URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)
20. Dezember 2017(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 135 Abs. 1 Buchst. a – Befreiungen – Unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern – Hindernisse für die Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit – Dem Einzelnen verliehene Rechte – Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld – Wirkungen eines Urteils des Gerichtshofs – Grundsatz der Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C-500/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof, Polen) mit Entscheidung vom 19. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 16. September 2016, in dem Verfahren
Caterpillar Financial Services sp. z o.o.,
Beteiligter:
Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, des Richters A. Rosas, der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: K. Malacek,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Caterpillar Financial Services sp. z o.o., vertreten durch M. Szafarowska, radca prawny, und M. Sobońska, adwokat,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, M. Owsiany-Hornung und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caterpillar Financial Services sp. z o.o. (im Folgenden: Caterpillar) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Warszawie (Direktor der Finanzkammer Warschau, Polen) (im Folgenden: Direktor der Finanzkammer Warschau) wegen seiner Ablehnung des Antrags von Caterpillar auf Erstattung einer sich aus einer nicht unionsrechtskonformen Steuerveranlagung ergebenden Mehrwertsteuerüberzahlung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der in Titel IX („Steuerbefreiungen“) Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) steht, sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
a) Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden“.
Polnisches Recht
4 Die Ustawa ordynacja podatkowa (Gesetz über die Abgabenordnung) vom 29. August 1997 (Dz. U. 1997, Nr. 137, Position 926, im Folgenden: Abgabenordnung) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sieht in Art. 70 vor:
„§ 1. Steuerschulden verjähren nach Ablauf von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem die Frist für die Zahlung der Steuer abgelaufen ist.
…
§ 6. Die Frist für die Verjährung der Steuerschuld beginnt nicht zu laufen und wird, wenn sie bereits zu laufen begonnen hat, ausgesetzt:
…
2) im Zeitpunkt der Erhebung einer Klage vor einem Verwaltungsgericht gegen eine Entscheidung über eine Steuerschuld;
…“
5 In Art. 72 § 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Als Überzahlung gilt ein Betrag:
1) einer überzahlten oder zu Unrecht gezahlten Steuer;
…“
6 Art. 74 Nr. 1 der Abgabenordnung lautet:
„Kommt es infolge einer Entscheidung des Trybunał Konstytucyjny [(Verfassungsgerichtshof, Polen)] oder des Gerichtshofs der Europäischen Union zu einer Überzahlung und hat ein Steuerpflichtiger, dessen Steuerschuld in einer in Art. 21 § 1 Nr. 1 vorgesehenen Weise entsteht, eine der in Art. 73 § 2 genannten Steuererklärungen oder eine andere Steuererklärung, aus der sich die Höhe der Steuerschuld ergibt, abgegeben, dann beziffert dieser Steuerpflichtige die Höhe der Überzahlung im Antrag auf deren Erstattung und gibt gleichzeitig eine berichtigte Steuererklärung ab.“
7 Art. 75 § 1 der Abgabenordnung bestimmt:
„Ist der Steuerpflichtige der Ansicht, dass die Steuer zu Unrecht von demjenigen, der die Zahlung vorgenommen hat, erhoben worden sei, oder hält er die Höhe der erhobenen Steuer für nicht gerechtfertigt, kann er einen Antrag auf Feststellung der Überzahlung stellen.“
8 In Art. 77 § 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Die Überzahlung ist innerhalb der folgenden Frist zu erstatten:
…
2) 30 Tage ab der Entscheidung, mit der die Überzahlung festgestellt oder die Höhe der Überzahlung festgesetzt wird;
…
4) 30 Tage ab Stellung des in Art. 74 genannten Antrags;
…“
9 Art. 79 § 2 der Abgabenordnung sah vor:
„Das Recht, einen Antrag auf Feststellung einer Überzahlung zu stellen, erlischt nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld, es sei denn, dass Steuergesetze eine andere Verfahrensweise der Steuererstattung vorsehen.“
10 Art. 80 § 1 der Abgabenordnung lautet:
„Das Recht auf Erstattung einer Steuerüberzahlung erlischt nach Ablauf von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem die Frist für deren Erstattung abgelaufen ist.“
11 Art. 81 § 1 der Abgabenordnung bestimmt:
„Sofern nicht anders vorgesehen, können Steuerpflichtige, Zahler und Empfänger eine zuvor eingereichte Erklärung berichtigen.“
12 In Art. 240 § 1 Nr. 1 der Abgabenordnung heißt es:
„Das Verfahren wird nach Erlass eines endgültigen Bescheids wieder aufgenommen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
…
11) ein Urteil des Gerichtshof der Europäischen Union hat einen Einfluss auf den Inhalt der ergangenen Entscheidung.“
13 Art. 79 § 2 der Abgabenordnung in seiner geänderten Fassung, die am 1. Januar 2016 in Kraft getreten ist, sieht vor:
„Das Recht, einen Antrag auf Feststellung einer Überzahlung und einen Antrag auf Erstattung einer Überzahlung zu stellen, erlischt nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld, es sei denn, dass Steuergesetze eine andere Verfahrensweise der Steuererstattung vorsehen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
14 Caterpillar, eine Gesellschaft polnischen Rechts, die als Leasinggeberin im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit Leasingverträge schließt, bietet Leasingnehmern die Möglichkeit an, ihnen eine Versicherung für das Leasingobjekt bereitzustellen.
