URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
25. Juli 2018 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 und 21 AEUV – Recht, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Soziale Fürsorge – Leistungen bei Krankheit – Behinderten-Dienstleistungen – Pflicht einer Gemeinde eines Mitgliedstaats, einem ihrer Bewohner eine von den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene persönliche Assistenz während eines Hochschulstudiums bereitzustellen, das dieser in einem anderen Mitgliedstaat absolviert“
In der Rechtssache C-679/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Dezember 2016, in dem Verfahren auf Betreiben von
A,
Beteiligte:
Espoon kaupungin sosiaali- ja terveyslautakunnan yksilöasioiden jaosto,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte, |
– |
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte, |
– |
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, L. Zettergren und L. Swedenborg als Bevollmächtigte, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und I. Koskinen als Bevollmächtigte |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 31. Januar 2018
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004). |
2 |
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von A eingeleiteten Verfahrens über die Bereitstellung einer persönlichen Assistenz durch die Espoon kaupungin sosiaali- ja terveyslautakunnan yksilöasioiden jaosto (Abteilung für Einzelfälle des Sozial- und Gesundheitsausschusses der Stadt Espoo, Finnland, im Folgenden: Gemeinde Espoo) in Tallinn in Estland, wo A ein dreijähriges Jurastudium in Vollzeit absolviert. |
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
3 |
Das am 13. Dezember 2006 in New York geschlossene Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations Treaty Series, Band 2515, S. 3, im Folgenden: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) trat am 3. Mai 2008 in Kraft. Dieses Übereinkommen wurde im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) genehmigt. |
4 |
Art. 19 („Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“) des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bestimmt: „Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens … treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, indem sie unter anderem gewährleisten, dass …
…“ |
5 |
Der Gerichtshof hat bestätigt, dass die Bestimmungen dieses Übereinkommens integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und die Bestimmungen des Unionsrechts nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen sind (Urteil vom 11. April 2013, HK Danmark, C-335/11 und C-337/11, EU:C:2013:222, Rn. 30 und 32). |
6 |
Die Republik Finnland ratifizierte das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und das Fakultativprotokoll dazu am 11. Mai 2016. Das Übereinkommen und sein Fakultativprotokoll traten in diesem Mitgliedstaat am 10. Juni 2016 in Kraft. |
Unionsrecht
7 |
Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es: „Es ist erforderlich, Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um eine Kumulierung anzuwendender nationaler Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden.“ |
8 |
Gemäß den Definitionen in Art. 1 Buchst. j bis l dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…“ |
9 |
Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt: „(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
… (2) Sofern in Anhang XI nichts anderes bestimmt ist, gilt diese Verordnung für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme betreffend die Verpflichtungen von Arbeitgebern und Reedern. (3) Diese Verordnung gilt auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70. … (5) Die Verordnung gilt nicht für
…“ |
10 |
Art. 9 („Erklärungen der Mitgliedstaaten zum Geltungsbereich dieser Verordnung“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht u. a. vor, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission jährlich die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen im Sinne des Art. 3 der Verordnung schriftlich notifizieren. |
11 |
In Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt Art. 11 Abs. 1 und 3 dieser Verordnung: „(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel. … (3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
…
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Finnisches Recht
Sozialfürsorgegesetz
12 |
§ 13 Nr. 1 des Sosiaalihuoltolaki (Sozialfürsorgegesetz) (17.9.1982/710) bestimmt: „Im Rahmen ihrer Aufgaben im Zusammenhang mit der sozialen Fürsorge ist die Gemeinde verpflichtet, sich unter Beachtung der Vorgaben hinsichtlich Inhalt und Umfang in den Rechtsvorschriften zu kümmern um:
…“ |
13 |
§ 14 Abs. 1 des Sozialfürsorgegesetzes sieht vor: ,,Einwohner der Gemeinde im Sinne dieses Gesetzes ist, wer im Sinne des Väestökirjalaki (Personenstandsregistergesetz) (141/69) seinen Wohnsitz in der Gemeinde hat. …“ |
