Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
28. Februar 2018(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 131 – Art. 146 Abs. 1 Buchst. b – Art. 147 – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Art. 273 – Regelung eines Mitgliedstaats, die die Anwendung der Befreiung daran knüpft, dass ein Mindestumsatz erzielt oder ein Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen wurde“
In der Rechtssache C-307/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 27. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Mai 2016, in dem Verfahren
Stanisław Pieńkowski
gegen
Dyrektor Izby Skarbowej w Lublinie
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2017
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 131, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b sowie der Art. 147 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Stanisław Pieńkowski und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Lublinie (Direktor der Finanzkammer in Lublin, Polen) wegen der Befreiung der Lieferung von Gegenständen, die von Reisenden im persönlichen Gepäck aus der Europäischen Union ausgeführt werden, von der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“
4 Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 [des Titels IX der Mehrwertsteuerrichtlinie] werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“
5 In Titel IX Kapitel 6 („Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr“) sieht Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
b) die Lieferungen von Gegenständen, die durch den nicht in ihrem jeweiligen Gebiet ansässigen Erwerber oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, mit Ausnahme der vom Erwerber selbst beförderten Gegenstände zur Ausrüstung oder Versorgung von Sportbooten und Sportflugzeugen sowie von sonstigen Beförderungsmitteln, die privaten Zwecken dienen“.
6 Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Betrifft die in Artikel 146 Absatz 1 Buchstabe b genannte Lieferung Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden, gilt die Steuerbefreiung nur, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
a) der Reisende ist nicht in der Gemeinschaft ansässig;
b) die Gegenstände werden vor Ablauf des dritten auf die Lieferung folgenden Kalendermonats nach Orten außerhalb der Gemeinschaft befördert;
c) der Gesamtwert der Lieferung einschließlich Mehrwertsteuer übersteigt 175 [Euro] oder den Gegenwert in Landeswährung; der Gegenwert in Landeswährung wird alljährlich anhand des am ersten Arbeitstag im Oktober geltenden Umrechnungskurses mit Wirkung zum 1. Januar des folgenden Jahres festgelegt.
Die Mitgliedstaaten können jedoch eine Lieferung, deren Gesamtwert unter dem in Unterabsatz 1 Buchstabe c vorgesehenen Betrag liegt, von der Steuer befreien.
(2) Für die Zwecke des Absatzes 1 gilt ein Reisender als ‚nicht in der Gemeinschaft ansässig‘, wenn sein Wohnsitz oder sein gewöhnlicher Aufenthaltsort nicht in der Gemeinschaft liegt. Dabei gilt als ‚Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthaltsort‘ der Ort, der im Reisepass, im Personalausweis oder in einem sonstigen Dokument eingetragen ist, das in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Lieferung bewirkt wird, als Identitätsnachweis anerkannt ist.
Der Nachweis der Ausfuhr wird durch Rechnungen oder entsprechende Belege erbracht, die mit dem Sichtvermerk der Ausgangszollstelle der Gemeinschaft versehen sein müssen.
Jeder Mitgliedstaat übermittelt der Kommission ein Muster des Stempelabdrucks, den er für die Erteilung des Sichtvermerks im Sinne des Unterabsatzes 2 verwendet. Die Kommission leitet diese Information an die Steuerbehörden der übrigen Mitgliedstaaten weiter.“
7 Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“
Polnisches Recht
8 Art. 126 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2011, Nr. 177, Pos. 1054) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Natürliche Personen ohne festen Wohnsitz im Gebiet der Europäischen Union, im Folgenden ‚Reisende‘, haben vorbehaltlich des Abs. 3 sowie der Art. 127 und 128 Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer auf im Inland erworbene Gegenstände, die von ihnen in unverändertem Zustand in ihrem persönlichen Reisegepäck aus dem Gebiet der Europäischen Union ausgeführt wurden.“
9 In Art. 127 des Mehrwertsteuergesetzes heißt es:
„(1) Der Anspruch auf die Steuererstattung gemäß Art. 126 Abs. 1 besteht im Fall des Erwerbs von Gegenständen von Steuerpflichtigen, im Folgenden ‚Verkäufer‘, die
1. als Mehrwertsteuerpflichtige gemeldet sind und
2. Aufzeichnungen über den Umsatz und die Beträge der geschuldeten Steuer unter Verwendung von Registrierkassen führen und
3. Verträge über die Steuererstattung mit mindestens einem der in Abs. 8 genannten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen haben.