15 Bringen Leasingnehmer ihren Wunsch, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, zum Ausdruck, schließt Caterpillar die Versicherungsverträge bei einer Versicherungsgesellschaft ab. Dabei übernimmt Caterpillar die Kosten für den Abschluss dieser Verträge, berechnet aber die Versicherungsbeiträge – ohne Aufschlag – an die Leasingnehmer weiter. Auf den den Leasingnehmern ausgestellten Rechnungen nahm Caterpillar diese Beiträge von der Mehrwertsteuer aus.
16 Im Anschluss an ein Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof, Polen) vom 8. November 2010, mit dem dieser entschieden hatte, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der Leistungen als Leasinggeber erbringe, die Kosten der Versicherung des Leasinggegenstands zur Steuerbemessungsgrundlage für die Leistungen als Leasinggeber hinzurechnen müsse, und eine Mitteilung des Dyrektor Urzędu Kontroli Skarbowej (Direktor des Amtes für Steuerprüfungen, Polen), mit der Caterpillar vom unmittelbaren Bevorstehen einer Steuerprüfung für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2006 in Kenntnis gesetzt worden war, reichte diese berichtigte Rechnungen ein, in denen die Steuerrückstände samt Zinsen ausgewiesen waren, und entrichtete am 30. Dezember 2010 die auf die entsprechenden Versicherungsbeiträge fällige Mehrwertsteuer.
17 Nach der Verkündung des Urteils vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), in einem auf Ersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) beim Gerichtshof eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren – dem ein Rechtsstreit wegen der Weigerung der polnischen Steuerverwaltung, einen in der Bereitstellung einer Versicherung für einen Leasinggegenstand bestehenden Umsatz von der Mehrwertsteuer zu befreien, zugrunde lag – wandte sich Caterpillar am 11. März 2013 mit einem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2011 an den Naczelnik Drugiego Mazowieckiego Urzędu Skarbowego w Warszawie (Leiter des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau, Polen).
18 Der Leiter des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau lehnte es mit Entscheidung vom 11. April 2013 unter Berufung auf den Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen Verjährungsfrist ab, ein Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung für verschiedene Monate im Zeitraum von Dezember 2005 bis November 2007 einzuleiten. Hingegen erstattete er die Mehrwertsteuerüberzahlung für den Zeitraum von Dezember 2007 bis Dezember 2011.
19 Der Direktor der Finanzkammer Warschau, der über eine Beschwerde gegen die Entscheidung des Leiters des Zweiten Finanzamtes der Woiwodschaft Masowien in Warschau zu entscheiden hatte, bestätigte dessen Entscheidung. In der Begründung seiner Entscheidung wies der Direktor der Finanzkammer Warschau darauf hin, dass die Frist für die Verjährung der Steuerschuld für die Mehrwertsteuer in Bezug auf die im Antrag von Caterpillar auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung genannten Zeiträume am 31. Dezember 2011 (in Bezug auf die im Antrag genannten Monate Dezember 2005 und Februar 2006) und am 31. Dezember 2012 (in Bezug auf die im Antrag genannten Monate Januar und November 2007) abgelaufen sei.
20 Mit ihrer Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Verwaltungsgericht der Woiwodschaft Warschau, Polen) machte Caterpillar im Wesentlichen geltend, dass Art. 74 der Abgabenordnung, Art. 9 der polnischen Verfassung und Art. 4 Abs. 3 EUV falsch ausgelegt worden seien.