Gesetz über Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen für behinderte Menschen
14 |
§ 1 des Laki vammaisuuden perusteella järjestettävistä palveluista ja tukitoimista (Gesetz über Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen für behinderte Menschen) (3.4.1987/380) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Behinderten-Dienstleistungsgesetz) bestimmt: „Zweck dieses Gesetzes ist es, Möglichkeiten zu fördern, damit Menschen mit Behinderungen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft mit anderen leben und aktiv sein können, sowie Unannehmlichkeiten und Hindernisse aufgrund einer Behinderung zu vermeiden und zu beseitigen.“ |
15 |
In § 3 („Zuständigkeit für die Bereitstellung der Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen“) dieses Gesetzes heißt es: „Die Gemeinde hat dafür zu sorgen, dass die Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen für Behinderte so organisiert werden, dass sie nach Inhalt und Umfang den Bedarf in der Gemeinde decken. Bei der Organisation der Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen nach diesem Gesetz ist der individuelle Assistenzbedarf des Kunden zu berücksichtigen.“ |
16 |
§ 8 („Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung“) sieht in Abs. 2 vor: „Es ist Aufgabe der Gemeinde, schwerbehinderten Personen angemessene Transportdienste mit Begleitung, Tagesaktivitäten, persönliche Assistenz und eine Wohnung mit Assistenz zur Verfügung zu stellen, wenn die Person wegen ihrer Behinderung oder Krankheit für die Bewältigung gewöhnlicher Lebensaktivitäten Dienstleistungen unbedingt benötigt. Die Gemeinde ist jedoch nicht eigens verpflichtet, eine Wohnung mit Assistenz oder eine persönliche Assistenz bereitzustellen, wenn die für die behinderte Person notwendige Fürsorge nicht im Rahmen von Betreuung im lokalen Umfeld gewährleistet werden kann.“ |
17 |
§ 8c („Persönliche Assistenz“) dieses Gesetzes bestimmt: „‚Persönliche Assistenz‘ im Sinne dieses Gesetzes ist die unbedingt erforderliche Hilfestellung für schwerbehinderte Personen im Haus und außerhalb des Hauses:
Zweck der persönlichen Assistenz ist es, schwerbehinderten Personen dabei zu helfen, ihre eigenen Entscheidungen bei der Ausübung der in Abs. 1 genannten Tätigkeiten zu treffen. Die Organisation der persönlichen Assistenz setzt voraus, dass die schwerbehinderte Person über Ressourcen verfügt, um den Inhalt und die Umsetzungsmodalitäten der Assistenz festzulegen. Für die Organisation persönlicher Assistenz gelten Personen als schwerbehindert, die wegen langfristiger oder fortschreitender Behinderung oder Krankheit unbedingt und wiederholt die Hilfe einer anderen Person für die Bewältigung der in Abs. 1 genannten Tätigkeiten benötigen, ohne dass diese Hilfsbedürftigkeit hauptsächlich mit altersbedingten Krankheiten und Beeinträchtigungen zusammenhängt. Persönliche Assistenz wird für Verrichtungen des täglichen Lebens sowie Arbeit und Studium in dem Umfang erbracht, in dem eine schwerbehinderte Person diese unbedingt benötigt. Für die in Abs. 1 Nrn. 3 bis 5 genannten Tätigkeiten muss die persönliche Assistenz für mindestens 30 Stunden pro Monat geleistet werden, wenn mit einer geringeren Stundenzahl die für die schwerbehinderte Person unabdingbare persönliche Assistenz nicht sichergestellt werden kann.“ |
18 |
§ 8d („Modalitäten der Bereitstellung der persönlichen Assistenz“) dieses Gesetzes lautet: „Bei der Entscheidung über die Modalitäten der Bereitstellung der persönlichen Assistenz und der Organisation der persönlichen Assistenz berücksichtigt die Gemeinde die Ansichten und Wünsche der schwerbehinderten Person sowie den in einem Dienstleistungsplan definierten individuellen Assistenzbedarf und die Lebensumstände in ihrer Gesamtheit. Die Gemeinde kann persönliche Assistenz organisieren, indem:
Im Fall des Abs. 2 Nr. 1 ist der schwerbehinderten Person bei der Einstellung einer Assistenzperson gegebenenfalls Rat und Hilfe zu leisten. Die oben in Abs. 2 Nr. 1 genannte persönliche Assistenzperson darf kein Verwandter oder eine andere der schwerbehinderten Person nahestehende Person sein, es sei denn, es besteht ein besonderer Grund für die Annahme, dass dies im Interesse der behinderten Person ist.“ |
Gesetz über die Gebühren der Sozial- und Gesundheitsfürsorge
19 |
§ 4 („Unentgeltliche Sozialleistungen“) des Laki sosiaali- ja terveydenhuollon asiakasmaksuista (Gesetz über die Gebühren der Sozial- und Gesundheitsfürsorge) (3.8.1992/734) sieht in Nr. 5 vor: „Unentgeltliche Sozialleistungen sind: …
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Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 |