…
(5) Die Steuererstattung an Reisende erfolgt in [polnischen] Zloty [PLN] durch den Verkäufer oder bei den Mehrwertsteuererstattungsstellen durch Wirtschaftsteilnehmer, deren Tätigkeitsgegenstand die in Art. 126 Abs. 1 genannte Erstattung ist.
(6) Die in Abs. 5 genannten Verkäufer können die Erstattung gemäß Art. 126 Abs. 1 vornehmen, wenn ihre Umsätze im vorangegangenen Steuerjahr mehr als 400 000 PLN betragen haben und die Steuererstattung ausschließlich für Gegenstände erfolgt, die der Reisende bei dem jeweiligen Verkäufer erworben hat.
…
(8) Die in Abs. 5 genannten Wirtschaftsteilnehmer, die keine Verkäufer sind, können die Erstattung gemäß Art. 126 Abs. 1 vornehmen, wenn sie
1. bei Beantragung der in Nr. 6 genannten Bescheinigung seit mindestens zwölf Monaten als Steuerpflichtige gemeldet sind;
2. den Leiter des Finanzamts schriftlich über die Absicht informiert haben, eine Tätigkeit im Bereich der Steuererstattung an Reisende aufzunehmen;
3. bei Beantragung der in Nr. 6 genannten Bescheinigung seit mindestens zwölf Monaten nicht mit Steuern, die dem Staatshaushalt zufließen, oder mit Sozialversicherungsbeiträgen rückständig sind;
4. mit den in Abs. 1 genannten Verkäufern Verträge über die Steuererstattung geschlossen haben;
5. beim Finanzamt eine Sicherheit in Höhe von 5 Mio. PLN geleistet haben in Form von
a) einer Geldhinterlegung,
b) Bankbürgschaften,
c) Staatsanleihen mit einer Laufzeit von mindestens drei Jahren;
6. eine Bescheinigung des für die öffentlichen Finanzen zuständigen Ministers erhalten haben, mit der bestätigt wird, dass die in den Nrn. 1 bis 5 genannten Voraussetzungen alle erfüllt sind.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
10 Herr Pieńkowski ist ein mehrwertsteuerpflichtiger Unternehmer, der eine wirtschaftliche Tätigkeit im Bereich des Handels u. a. mit Telekommunikationsgeräten ausübt und zur Aufzeichnung seines Umsatzes und des geschuldeten Steuerbetrags eine Registrierkasse verwendet. Im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit verkauft Herr Pieńkowski Waren u. a. an Reisende, die außerhalb des Unionsgebiets wohnen.
11 Der Urzędu Skarbowego w Białej Podlaskiej (Finanzamt Biała Podlaska, Polen) teilte Herrn Pieńkowski mit, dass er als „Verkäufer“ im Sinne von Art. 127 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes einzustufen sei. Diese Behörde war auch der Ansicht, dass sich aus seinen Mehrwertsteuererklärungen ergebe, dass der durch diesen Steuerpflichtigen mit Verkäufen erzielte Nettoumsatz im Steuerjahr 2009 283 695 PLN (etwa 68 288 Euro) und im Steuerjahr 2010 238 429 PLN (etwa 57 392 Euro) betragen habe. Zudem habe ihr Herr Pieńkowski keine Informationen über den Abschluss eines Vertrags mit einem zur Mehrwertsteuererstattung berechtigten Wirtschaftsteilnehmer mitgeteilt, sondern die Erstattung der Mehrwertsteuer an Reisende persönlich oder durch eine Angestellte vorgenommen.
12 Daher war das Finanzamt Biała Podlaska der Ansicht, dass Herr Pieńkowski in den Veranlagungszeiträumen der Jahre 2010 und 2011 aufgrund der Höhe der erzielten Umsätze nicht berechtigt gewesen sei, Reisenden persönlich oder über einen Angestellten die Mehrwertsteuer zu erstatten oder bei ihnen einen Mehrwertsteuersatz von 0 % anzuwenden.
13 Herr Pieńkowski focht diese Entscheidung beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Lublinie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Lublin, Polen) an.
14 Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Lublinie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Lublin) entschied unter Zugrundelegung der in den Art. 126 bis 129 des Mehrwertsteuergesetzes sowie in Art. 131, in Art. 146 Abs. 1 sowie in den Art. 147 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Vorschriften zur Regelung des Verfahrens der Steuererstattung an Reisende, dass Herr Pieńkowski in Anbetracht dieser Vorschriften nicht mit Erfolg geltend machen könne, dass die Vorschriften des Mehrwertsteuergesetzes insofern nicht mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar seien, als sie die Möglichkeit der Mehrwertsteuererstattung an Reisende durch den Verkäufer davon abhängig machten, dass der Verkäufer im vorangegangenen Steuerjahr einen Umsatz von mehr als 400 000 PLN (etwa 96 284 Euro) erzielt habe.
