingetrieben wurden, oder c) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen; oder

ii)

die Feststellung, dass die Ermächtigung zu der abweichenden Maßnahme gemäß Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 und demnach die abweichende Maßnahme selbst unwirksam sind; oder

iii)

die Feststellung, dass die innerstaatliche Gesetzgebung ungültig ist; oder

iv)

die Feststellung, dass der Bescheid ungültig ist; oder

v)

die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich verpflichtet ist, eine Ermächtigung zu einer weiteren abweichenden Maßnahme zu beantragen, um in Bezug auf folgende Punkte eine angemessene Anpassung vorzusehen: a) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder b) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von der Steuerverwaltung eingetrieben wurden, oder c) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen?

4.

Sind die „Steuerhinterziehungen oder -umgehungen“ im Sinne von Art. 27 der Sechsten Richtlinie (Art. 395 der Richtlinie 2006/112) als Nettosteuerverlust (unter Berücksichtigung der gezahlten Mehrwertsteuer und der erstattungsfähigen Vorsteuer in der zur Steuerhinterziehung oder -umgehung führenden Struktur) für den Mitgliedstaat oder als Bruttosteuerverlust (unter Berücksichtigung lediglich der Mehrwertsteuer in der zur Steuerhinterziehung oder -umgehung führenden Struktur) für den Mitgliedstaat zu verstehen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

34

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob die Art. 17 und 27 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abweichenden Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, die mit der Entscheidung 89/534 gemäß Art. 27 dieser Richtlinie genehmigt wurde und nach der die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer im Fall einer Direktvertriebsgesellschaft der Normalwert der verkauften Gegenstände im Stadium des Endverbrauchs ist, wenn diese Gegenstände durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer vertrieben werden, ohne dass die Vorsteuer auf die von diesen Wiederverkäufern bei dieser Gesellschaft erworbenen Vorführartikel auf irgendeine Weise berücksichtigt würde. Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Entscheidung 89/534 deshalb ungültig ist, weil sie es dem Vereinigten Königreich nicht erlaubt, die von diesen Wiederverkäufern in Bezug auf diese Vorführartikel entrichtete Vorsteuer zu berücksichtigen, und dadurch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität verletzt.

35

Was insbesondere die Auslegung der Art. 17 und 27 der Sechsten Richtlinie angeht, ist zunächst festzustellen, dass die dem Vereinigten Königreich nach Art. 27 der Sechsten Richtlinie gewährte Abweichung, die im innerstaatlichen Recht in Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 zum Ausdruck kommt, gemäß der Entscheidung 89/534 die Verhütung von Steuerumgehungen bezweckt.

36

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sind abweichende nationale Maßnahmen, die Steuerhinterziehungen oder -umgehungen verhüten sollen, eng auszulegen und dürfen von der in Art. 11 der Sechsten Richtlinie geregelten Besteuerungsgrundlage nur insoweit abweichen, als dies für die Erreichung dieses Ziels unbedingt erforderlich ist (Urteile vom 10. April 1984, Kommission/Belgien, 324/82, EU:C:1984:152, Rn. 29, und vom 29. Mai 1997, Skripalle, C-63/96, EU:C:1997:263, Rn. 24).

37

Nach dem Grundprinzip des Mehrwertsteuersystems, das sich aus Art. 2 der Sechsten Richtlinie ergibt, wird die Mehrwertsteuer auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, wobei die Mehrwertsteuer abgezogen wird, mit der die zuvor getätigten Umsätze unmittelbar belastet worden sind. Das Recht auf Vorsteuerabzug ist nämlich integrierender Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 1995, BP Soupergaz, C-62/93, EU:C:1995:223, Rn. 16 und 18, und vom 19. September 2000, Ampafrance und Sanofi, C-177/99 und C-181/99, EU:C:2000:470, Rn. 34).

38

Vorliegend sieht Anhang 6 Abs. 2 des Gesetzes von 1994 – in Übereinstimmung mit Art. 1 der Entscheidung 89/534 und mit einem ähnlichen Wortlaut – eine Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie vor, indem er die Steuerverwaltung ermächtigt, die Besteuerungsgrundlage eines Mehrwertsteuerpflichtigen für die Waren, die er nicht mehrwertsteuerpflichtigen Wiederverkäufern liefert, nach Maßgabe des Marktwerts dieser Waren bei einem Verkauf im Einzelhandel festzulegen. Daraus ergibt sich, dass der Mehrwertsteuerpflichtige in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens in gewisser Weise anstelle der nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer besteuert wird.

39

Die mit der Entscheidung 89/534 genehmigte abweichende Maßnahme betrifft jedoch nicht die Vorschriften zum Recht auf Vorsteuerabzug in den Art. 17 bis 20 dieser Richtlinie, die somit vorliegend anwendbar bleiben.