Der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde 1992 geboren und wohnt in der Gemeinde Espoo in Finnland. Gemäß den Feststellungen des vorlegenden Gerichts hat er einen erheblichen Hilfebedarf, insbesondere bei alltäglichen Verrichtungen. Ihm wurde daher von der Gemeinde Espoo für den Besuch der gymnasialen Oberstufe in Finnland eine Assistenzperson zur Verfügung gestellt. |
21 |
Im August 2013 beantragte A bei der Gemeinde Espoo nach dem Behinderten-Dienstleistungsgesetz eine persönliche Assistenz für etwa fünf Stunden in der Woche für die Übernahme täglicher Verrichtungen, u. a. für das Erledigen von Einkäufen, Putzen und Wäschewaschen. Zum Zeitpunkt des Antrags war A dabei, nach Tallinn in Estland umzuziehen, um dort ein dreijähriges Jurastudium in Vollzeit aufzunehmen. Infolge des Umzugs würde er drei oder vier Tage pro Woche in der estnischen Hauptstadt verbringen, wobei er allerdings beabsichtigte, jedes Wochenende nach Espoo zurückzukehren. Die beantragten Dienstleistungen hätten daher außerhalb Finnlands erbracht werden müssen. |
22 |
Mit Entscheidung vom 12. November 2013, die nach der Einlegung eines Rechtsbehelfs mit Entscheidung vom 4. Februar 2014 bestätigt wurde, wurde der Antrag von A auf persönliche Assistenz mit der Begründung abgelehnt, dass sein Aufenthalt im Ausland nicht als gelegentlicher Aufenthalt anzusehen sei, auch wenn sich seine Wohnsitzgemeinde nicht ändere. Die Gemeinde Espoo war der Ansicht, sie sei nicht verpflichtet, Dienstleistungen und Unterstützungsmaßnahmen außerhalb Finnlands bereitzustellen, da diese Art des Aufenthalts sich dem Begriff „ständiger Aufenthalt“ annähere. Außerdem wurde festgestellt, dass eine persönliche Assistenz im Ausland während Urlaubs- oder Geschäftsreisen bereitgestellt, aber keine Erstattung geleistet werden könne, wenn sich die Wohnsitzgemeinde der Person wegen eines Auslandsaufenthalts ändere oder wenn die Person sonst dauerhaft oder ständig im Ausland wohne. |
23 |
Mit Urteil vom 27. Juni 2014 bestätigte das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) im Wesentlichen diese Begründung und wies die von A erhobene Klage gegen die Entscheidung über die Ablehnung seines Antrags auf persönliche Assistenz ab. |
24 |
Der mit einem Rechtsmittel gegen diese Entscheidung befasste Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) hält eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs für die Entscheidung des Rechtsstreits für erforderlich |
25 |
Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die persönliche Assistenz nach dem Behinderten-Dienstleistungsgesetz eine Dienstleistung sei, die der spezifischen Pflicht der Gemeinde unterliege, und dass die Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllten, ein subjektives Recht auf eine solche Assistenz hätten, die jeder schwerbehinderten Person im Sinne dieses Gesetzes gewährt werden müsse, wenn sie im Hinblick auf den individuellen Hilfebedarf der betreffenden Person unbedingt erforderlich sei. |
26 |
Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass, da feststehe, dass nach dem nationalen Recht die Wohnsitzgemeinde von A weiterhin Espoo sei, auch wenn er in der estnischen Hauptstadt studiere, eine Pflicht, die beantragte Hilfe im Kontext eines Aufenthalts außerhalb Finnlands zu leisten, weder aus dem Wortlaut des Behinderten-Dienstleistungsgesetzes noch aus den Vorarbeiten dazu hergeleitet werden könne. |
27 |
Der Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) hält in diesem Kontext die Auslegung des Unionsrechts für erforderlich, um den Rechtsstreit, mit dem er befasst ist, zu entscheiden. Er fragt sich zunächst, ob die vom Behinderten-Dienstleistungsgesetz vorgesehene persönliche Assistenz in Anbetracht ihrer Eigenschaften als „Leistung bei Krankheit“ einzustufen sei – in diesem Fall fiele sie in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 – oder ob es sich um eine Leistung der sozialen Fürsorge handele, die aus dem Anwendungsbereich dieser Verordnung herausfiele. Da der Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) der zweiten Hypothese zuneigt, stellt er sich ferner die Frage, ob die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Unionsbürgerschaft der Ablehnung der Bereitstellung der im Ausgangsverfahren beantragten persönlichen Assistenz entgegenstehen. |
28 |
Unter diesen Umständen hat der Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: |
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
29 |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz, die u. a. in der Übernahme der durch die täglichen Verrichtungen einer schwerbehinderten Person verursachten Kosten besteht, um dieser wirtschaftlich inaktiven Person ein Studium zu ermöglichen, unter den Begriff „Leistung bei Krankheit“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. |
30 |