15 Der so festgesetzte Mindestumsatz habe nämlich nicht lediglich informatorischen und formalen Charakter, sondern stelle eine materielle Bedingung dar, von der die grundsätzliche Möglichkeit einer unmittelbaren Steuererstattung durch den Verkäufer abhänge. Entgegen dem Vorbringen von Herrn Pieńkowski könne dieser Schwellenwert von 400 000 PLN (etwa 96 284 Euro) daher nicht als eine „administrative Barriere“ für die Anwendung eines Mehrwertsteuersatzes von 0 % eingestuft werden.
16 Herr Pieńkowski legte beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) Kassationsbeschwerde ein, mit der er u. a. geltend macht, die Vorschriften des Mehrwertsteuergesetzes seien mit denen der Mehrwertsteuerrichtlinie und den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität nicht vereinbar.
17 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie im Gegensatz zu Art. 127 Abs. 6 des Mehrwertsteuergesetzes keine Bedingung vorsähen, nach der die Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung für im persönlichen Gepäck von Reisenden beförderte Gegenstände davon abhängig gemacht werde, dass der Steuerpflichtige im vorangegangenen Steuerjahr einen Umsatz in bestimmter Höhe erzielt habe.
18 Insbesondere scheine Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht als Grundlage für die Einführung der in Art. 127 Abs. 6 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehenen Bedingung dienen zu können.
19 Ferner beträfen die in den Art. 146 und 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen für die Anwendung der Befreiung entgegen der in Art. 127 Abs. 6 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehenen Situation den Käufer und nicht den Verkäufer.
20 Zudem könne die Bedingung, im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt zu haben, entgegen dem vom Wojewódzki Sąd Administracyjny w Lublinie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Lublin) vertretenen Standpunkt in Anbetracht der Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht als eine materielle Voraussetzung für die Befreiung angesehen werden, da der Wortlaut der Art. 146 und 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine rechtliche Grundlage für die Einführung einer solchen Bedingung biete.
21 Ferner könnten die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachteten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Es stelle sich aber die Frage, ob die Einführung einer Anforderung, einen Mindestumsatz von 400 000 PLN (etwa 96 284 Euro) zu erzielen, durch einen Mitgliedstaat den Zielen dieses Artikels entspreche.
22 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 146 Abs. 1 Buchst. b, Art. 147 sowie die Art. 131 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass sie nationalen Regelungen entgegenstehen, die die Anwendung der Befreiung in Bezug auf einen Steuerpflichtigen ausschließen, der im vorangegangenen Steuerjahr die entsprechende Umsatzgrenze, die dafür Voraussetzung ist, nicht erreicht und auch keinen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen hat?
Zur Vorlagefrage
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 131, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b sowie die Art. 147 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der im Rahmen einer Ausfuhrlieferung von Gegenständen zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden der steuerpflichtige Verkäufer im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt oder einen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen haben muss, entgegenstehen, sofern ihm allein durch die Nichterfüllung dieser Bedingungen die Steuerbefreiung der Lieferung endgültig verwehrt ist.
24 Nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Erwerber oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden, von der Steuer. Die Vorschrift ist in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie zu sehen, wonach als „Lieferung von Gegenständen“ die Übertragung der Befähigung gilt, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
25 Aus diesen Vorschriften und insbesondere dem in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b verwendeten Begriff „versandt“ ergibt sich, dass die Ausfuhr eines Gegenstands durchgeführt worden und die Steuerbefreiung der Ausfuhrlieferung anwendbar ist, wenn das Recht, wie ein Eigentümer über diesen Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, der Lieferant nachweist, dass der Gegenstand an einen Ort außerhalb der Union versandt oder befördert worden ist und der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung das Hoheitsgebiet der Union physisch verlassen hat (Urteil vom 19. Dezember 2013, BDV Hungary Trading, C-563/12, EU:C:2013:854, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Im Ausgangsverfahren ist unbestritten, dass Lieferungen von Gegenständen im Sinne von Art. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie stattgefunden haben und die Gegenstände, auf die sich die im Ausgangsverfahren streitigen Umsätze bezogen haben, das Hoheitsgebiet der Union durch Beförderung im persönlichen Gepäck von Reisenden physisch verlassen haben.