40

Genauer gesagt erlaubt sie keine Abweichung von Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie, wonach der Steuerpflichtige befugt ist, von der von ihm geschuldeten Steuer die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden, abzuziehen.

41

In Anwendung dieser Bestimmung kann die Steuer auf Vorführartikel oder andere von – mehrwertsteuerpflichtigen oder nicht mehrwertsteuerpflichtigen – Wiederverkäufern erworbene Gegenstände und Dienstleistungen nicht von der Steuer abgezogen werden, die eine Direktvertriebsgesellschaft – wie Avon im Ausgangsverfahren – schuldet, die keinen Gegenstand und keine Dienstleistung von Dritten erworben hat, sondern die im Gegenteil die Vorführartikel an die Wiederverkäufer verkauft hat.

42

Des Weiteren sind die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertreterinnen, die Waren im Rahmen eines Direktvertriebssystems vertreiben, nicht mehrwertsteuerpflichtig und haben daher nicht gemäß Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie das Recht, die ihnen von ihren Lieferanten von Gegenständen und Dienstleistungserbringern in Rechnung gestellte Steuer ganz oder teilweise zurückzuerlangen.

43

Aus diesen Erwägungen folgt, dass auf die erste Frage zu antworten ist, dass die Art. 17 und 27 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abweichenden Maßnahme wie der im Ausgangsverfahrens in Rede stehenden – die mit der Entscheidung 89/534 gemäß Art. 27 dieser Richtlinie genehmigt wurde und nach der die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer im Fall einer Direktvertriebsgesellschaft der Normalwert der verkauften Gegenstände im Stadium des Endverbrauchs ist, wenn diese Gegenstände durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer vertrieben werden – nicht entgegenstehen, auch wenn diese abweichende Maßnahme die Vorsteuer auf die von diesen Wiederverkäufern bei dieser Gesellschaft erworbenen Vorführartikel nicht auf irgendeine Weise berücksichtigt.

44

Was die Gültigkeit der Entscheidung 89/534 angeht, so ist erstens darauf hinzuweisen, dass eine Handlung der Union, die das System der Mehrwertsteuer betrifft, nur dann mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, wenn ihre Bestimmungen als zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele geeignet und erforderlich anzusehen sind und wenn davon auszugehen ist, dass sie die Ziele und Grundsätze der Sechsten Richtlinie so wenig wie möglich beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2000, Ampafrance und Sanofi, C-177/99 und C-181/99, EU:C:2000:470, Rn. 60, und vom 29. April 2004, Sudholz, C-17/01, EU:C:2004:242, Rn. 46).

45

Vorliegend wird mit der in der Entscheidung 89/534 enthaltenen abweichenden Maßnahme gemäß den Erwägungsgründen 2 bis 4 der Entscheidung das Ziel verfolgt, Steuerumgehungen zu verhindern, und dem Vereinigten Königreich soll es damit ermöglicht werden, gewisse konkrete Probleme im Bereich der Mehrwertsteuer zu lösen, die durch das Direktvertriebssystem verursacht werden. Da es nämlich im letzten Vertriebsstadium nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer gibt, führt dieses System dazu, dass die Lieferungen dieser Wiederverkäufer an den Endverbraucher nicht dieser Steuer unterliegen.

46

In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich bei dem Begriff „Steuerumgehung“ im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie um einen rein objektiven Tatbestand handelt und dass diese Bestimmung den Erlass einer von der Grundregel von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abweichenden Maßnahme auch dann zulässt, wenn der Steuerpflichtige seine Tätigkeit nicht in der Absicht, sich einen steuerlichen Vorteil zu verschaffen, sondern aus kommerziellen Gründen ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs, 138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 21 und 24).

47

Die in der Entscheidung 89/534 enthaltene abweichende Maßnahme, die das Vereinigte Königreich ermächtigt, den Absatz von Waren einer Direktvertriebsgesellschaft an Endverbraucher durch nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, indem die Besteuerungsgrundlage dieser Gesellschaft nach Maßgabe des Normal- oder Marktwerts der von den Wiederverkäufern verkauften Gegenstände festgelegt wird, ermöglicht die Vermeidung von Steuereinnahmeverlusten, die sich aus einem solchen Vertriebssystem ergeben. Eine solche Regelung erscheint somit geeignet zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung von Steuerumgehungen.

48

Zwar ermöglicht die Entscheidung 89/534 es nicht, die Vorsteuer für Vorführartikel, die nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer bei einer Direktvertriebsgesellschaft erworben haben, auf die eine oder andere Weise zu berücksichtigen.

49

Wie aus den Rn. 40 und 41 des vorliegenden Urteils hervorgeht, würde jedoch die Berücksichtigung dieser Vorsteuer in der Besteuerungsgrundlage der in Art. 1 der Entscheidung 89/534 genannten Lieferungen eine nicht genehmigte Abweichung von Art. 17 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie darstellen.