Vorweg ist festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass die Republik Finnland nicht mitgeteilt hat, dass das Behinderten-Dienstleistungsgesetz in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 falle. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat nicht gemäß Art. 9 der Verordnung Nr. 883/2004 erklärt hat, dass ein bestimmtes Gesetz unter diese Verordnung falle, nicht zur Folge hat, dass ein bestimmtes Gesetz automatisch vom sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 ausgenommen ist (vgl. entsprechend u. a. Urteile vom 11. Juli 1996, Otte, C-25/95, EU:C:1996:295, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. September 2013, Hliddal und Bornand, C-216/12 und C-217/12, EU:C:2013:568, Rn. 46). |
31 |
In Bezug auf die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst sind, und solchen, die von ihm ausgeschlossen sind, ist hervorzuheben, dass diese im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung abhängt, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C-160/96, EU:C:1998:84, Rn. 19, vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 70, sowie vom 30. Mai 2018, Czerwiński, C-517/16, EU:C:2018:350, Rn. 33). |
32 |
Nach ständiger Rechtsprechung kann somit eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn sie den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. u. a. Urteile vom 27. März 1985, Hoeckx, 249/83, EU:C:1985:139, Rn. 12 bis 14, vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 71, sowie vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C-449/16, EU:C:2017:485, Rn. 20). |
33 |
Angesichts des kumulativen Charakters der beiden in der vorherigen Randnummer aufgezählten Voraussetzungen fällt die fragliche Leistung nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004, wenn eine der beiden Voraussetzungen nicht erfüllt ist. |
34 |
In Bezug auf die erste Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass sie erfüllt ist, wenn eine Leistung nach objektiven Kriterien gewährt wird, deren Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung eröffnet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen darf (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 16. Juli 1992, Hughes, C-78/91, EU:C:1992:331, Rn. 17, und vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 73). |
35 |
Hierzu stellt das vorlegende Gericht fest, obwohl die individuellen Bedürfnisse schwerbehinderter Personen bei der Gewährung der vom Behinderten-Dienstleistungsgesetz vorgesehenen persönlichen Assistenz berücksichtigt würden, gewähre dieses Gesetz den von ihm bezeichneten Berechtigten ein „subjektives Recht“ auf die Gewährung dieser Assistenz auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Voraussetzungen unabhängig von der Höhe ihres Einkommens. |
36 |
Die finnische und die schwedische Regierung sind ihrerseits der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung in Anbetracht der Berücksichtigung der persönlichen Bedürfnisse des Berechtigten und des der Gemeinde hinsichtlich der Modalitäten der Bereitstellung dieser Leistung sowie ihres Umfangs eingeräumten Ermessens mit der Leistung gleichgestellt werden könne, die zu dem Urteil vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei (C-433/13, EU:C:2015:602), geführt habe, so dass sie die erste in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung nicht erfülle und folglich aus dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 herausfalle. Die Kommission und die tschechische Regierung sind hingegen der Ansicht, dass diese Leistung diese Voraussetzung erfülle. |
37 |
Im Urteil vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei (C-433/13, EU:C:2015:602), hat der Gerichtshof zum einen festgestellt, dass die Kommission nicht nachgewiesen hat, dass die Kriterien des slowakischen Gesetzes bezüglich der verschiedenen zu erstellenden medizinisch-sozialen Gutachten einen Anspruch auf die fraglichen Leistungen eröffnen, ohne dass die zuständige Behörde über einen Ermessensspielraum hinsichtlich ihrer Gewährung verfügt, und zum anderen, dass dieses Gesetz vorsieht, dass der Anspruch auf eine Ausgleichsbeihilfe mit einer wirksamen Entscheidung der zuständigen Behörde über die Anerkennung dieses Anspruchs entsteht, was die These der slowakischen Regierung stützte, wonach die Verwaltung bei der Gewährung der in Rede stehenden Leistungen über ein Ermessen verfügte. |
38 |
Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, folgt daraus, dass die im Ermessen liegende Prüfung der individuellen Bedürfnisse des Empfängers der in Rede stehenden Leistung sich vor allem auf die Eröffnung des Anspruchs auf sie beziehen muss, damit die Erfüllung der ersten in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzung ausgeschlossen ist, was die These der slowakischen Regierung stützte, wonach die Verwaltung bei der Gewährung der in Rede stehenden Leistungen über ein Ermessen verfügte. |