21 Mit Urteil vom 10. September 2014 hob dieses Gericht den Bescheid des Direktors der Finanzkammer Warschau mit der Begründung auf, dass die Steuerbehörden nicht bereits die Einleitung eines Verfahrens hätten ablehnen dürfen, sondern vielmehr eine Entscheidung über die Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung hätten treffen müssen. In der Sache entschied das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Verwaltungsgericht der Woiwodschaft Warschau), dass Caterpillar nicht berechtigt gewesen sei, nach Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen fünfjährigen Verjährungsfrist auf der Grundlage von Art. 74 der Abgabenordnung einen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuerüberzahlung zu stellen. Diese Verjährungsfrist laufe auch nicht dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts zuwider.
22 Sowohl Caterpillar als auch der Direktor der Finanzkammer Warschau fochten dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), an.
23 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann im Licht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die in Art. 70 § 1 in Verbindung mit Art. 79 § 2 der Abgabenordnung geregelte fünfjährige Verjährungsfrist für die Erstattung der zu Unrecht gezahlten Steuer grundsätzlich nicht als mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar angesehen werden.
24 Allerdings enthalte das polnische Recht keine Rechtsgrundlage, die es einem Einzelnen, der in seiner Annahme, dass eine Steuer zu entrichten sei, auf die staatlichen Organe vertraut habe, ermöglichen würde, diese unter Verstoß gegen das Unionsrecht von den Steuerbehörden erhobene Steuer nach Ablauf der Frist für die Verjährung des Rechts auf Einreichung eines solchen Antrags auf Erstattung zurückzufordern.
25 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsätze der Effektivität, der loyalen Zusammenarbeit und der Äquivalenz oder irgendein anderer einschlägiger Grundsatz des Unionsrechts unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof im Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), vorgenommenen Auslegung im Bereich der Mehrwertsteuer nationalen Rechtsvorschriften oder einer nationalen Praxis entgegen, die die Erstattung einer Überzahlung, die infolge der Erhebung der geschuldeten Mehrwertsteuer unter Verstoß gegen das Unionsrecht entstanden ist, dann unmöglich machen, wenn aufgrund des Verhaltens der nationalen Behörden ein Einzelner von seinen Rechten erst nach Ablauf der Frist für die Verjährung der Steuerschuld Gebrauch machen konnte?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn der Gerichtshof nach Ablauf dieser Frist entschieden hat, dass keine Verpflichtung zur Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer bestand.
27 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass diese Frage im Hinblick auf Umstände wie die des Ausgangsverfahrens gestellt wird, in denen ein Steuerpflichtiger geltend macht, er habe diese Überzahlung nur angesichts der vor dem Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), ergangenen Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts und im Hinblick auf das unmittelbare Bevorstehen einer Prüfung durch die zuständige Steuerbehörde vorgenommen.
28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten insbesondere nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet die Anwendung und die Einhaltung des Unionsrechts zu gewährleisten, und dass sie nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe ergeben, ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C-628/15, EU:C:2017:687, Rn. 47).
29 In seinem Urteil vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), hat der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie für Recht erkannt, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, festzustellen, ob die Erbringung von Leistungen im Zusammenhang mit der Versicherung des Leasinggegenstands und die Erbringung von Leistungen im Zusammenhang mit dem Leasingvertrag selbst in Anbetracht der besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens derart miteinander verbunden sind, dass sie als einheitliche Leistung angesehen werden müssen, oder ob sie selbständige Leistungen darstellen. Der Gerichtshof hat in Auslegung von Art. 28 und Art. 135 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entschieden, dass dann, wenn diese Leistungen als selbständige Leistungen angesehen werden und wenn ein Leasinggeber den Leasinggegenstand selbst versichert und die genauen Kosten der Versicherung an den Leasingnehmer weiterberechnet, ein solcher Umsatz unter Umständen wie denen jener Rechtssache ein steuerbefreiter Umsatz ist.
30 Im vorliegenden Fall hat sich die polnische Steuerverwaltung, wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, im Anschluss an die Verkündung des genannten Urteils des Gerichtshofs, geweigert, ein Verfahren zur Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses für den Zeitraum von Dezember 2005 bis November 2007 einzuleiten, weil die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene fünfjährige Verjährungsfrist abgelaufen gewesen sei. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens meint zwar, diese Verjährungsfrist sei auf Anträge auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses nicht anwendbar; aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene Frist nach Auffassung des vorlegenden Gerichts in Verbindung mit deren Art. 79 § 2 zu verstehen und somit auf derartige Anträge auf Erstattung anzuwenden ist.