50

Außerdem könnte die Berücksichtigung dieser Vorsteuer in der Besteuerungsgrundlage die Mehrwertsteuererhebung hinsichtlich der von dieser Entscheidung betroffenen Vertriebssysteme erschweren.

51

Daher ist festzustellen, dass die Entscheidung 89/534 nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung von Steuerumgehungen erforderlich ist.

52

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es insbesondere nicht zulässt, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C-259/10 und C-260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die Vorsteuer auf Vorführartikel, die nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer bei einer Direktvertriebsgesellschaft – wie Avon im Ausgangsverfahren – erworben haben, in der Entscheidung 89/534 nicht berücksichtigt wird, dazu führt, dass die Vertriebskette der Waren dieser Gesellschaft eine höhere Mehrwertsteuerbelastung trägt als die der Wettbewerber der Gesellschaft. Jedoch ist dies lediglich die Folge der Wahl dieser Gesellschaft, ihre Waren im Wege eines Direktvertriebssystems zu vertreiben.

54

Daher – und angesichts der in den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils vorgenommenen Erwägungen – kann der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht dahin ausgelegt werden, dass diese Mehrwertsteuer in der Besteuerungsgrundlage der von Art. 1 der Entscheidung 89/534 erfassten Lieferungen berücksichtigt werden kann.

55

Folglich ist davon auszugehen, dass die Entscheidung 89/534 den Grundsatz der steuerlichen Neutralität so wenig wie möglich beeinträchtigt.

56

Nach alledem hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit der Entscheidung 89/534 beeinträchtigen könnte.

Zur zweiten Frage

57

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der eine Ermächtigung zur Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie beantragt, verpflichtet ist, die Kommission darüber zu unterrichten, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuer auf die Anschaffung von Vorführartikeln entrichten, die sie bei einer Direktvertriebsgesellschaft erworben haben und die sie für ihre Geschäftstätigkeit verwenden, damit diese Vorsteuer in den Bestimmungen der abweichenden Maßnahme in irgendeiner Weise berücksichtigt wird.

Zur Zulässigkeit

58

Die Regierung des Vereinigten Königreichs hält die zweite Frage für unzulässig. Erstens stehe sie in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens. Zweitens verfüge der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Frage erforderlich seien. Drittens sei diese Frage vollkommen hypothetischer Natur, da sich der Antrag auf Abweichung auf Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie bezogen habe und nicht auf Art. 17 dieser Richtlinie zum Recht auf Vorsteuerabzug.

59

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 14. Juni 2017, Santogal M-Comércio e Reparação de Automóveis,C-26/16, EU:C:2017:453, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Hinsichtlich des ersten und des dritten von der Regierung des Vereinigten Königreichs vorgebrachten Unzulässigkeitsgrundes genügt der Hinweis – entsprechend Nr. 97 der Schlussanträge des Generalanwalts –, dass dann, wenn der Gerichtshof Art. 27 der Sechsten Richtlinie dahin auslegen würde, dass dieser den Mitgliedstaat, der die Ermächtigung zur Abweichung von der Richtlinie beantragt, verpflichtet, konkrete Angaben zur Begründung seines Antrags zu übermitteln – die vorliegend nicht vorlagen –, eine solche Antwort geeignet wäre, sich auf die Gültigkeit der Entscheidung 89/534 und damit auf den Ausgang des Ausgangsverfahrens auszuwirken.

61

Was den zweiten Unzulässigkeitsgrund der Regierung des Vereinigten Königreichs angeht, hat das vorlegende Gericht vorliegend den rechtlichen und sachlichen Rahmen des Ausgangsverfahrens hinreichend genau dargelegt, um den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten die Abgabe von Erklärungen und dem Gerichtshof die zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen zu ermöglichen.

62

Somit ist die zweite Frage zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

63

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Vereinigte Königreich gemäß Art. 27 der Sechsten Richtlinie eine Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, in dem die Regeln für die Festlegung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer niedergelegt sind, beantragt hat, um Steuerumgehungen zu verhindern, zu denen es dadurch kommt, dass Waren im Stadium des Endverbrauchs durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer vertrieben werden.

64

Gemäß Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie hat ein Mitgliedstaat, der von ihr abweichende Maßnahmen einführen möchte, der Kommission alle erforderlichen Angaben zu übermitteln.