39 |
Es ist festzustellen, dass die Berücksichtigung des individuellen Bedarfs des Betroffenen an mehreren Stellen des Behinderten-Dienstleistungsgesetzes, insbesondere in seinen §§ 8c und 8d, genannt wird. Allerdings betrifft das u. a. von diesem § 8d eingeräumte Ermessen, da es sich auf die Befugnisse der Wohnsitzgemeinde des Empfängers bezieht, nicht die Eröffnung des Anspruchs auf persönliche Assistenz, sondern die Modalitäten, nach denen diese Assistenz gewährt wird, sowie ihren Umfang, da die persönliche Assistenz einkommensunabhängig von der Gemeinde gewährt werden muss, wenn der Antragsteller eine schwerbehinderte Person ist, die in ihrem Gebiet wohnt. Daher unterscheidet sich die Situation des Ausgangsverfahrens von der, in der das Urteil vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei (C-433/13, EU:C:2015:602), ergangen ist. |
40 |
In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass im Ausgangsverfahren die erste Voraussetzung erfüllt ist. |
41 |
Was die zweite Voraussetzung betrifft, ist zu prüfen, ob sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht. |
42 |
Was speziell die Pflegeversicherung betrifft, hat der Gerichtshof zwar im Wesentlichen entschieden, dass Leistungen in Bezug auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit ungeachtet gewisser Besonderheiten den „Leistungen bei Krankheit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 gleichzustellen sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C-160/96, EU:C:1998:84, Rn. 23 bis 25, vom 30. Juni 2011, da Silva Martins, C-388/09, EU:C:2011:439, Rn. 40 bis 45, und vom 1. Februar 2017, Tolley, C-430/15, EU:C:2017:74, Rn. 46). |
43 |
Jedoch setzt eine solche Gleichstellung des Risikos der Pflegebedürftigkeit mit dem Risiko der Krankheit voraus, dass Leistungen, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit abdecken sollen, darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2001, Jauch, C-215/99, EU:C:2001:139, Rn. 28, vom 21. Februar 2006, Hosse, C-286/03, EU:C:2006:125, Rn. 38 bis 44, und vom 30. Juni 2011, da Silva Martins, C-388/09, EU:C:2011:439, Rn. 45). |
44 |
Dies ist insbesondere der Fall, wenn es unabhängig von der Art der Finanzierung dieser Regelungen um die Übernahme von durch die Pflegebedürftigkeit der Person entstandenen Kosten geht, die die Behandlung der Person betreffen und zumindest zeitgleich darauf abzielen, den Alltag dieser Person zu verbessern, indem ihr u. a. die Übernahme von Hilfsmitteln oder die Hilfe durch Dritte zugesichert werden (vgl. u. a. Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C-160/96, EU:C:1998:84, Rn. 23, vom 8. Juli 2004, Gaumain-Cerri und Barth, C-502/01 und C-31/02, EU:C:2004:413, Rn. 3, 21 und 26, sowie vom 12. Juli 2012, Kommission/Deutschland, C-562/10, EU:C:2012:442, Rn. 46). |
45 |
Es wurde auch entschieden, dass Leistungen, die das Risiko der Pflegebedürftigkeit betreffen, allenfalls ergänzenden Charakter gegenüber „klassischen“ Leistungen bei Krankheit haben, die im eigentlichen Sinne unter Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 fallen und nicht unbedingt integrierender Bestandteil davon sind (vgl. u. a. Urteile vom 30. Juni 2011, da Silva Martins, C-388/09, EU:C:2011:439, Rn. 47, sowie vom 1. Februar 2017, Tolley, C-430/15, EU:C:2017:74, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
46 |
Im Ausgangsverfahren ist festzustellen, wie die finnische und die schwedische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen ausführen, dass die vom Behinderten-Dienstleistungsgesetz vorgesehene persönliche Assistenz nicht dahin verstanden werden kann, dass sie darauf abzielt, den mit der Behinderung in Zusammenhang stehenden Gesundheitszustand des Begünstigten zu verbessern. |
47 |
In § 1 dieses Gesetzes heißt es nämlich, dass es Zweck dieses Gesetzes ist, Möglichkeiten zu fördern, damit Menschen mit Behinderungen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft mit anderen leben und aktiv sein können, sowie Unannehmlichkeiten und Hindernisse aufgrund einer Behinderung zu vermeiden und zu beseitigen. |
48 |
Außerdem besteht nach § 8c des Behinderten-Dienstleistungsgesetzes der Zweck der persönlichen Assistenz darin, schwerbehinderten Personen dabei zu helfen, ihre eigenen Entscheidungen bei der Ausübung der in diesem Paragrafen genannten Tätigkeiten zu treffen, und zwar bei Verrichtungen des täglichen Lebens, bei der Arbeit und im Studium, bei Freizeitbeschäftigungen, bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und bei der Aufrechterhaltung sozialer Interaktion. |
49 |