27 Wenn die in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie genannte Lieferung jedoch Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden betrifft, dann gilt die Steuerbefreiung nur, wenn bestimmte zusätzliche, in Art. 147 der Richtlinie vorgesehene Voraussetzungen erfüllt sind.
28 Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass im Ausgangsverfahren die in den Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen tatsächlich erfüllt sind.
29 Es ist jedoch festzustellen, dass weder der Wortlaut von Art. 146 Abs. 1 Buchst. b noch der von Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Voraussetzung vorsieht, nach der der Steuerpflichtige im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt haben muss oder – wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist – einen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen haben muss, damit die Steuerbefreiung bei der Ausfuhr gemäß Art. 146 Abs. 1 Buchst. b Anwendung finden kann.
30 Zudem betreffen die in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Voraussetzungen nur die Käufer der fraglichen Gegenstände und beziehen sich nicht auf deren Verkäufer.
31 Folglich kann die Anwendung von Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und von Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht von der Einhaltung der Voraussetzungen abhängen, die von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung festgelegt werden und bei deren Nichtbeachtung dem Steuerpflichtigen die Steuerbefreiung bei der Ausfuhr endgültig verwehrt würde.
32 Wie sich aus Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, werden die Steuerbefreiungen nach Titel IX Kapitel 2 bis 9 dieser Richtlinie, zu denen die Art. 146 und 147 der Richtlinie gehören, zwar unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen. Ferner bestimmt Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.
33 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Befugnisse nach den Art. 131 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten müssen, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zählen (Urteil vom 19. Dezember 2013, BDV Hungary Trading, C-563/12, EU:C:2013:854, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Insbesondere in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten gemäß diesem Grundsatz Mittel einsetzen müssen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen (Urteil vom 19. Dezember 2013, BDV Hungary Trading, C-563/12, EU:C:2013:854, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall besteht zum einen nach den Angaben der polnischen Regierung das Hauptziel der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung darin, die Gefahren der Steuerumgehung und Steuerhinterziehung zu verringern, die mit einer fehlerhaften Anwendung der in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befreiung einhergehen.
36 Zum anderen hat die Bedingung, dass der Steuerpflichtige im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt haben muss, nach den Angaben des vorlegenden Gerichts keinen absoluten Charakter, da der Steuerpflichtige im Fall des Nichterreichens dieses Mindestbetrags die Möglichkeit hat, die Befreiung dadurch in Anspruch zu nehmen, dass er einen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer abschließt.
37 Insoweit ist allerdings festzustellen, dass die Nichteinhaltung dieser Bedingung zur Versagung der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr führt, obwohl deren Anspruchsvoraussetzungen nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt sind.
38 Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass dann, wenn die Voraussetzungen der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie, u. a. die Verbringung der betroffenen Gegenstände aus dem Zollgebiet der Union, nachgewiesen sind, für eine solche Lieferung keine Mehrwertsteuer geschuldet wird. In einem solchen Fall besteht grundsätzlich keine Gefahr einer Steuerhinterziehung oder finanzieller Verluste, die die Besteuerung des betroffenen Umsatzes rechtfertigen kann (Urteil vom 19. Dezember 2013, BDV Hungary Trading, C-563/12, EU:C:2013:854, Rn. 40).
39 Daher ist festzustellen, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht erforderlich ist, um das Ziel zu erreichen, Steuerumgehung und Steuerhinterziehung zu verhindern.
40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 131, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b sowie die Art. 147 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der im Rahmen einer Ausfuhrlieferung von Gegenständen zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden der steuerpflichtige Verkäufer im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt oder einen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen haben muss, entgegenstehen, sofern ihm allein durch die Nichterfüllung dieser Bedingungen die Steuerbefreiung der Lieferung endgültig verwehrt ist.
Kosten
41 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 131, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b sowie die Art. 147 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der im Rahmen einer Ausfuhrlieferung von Gegenständen zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden der steuerpflichtige Verkäufer im vorangegangenen Steuerjahr einen Mindestumsatz erzielt oder einen Vertrag mit einem zur Mehrwertsteuererstattung an Reisende berechtigten Wirtschaftsteilnehmer geschlossen haben muss, entgegenstehen, sofern ihm allein durch die Nichterfüllung dieser Bedingungen die Steuerbefreiung der Lieferung endgültig verwehrt ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Polnisch.