65

In dieser Hinsicht ist zu betonen, dass die Prüfung des Gerichtshofs in seinem Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383), das u. a. die Gültigkeit der Entscheidung 85/369 betraf, die mittlerweile durch die im Wesentlichen identische Entscheidung 89/534 ersetzt wurde, nichts ergeben hat, was die Gültigkeit dieser ersten Entscheidung beeinträchtigen könnte, nachdem er u. a. in Rn. 36 jenes Urteils festgestellt hatte, dass in der Mitteilung an die Kommission ausreichend auf die Bedürfnisse hingewiesen wurde, denen mit der beantragten Maßnahme entsprochen wurde, und dass sie auch alle für die Feststellung des verfolgten Ziels wesentlichen Angaben enthielt.

66

In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Tatsache, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer auf die Anschaffung von Vorführartikeln, die sie bei einer Direktvertriebsgesellschaft – wie Avon im Ausgangsverfahren – erworben haben, Mehrwertsteuer zahlen müssen, ohne diese abziehen zu können, keine Angabe darstellt, die sich als solche auf das mit der beantragten Abweichung verfolgte Ziel oder auf den grundlegenden Mechanismus der Abweichung bezieht, d. h. auf die Festlegung des Wertes der Besteuerungsgrundlage.

67

Außerdem ist dieser Umstand dem Mehrwertsteuersystem eigen, denn nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer können, wie bereits in den Rn. 42 und 48 des vorliegenden Urteils erwähnt, kein Recht auf Abzug der ihnen in Rechnung gestellten Steuer geltend machen. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kommission ein solcher Umstand mit dem Abweichungsantrag des Vereinigten Königreichs zur Kenntnis hätte gebracht werden müssen.

68

Schließlich kann von einem Mitgliedstaat, der gemäß Art. 27 der Sechsten Richtlinie eine Abweichung von dieser Richtlinie beantragt, nicht verlangt werden, dass er alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte darlegt, die einen gewissen Bezug zu der Situation aufweisen, der er abhelfen möchte, die aber nicht aus ihr folgen.

69

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 27 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der eine Ermächtigung zur Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie beantragt, nicht verpflichtet ist, die Kommission darüber zu unterrichten, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuer auf die Anschaffung von Vorführartikeln entrichten, die sie bei einer Direktvertriebsgesellschaft erworben haben und die sie für ihre Geschäftstätigkeit verwenden, damit diese Vorsteuer in den Bestimmungen der abweichenden Maßnahme in irgendeiner Weise berücksichtigt wird.

Zur dritten Frage

70

Angesichts der Antworten auf die erste und auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

Zur vierten Frage

71

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Höhe der aufgrund von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen nach Art. 27 der Sechsten Richtlinie nicht erhobenen Steuer dem Nettosteuerverlust für den Mitgliedstaat oder dem Bruttosteuerverlust für den Mitgliedstaat entspricht.

72

In dieser Hinsicht macht das vorlegende Gericht keinen Grund für die Ungültigkeit der Entscheidung 89/534 geltend, der sich auf die Art und Weise der Festlegung der Höhe der aufgrund von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen im Sinne von Art. 27 der Sechsten Richtlinie nicht erhobenen Steuer bezieht. Auch gibt es nicht an, warum die Auslegung dieses Artikels, soweit er „Steuerhinterziehungen oder -umgehungen“ betrifft, für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist.

73

In Ermangelung dieser Angaben vermag der Gerichtshof keine sachdienliche Antwort auf die vierte Frage zu geben, die folglich unzulässig ist.

Kosten

74

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Art. 17 und 27 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der Fassung der Richtlinie 2004/7/EG des Rates vom 20. Januar 2004 sind dahin auszulegen, dass sie einer von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abweichenden Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die mit der Entscheidung 89/534/EWG des Rates vom 24. Mai 1989 zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zur Anwendung einer Sondermaßnahme bezüglich bestimmter Lieferungen an nichtsteuerpflichtige Wiederverkäufer in Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie gemäß Art. 27 dieser Richtlinie genehmigt wurde und nach der die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer im Fall einer Direktvertriebsgesellschaft der Normalwert der verkauften Gegenstände im Stadium des Endverbrauchs ist, wenn diese Gegenstände durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer vertrieben werden – nicht entgegenstehen, auch wenn diese abweichende Maßnahme die Vorsteuer auf die von diesen Wiederverkäufern bei dieser Gesellschaft erworbenen Vorführartikel nicht auf irgendeine Weise berücksichtigt.

 

2.

Die Prüfung der ersten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Entscheidung 89/534 beeinträchtigen könnte.

 

3.

Art. 27 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der Fassung der Richtlinie 2004/7 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der eine Ermächtigung zur Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie beantragt, nicht verpflichtet ist, die Europäische Kommission darüber zu unterrichten, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuer auf die Anschaffung von Vorführartikeln entrichten, die sie bei einer Direktvertriebsgesellschaft erworben haben und die sie für ihre Geschäftstätigkeit verwenden, damit diese Vorsteuer in den Bestimmungen der abweichenden Maßnahme in irgendeiner Weise berücksichtigt wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.