Schließlich geht aus den Vorarbeiten zu diesem Gesetz hervor, dass die Hilfsbedürftigkeit, die sich aus der Pflege, der Behandlung oder einer Beaufsichtigung ergibt, ausdrücklich vom Anwendungsbereich der persönlichen Assistenz ausgeschlossen ist. |
50 |
Folglich kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung nicht dahin verstanden werden, dass sie sich auf eins der ausdrücklich in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgezählten Risiken bezieht. |
51 |
Daraus folgt, dass die zweite in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist. Demzufolge fällt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Leistung nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004. |
52 |
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz, die u. a. in der Übernahme der durch die täglichen Verrichtungen einer schwerbehinderten Person verursachten Kosten besteht, um dieser wirtschaftlich inaktiven Person ein Studium zu ermöglichen, nicht unter den Begriff „Leistung bei Krankheit“ im Sinne dieser Bestimmung fällt und daher vom Geltungsbereich dieser Verordnung ausgeschlossen ist. |
Zur zweiten und zur dritten Frage
53 |
Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die für den Fall gestellt werden, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz nicht als „Leistung bei Krankheit“ einzustufen sein sollte und daher nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallen sollte, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 20 und 21 AEUV es der Wohnsitzgemeinde eines schwerbehinderten Einwohners eines Mitgliedstaats verwehren, eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz mit der Begründung zu verweigern, dass er sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, um dort zu studieren. |
54 |
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht zum einen ausgeführt hat, es stehe fest, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens gemäß den einschlägigen nationalen Vorschriften seinen Wohnsitz in Finnland behalten habe und dass der im Rahmen seines Studiums beabsichtigte wöchentliche Aufenthalt in Estland nur vorübergehend sei, da vorgesehen sei, dass er jedes Wochenende in seine Wohnsitzgemeinde zurückkehre. Zum anderen hat es festgestellt, im Gegensatz zu Geschäfts- oder Urlaubsreisen gehöre ein Studium nicht zu den Gründen, die es dem Betreffenden gestatteten, außerhalb Finnlands in den Genuss der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden persönlichen Assistenz zu kommen. |
55 |
Dies vorausgeschickt ist darauf hinzuweisen, dass A als finnischer Staatsangehöriger gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV Unionsbürger ist und sich daher, gegebenenfalls auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat, auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen kann (vgl. u. a. Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
56 |
Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU-Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (vgl. u. a. Urteil vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff, C-438/14, EU:C:2016:401, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
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In den sachlichen Geltungsbereich des Unionsrechts fallen u. a. diejenigen Situationen, die sich auf die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten beziehen, insbesondere auch die, in denen es um das durch Art. 21 AEUV verliehene Recht geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. u. a. Urteil vom 2. Juni 2016, Bogendorff von Wolffersdorff, C-438/14, EU:C:2016:401, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 165 Abs. 1 AEUV zwar für die Lehrinhalte und die Gestaltung ihrer jeweiligen Bildungssysteme zuständig sind, sie diese Zuständigkeit aber unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere der Bestimmungen des Vertrags über das durch Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger verliehene Recht ausüben müssen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Im Übrigen sind die Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht nicht verpflichtet, ein System zur Förderung der Hochschulausbildung für eine Ausbildung in einem Mitgliedstaat oder außerhalb von diesem vorzusehen. Sieht ein Mitgliedstaat jedoch ein solches System vor, nach dem Studenten eine solche Förderung in Anspruch nehmen können, muss er dafür Sorge tragen, dass die Modalitäten der Bewilligung dieser Förderung das genannte Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht in ungerechtfertigter Weise beschränken (vgl. insbesondere Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 24). |
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Aus einer ständigen Rechtsprechung geht außerdem hervor, dass eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellt, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 25). |