31 Was erstens die Auswirkungen eines Urteils aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens angeht, ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, angewandt werden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 14. April 2015, Manea, C-76/14, EU:C:2015:216, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Der Gerichtshof kann die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen, die er einer Bestimmung gegeben hat, nämlich nur ganz ausnahmsweise aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit beschränken (Urteil vom 14. April 2015, Manea, C-76/14, EU:C:2015:216, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Insoweit ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Wirkungen des Urteils vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), nicht zeitlich begrenzt hat.
34 Daraus folgt, dass die vom Gerichtshof in diesem Urteil ausgelegten Vorschriften vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an grundsätzlich entsprechend dieser Auslegung zu verstehen und anzuwenden sind.
35 Zweitens ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus den Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Der Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Steuern zu erstatten (Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C-398/09, EU:C:2011:540, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Der Gerichtshof hat gleichwohl wiederholt darauf hingewiesen, dass die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben in den Mitgliedstaaten und sogar innerhalb desselben Mitgliedstaats je nach der Art der Abgaben unterschiedlich geregelt ist. In einigen Fällen bestehen für die Anfechtung der Abgabenerhebung oder für Erstattungsforderungen gesetzliche Form- und Fristvorschriften sowohl für bei der Finanzverwaltung einzulegende Rechtsbehelfe als auch für Klagen. In anderen Fällen sind Klagen auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben bei den ordentlichen Gerichten – insbesondere als Klagen auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung – zu erheben, wobei die Fristen für die Erhebung dieser Klagen unterschiedlich lang sind und in manchen Fällen der allgemeinen Verjährungsfrist entsprechen (Urteil vom 17. Juni 2004, Recheio – Cash & Carry, C-30/02, EU:C:2004:373, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 So dürfen die Mitgliedstaaten in Ermangelung harmonisierter Vorschriften über die Rückerstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben weiterhin die Verfahrensvorschriften ihres innerstaatlichen Rechts, u. a. über die Ausschlussfristen, anwenden, sofern sie dabei die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einhalten (Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, EU:C:2011:555, Rn. 34).
38 Um festzustellen, ob der Äquivalenzgrundsatz im Ausgangsverfahren gewahrt ist, ist zu prüfen, ob neben einer Verjährungsbestimmung wie der des Ausgangsverfahrens, die für gerichtliche Rechtsbehelfe zur Gewährleistung des Schutzes der Rechte der Bürger aus dem Unionsrecht im innerstaatlichen Recht gilt, eine Verjährungsbestimmung existiert, die für nur innerstaatliches Recht betreffende Rechtsbehelfe gilt, und ob diese Verjährungsbestimmungen unter Berücksichtigung ihres Gegenstands und ihrer wesentlichen Elemente als gleichartig angesehen werden können (Urteil vom 15. April 2010, Barth, C-542/08, EU:C:2010:193, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Wie sich aus den schriftlichen Erklärungen der polnischen Regierung und den Erklärungen des Direktors der Finanzkammer Warschau im mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof ergibt – denen die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht widersprochen hat –, werden in Polen für Anträge auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung, die im Rahmen von Rechtsbehelfen, mit denen im innerstaatlichen Recht die Wahrung der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Ansprüche sichergestellt werden soll, und im Rahmen von Rechtsbehelfen innerstaatlicher Natur eingereicht werden, dieselben Vorschriften gleich ausgelegt. Soweit in der Abgabenordnung keine Sonderbestimmungen für die eine oder die andere Art von Rechtsbehelfen enthalten sind, ist also offenbar die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene Verjährungsbestimmung auf beide Arten von Rechtsbehelfen anzuwenden.
40 Da diese Verjährungsbestimmung in gleicher Weise sowohl auf Rechtsbehelfe innerstaatlicher Natur als auch auf Rechtsbehelfe, mit denen die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Ansprüche sichergestellt werden soll, anzuwenden ist, kann in ihr kein Verstoß gegen den Grundsatz der Äquivalenz erblickt werden.
41 Hinsichtlich des Grundsatzes der Effektivität ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten in jedem konkreten Fall für den wirksamen Schutz der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte verantwortlich sind. Insbesondere erfordert dieser Grundsatz, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, EU:C:2011:555, Rn. 32, und vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C-628/15, EU:C:2017:687, Rn. 59).
42 Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, auch wenn ihr Ablauf naturgemäß die vollständige oder teilweise Abweisung der erhobenen Klage zur Folge hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, EU:C:2011:555, Rn. 36). So wurden etwa Verjährungsfristen von drei Jahren (Urteil vom 15. April 2010, Barth, C-542/08, EU:C:2010:193, Rn. 28) oder von zwei Jahren (Urteil vom 15. Dezember 2011, Banca Antoniana Popolare Veneta, C-427/10, EU:C:2011:844, Rn. 25) als mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar angesehen.