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Die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen könnten nämlich nicht ihre volle Wirkung entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die ihn allein deshalb ungünstiger stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (vgl. u. a. Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 26). |
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Dies gilt angesichts der mit Art. 6 Buchst. e und Art. 165 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich AEUV verfolgten Ziele, u. a. die Mobilität von Lernenden und Lehrenden zu fördern, in besonderem Maß im Bereich der Bildung (vgl. u. a. Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 27). |
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Es trifft zwar zu, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz nicht ausschließlich für ein Studium gewährt wird, sondern für die soziale und wirtschaftliche Eingliederung schwerbehinderter Personen, damit sie ihre eigenen Entscheidungen, auch für ein Studium, treffen können. Die in den Rn. 55 bis 62 des vorliegenden Urteils genannte Rechtsprechung ist gleichwohl anwendbar. |
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Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nach den einschlägigen nationalen Vorschriften seinen Wohnsitz in der Gemeinde Espoo behalten hat. |
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Es steht indes fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz nur mit der Begründung verweigert wurde, dass das Hochschulstudium, das A – der im Übrigen sämtliche weiteren Voraussetzungen für diese Assistenz erfüllte – aufzunehmen beabsichtigte, in einem anderen Mitgliedstaat als Finnland stattfinden sollte. |
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Eine solche Verweigerung ist als Beschränkung der jedem Unionsbürger von Art. 21 Abs. 1 AEUV zuerkannten Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten, anzusehen. |
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Eine solche Beschränkung lässt sich unionsrechtlich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Ziel steht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Maßnahme verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
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In Bezug auf die Rechtfertigung der nationalen Maßnahme ist die finnische Regierung der Auffassung, dass kein zwingender Grund des Allgemeininteresses die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung rechtfertigen könne. Die schwedische Regierung ist hingegen der Ansicht, dass die der Gemeinde obliegenden Pflichten bei der Überwachung der Modalitäten der Bereitstellung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden persönlichen Assistenz und in diesem Kontext die Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit es rechtfertigten, die Gewährung der persönlichen Assistenz auf das finnische Staatsgebiet zu beschränken. Außerdem erwähnt das vorlegende Gericht unter Verweis auf die Rn. 89 und 90 des Urteils vom 21. Juli 2011, Stewart (C-503/09, EU:C:2011:500), in seiner Vorlageentscheidung als Beispiel für ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, das eine solche Beschränkung rechtfertigen könne, die Aufrechterhaltung der Kohärenz und Wirksamkeit des Systems der vom Behinderten-Dienstleistungsgesetz vorgesehenen persönlichen Assistenz sowie die Sicherstellung des Vorliegens einer tatsächlichen Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem für die Gewährung zuständigen Mitgliedstaat. |
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Die mit einer nationalen Regelung verfolgten Ziele, einen Nachweis für eine tatsächliche Verbindung zwischen demjenigen, der kurzfristiges Arbeitsunfähigkeitsgeld für junge Menschen beantragt, und dem zuständigen Mitgliedstaat zu verlangen sowie das finanzielle Gleichgewicht des nationalen Systems der sozialen Sicherheit zu wahren, sind zwar grundsätzlich legitim und können Beschränkungen der in Art. 21 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Rechte auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt rechtfertigen (Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C-503/09, EU:C:2011:500, Rn. 90). |
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Der Gerichtshof ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass das Aufenthaltserfordernis desjenigen, der einen Antrag auf Arbeitsunfähigkeitsgeld stellt, nicht durch die in der vorherigen Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Ziele gerechtfertigt werden konnten. Insbesondere war der Gerichtshof nämlich der Auffassung, dass, obwohl derjenige, der diese Leistung beantragte, in einem anderen als dem betroffenen Mitgliedstaat wohnte, das Bestehen einer tatsächlichen und hinreichenden Verbundenheit mit dessen Staatsgebiet durch andere Faktoren als seinem Aufenthalt im Staatsgebiet dieses Mitgliedstaats vor dem Antrag belegt werden konnte, z. B. durch die Beziehungen zwischen diesem Antragsteller und dem System der sozialen Sicherheit dieses letztgenannten Mitgliedstaats oder die familiären Beziehungen (Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C-503/09, EU:C:2011:500, Rn. 97 bis 102, 104 und 109). |
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Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Beurteilung auch im Hinblick auf das Ziel, das finanzielle Gleichgewicht des nationalen Systems der sozialen Sicherheit zu gewährleisten, gilt, da sich der zuständige Mitgliedstaat durch die tatsächliche und hinreichende Verbundenheit zwischen dem Antragsteller und dem zuständigen Mitgliedstaat vergewissern kann, dass die Auszahlung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistung keine unangemessene wirtschaftliche Belastung zur Folge hat (Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C-503/09, EU:C:2011:500, Rn. 103). |
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Dieses Ergebnis ist auf die Situation anwendbar, in der sich A im Ausgangsverfahren befindet. Zum einen steht nämlich fest, wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, dass A seinen Wohnsitz in der Gemeinde Espoo behalten hat, bei der er seinen Antrag auf persönliche Assistenz gestellt hat, und dass er während der Dauer seines Studiums in Estland wöchentlich dorthin zurückkehrt. |
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Daher kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass diese Gemeinde bei der Überwachung der Einhaltung der Voraussetzungen und der Modalitäten für die Organisation und Zuteilung dieser Assistenz auf besondere Schwierigkeiten stoßen könnte. |
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Im Übrigen sind den dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine Angaben zur Art der Hindernisse zu entnehmen, auf die die Gemeinde bei der Kontrolle der Bedingungen für die Inanspruchnahme der persönlichen Assistenz in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vermehrt stoßen würde im Vergleich zu der nach den finnischen Rechtsvorschriften zulässigen Situation, in der eine identische persönliche Assistenz von einem finnischen Gebietsansässigen im Ausland bei einer Geschäfts- oder Urlaubsreise in Anspruch genommen wird. |
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In diesem Zusammenhang ist die vom vorlegenden Gericht angesprochene Tatsache hervorzuheben, zu der sich auch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen Fragen gestellt hat, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz weiterhin gewährt werden kann, wenn der Betreffende in einer von seiner Wohnsitzgemeinde eventuell weit entfernten finnischen Gemeinde studiert. Denn in einer solchen Situation hat seine Wohnsitzgemeinde auch nicht viel mehr Möglichkeiten, die Nutzung einer solchen Assistenz zu kontrollieren, als in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der A zwar außerhalb Finnlands studiert, aber in einer grenznahen Region und jedes Wochenende in seine finnische Wohnsitzgemeinde zurückkehrt. |
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Zum anderen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die finnische Regierung erklärt hat, dass derzeit unter keinem Gesichtspunkt die Auffassung vertretbar sei, dass die Gewährung einer persönlichen Assistenz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens das Gleichgewicht des nationalen Systems der sozialen Sicherheit gefährden könne. |
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Deshalb kann unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens keines der vom vorlegenden Gericht und der schwedischen Regierung angeführten Ziele die Beschränkung der Freiheit eines Unionsbürgers wie A, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, rechtfertigen. |
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Daher ist zu der vom vorlegenden Gericht ebenfalls ersuchten Auslegung von Art. 19 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht Stellung zu nehmen, da sie an der Antwort, die auf die zweite und die dritte Frage zu geben ist, nichts zu ändern vermag. |
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Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 20 und 21 AEUV es der Wohnsitzgemeinde eines schwerbehinderten Einwohners eines Mitgliedstaats verwehren, eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende persönliche Assistenz mit der Begründung zu verweigern, dass er sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, um dort zu studieren. |
Kosten
80 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.