43 Somit ist die in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehene fünfjährige Verjährungsfrist grundsätzlich erst recht als mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar anzusehen, da sie es jedem durchschnittlich aufmerksamen Steuerpflichtigen ermöglicht, die Rechte, die er aus der Unionsrechtsordnung ableitet, ordnungsgemäß geltend zu machen.
44 Was den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV angeht, ist festzustellen, dass eine in einer nationalen Abgabenordnung vorgesehene Verjährungsbestimmung, die den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität gerecht wird, nicht als Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit angesehen werden kann. Unter diesen Umständen kann nämlich nicht behauptet werden, dass der jeweilige Mitgliedstaat durch die Anwendung dieser Verjährungsbestimmung die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet.
45 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass es das Unionsrecht dem Gerichtshof zufolge einer nationalen Behörde nur dann verwehrt, sich auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist zu berufen, wenn das Verhalten der nationalen Behörden in Verbindung mit einer Ausschlussfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen hat, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, EU:C:2011:555, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Zu prüfen ist somit, ob in Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens davon ausgegangen werden kann, dass ein Steuerpflichtiger daran gehindert war, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.
47 Insoweit beruft sich Caterpillar für ihre Rüge, ihr sei die Möglichkeit genommen worden, von ihren Rechten Gebrauch zu machen, zum einen auf ein Urteil des Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) in einer Rechtssache, in der sie keine Parteistellung hatte, und zum anderen auf eine an Caterpillar gerichtete Mitteilung des Direktors des Amtes für Steuerprüfungen, in der dieser seine Absicht kundtat, für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2006 eine Steuerprüfung durchzuführen.
48 Im mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof hat Caterpillar geltend gemacht, die Tatsache, dass sie von einem ihr nachteiligen Urteil des höchsten polnischen Verwaltungsgerichts Kenntnis erlangt habe, in Verbindung mit der Ankündigung des unmittelbaren Bevorstehens einer Steuerprüfung habe sie dazu veranlasst, bei der Steuerverwaltung die den Steuerrückständen entsprechenden Beträge zu entrichten. Sie sei davon überzeugt gewesen, dass es vor diesem Hintergrund „sinnlos“ gewesen wäre, die Vereinbarkeit der Erhebung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang mit den Kosten der Versicherung für Leasingverträge mit dem Unionsrecht in Frage zu stellen.
49 Die subjektive Überzeugung, nicht anders handeln zu können als durch die Entrichtung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang mit den Kosten der Versicherung für Leasingverträge, kann jedoch nicht einer objektiven Unmöglichkeit, anders zu handeln, gleichgesetzt werden.
50 Im vorliegenden Fall stand Caterpillar nämlich die Möglichkeit offen, die Entrichtung des Steuerrückstands zu verweigern, weil sie ja ursprünglich angenommen hatte, dass diese Versicherungskosten steuerbefreit seien, und sich jeglicher Zahlungsanordnung gerichtlich zu widersetzen, oder aber den Steuerrückstand zu begleichen und ein nationales Gericht anzurufen, um unter Einhaltung der betreffenden Verjährungsfrist die Erstattung der zu Unrecht geleisteten Beträge zu erlangen, ohne eine mögliche Auslegung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie durch den Gerichtshof abzuwarten. Festzuhalten ist, dass Caterpillar von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat.
51 Die Tatsache, dass das Urteil des Gerichtshofs vom 17. Januar 2013, BGŻ Leasing (C-224/11, EU:C:2013:15), erst nach Ablauf der in Art. 70 § 1 der Abgabenordnung vorgesehenen Verjährungsfrist verkündet wurde, lässt somit nicht den Schluss zu, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe ihre Rechte nicht vor Ablauf dieser Frist geltend machen können.
52 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn sich aus einem nach Ablauf dieser Frist verkündeten Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer nicht geschuldet war.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind im Licht von Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der es möglich ist, einen Antrag auf Erstattung einer Mehrwertsteuerüberzahlung zurückzuweisen, wenn dieser Antrag vom Steuerpflichtigen nach Ablauf einer fünfjährigen Verjährungsfrist eingereicht wurde, auch wenn sich aus einem nach Ablauf dieser Frist verkündeten Urteil des Gerichtshofs ergibt, dass die Entrichtung der den Gegenstand dieses Antrags auf Erstattung bildenden Mehrwertsteuer nicht geschuldet war.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Polnisch.