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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

7. August 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Vorsteuerabzug – Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“

In der Rechtssache C-16/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren], Portugal) mit Entscheidung vom 29. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 2017, in dem Verfahren

TGE Gas Engineering GmbH – Sucursal em Portugal

gegen

Autoridade Tributária e Aduaneira

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet (Berichterstatter), der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. März 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der TGE Gas Engineering GmbH – Sucursal em Portugal, vertreten durch A. Fernandes de Oliveira, advogado,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und R. Campos Laires als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und B. Rechena als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Mai 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 44, 45, 132 Abs. 1 Buchst. f, 167 bis 169, 178, 179, 192a bis 194 und 196 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der Art. 10 und 11 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2011, L 77, S. 1) sowie des Grundsatzes der Neutralität.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der TGE Gas Engineering GmbH – Sucursal em Portugal (im Folgenden: TGE Sucursal em Portugal) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) (im Folgenden: ATA) über deren Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung im Zusammenhang mit der Weiterberechnung von Kosten eines Agrupamento complementar de empresas (wirtschaftliche Interessenvereinigung, im Folgenden: WIV).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3

Art. 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“

4

Art. 45 dieser Richtlinie sieht vor:

„Als Ort einer Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch von der festen Niederlassung des Dienstleistungserbringers, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, aus erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Dienstleistungserbringers.“

5

Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

f)

Dienstleistungen, die selbstständige Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen, soweit diese Zusammenschlüsse von ihren Mitgliedern lediglich die genaue Erstattung des jeweiligen Anteils an den gemeinsamen Kosten fordern, vorausgesetzt, dass diese Befreiung nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führt“.

6

Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

7

Art. 168 Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)

die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.

8

In Art. 169 Buchst. a der Richtlinie heißt es:

„Über den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 hinaus hat der Steuerpflichtige das Recht, die in jenem Artikel genannte Mehrwertsteuer abzuziehen, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a)

für seine Umsätze, die sich aus den in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ergeben, die außerhalb des Mitgliedstaats, in dem diese Steuer geschuldet oder entrichtet wird, bewirkt werden und für die das Recht auf Vorsteuerabzug bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat bewirkt worden wären“.

9

Art. 178 Buchst. a und f der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)

für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen und das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;

f)

hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.“

10

Art. 179 dieser Richtlinie bestimmt:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

11

Art. 192a der Richtlinie sieht vor:

„Für die Zwecke der Anwendung dieses Abschnitts gilt ein Steuerpflichtiger, der im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem die Steuer geschuldet wird, über eine feste Niederlassung verfügt, als nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

a)

er liefert steuerpflichtig Gegenstände oder erbringt steuerpflichtig eine Dienstleistung im Gebiet dieses Mitgliedstaats;

b)

eine Niederlassung des Lieferers oder Dienstleistungserbringers im Gebiet dieses Mitgliedstaats ist nicht an der Lieferung oder Dienstleistung beteiligt.“

12

In Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

13

Art. 194 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Wird die steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen bzw. die steuerpflichtige Dienstleistung von einem Steuerpflichtigen bewirkt, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die Person, für die die Lieferung bzw. Dienstleistung bestimmt ist, die Steuer schuldet.

(2)   Die Mitgliedstaaten legen die Bedingungen für die Anwendung des Absatzes 1 fest.“

14

Art. 196 der Richtlinie lautet:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige oder die nicht steuerpflichtige juristische Person mit einer Mehrwertsteuer- Identifikationsnummer, für den/die eine Dienstleistung nach Artikel 44 erbracht wird, wenn die Dienstleistung von einem nicht in diesem Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird.“

Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011

15

In Art. 10 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 heißt es:

„(1)   Für die Anwendung der Artikel 44 und 45 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] gilt als Ort, an dem der Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, der Ort, an dem die Handlungen zur zentralen Verwaltung des Unternehmens vorgenommen werden.

(2)   Zur Bestimmung des Ortes nach Absatz 1 werden der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden, der Ort seines satzungsmäßigen Sitzes und der Ort, an dem die Unternehmensleitung zusammenkommt, herangezogen.

Kann anhand dieser Kriterien der Ort des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens nicht mit Sicherheit bestimmt werden, so wird der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden, zum vorrangigen Kriterium.

(3)   Allein aus dem Vorliegen einer Postanschrift kann nicht geschlossen werden, dass sich dort der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens befindet.“

16

Art. 11 dieser Durchführungsverordnung bestimmt:

„(1)   Für die Anwendung des Artikels 44 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] gilt als ‚feste Niederlassung‘ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden.

(2)   Für die Anwendung der folgenden Artikel gilt als ‚feste Niederlassung‘ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen zu erbringen:

a)

Artikel 45 der [Mehrwertsteuerrichtlinie];

b)

ab 1. Januar 2013 Artikel 56 Absatz 2 Unterabsatz 2 der [Mehrwertsteuerrichtlinie];

c)

bis 31. Dezember 2014 Artikel 58 der [Mehrwertsteuerrichtlinie];

d)

Artikel 192a der [Mehrwertsteuerrichtlinie].

(3)   Allein aus der Tatsache, dass eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt wurde, kann nicht darauf geschlossen werden, dass ein Steuerpflichtiger eine ‚feste Niederlassung‘ hat.“

Portugiesisches Recht

17

Der Regime do Registo Nacional de Pessoas Coletivas (Regelung über das Register der juristischen Personen), gebilligt durch das Decreto-Lei n.o 129/98 (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 129/98) vom 13. Mai 1998 (Diário da República I, Serie I-A, Nr. 110 vom 13. Mai 1998) regelt die Eintragung juristischer Personen in das nationale Register der juristischen Personen.

18

Gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und b der Regelung über das Register der juristischen Personen enthält dieses Register Eintragungen sowohl zu juristischen Personen portugiesischen Rechts oder des Rechts eines anderen Staates als auch zu Vertretungen juristischer Personen des Völkerrechts oder des Rechts eines anderen Staates, die gewöhnlich in Portugal tätig sind.

19

Art. 13 der Regelung über das Register der juristischen Personen bestimmt, dass jede in diesem Register eingetragene juristische Person eine Steueridentifikationsnummer erhält, und regelt die Einzelheiten ihrer Zuteilung.

20

Nach Art. 6 Abs. 2 des Código do Imposto sobre o Rendimento das Pessoas Colectivas (Körperschaftsteuergesetz) muss eine WIV den Beteiligten, die sie gegründet haben, ihre während des Rechnungsjahrs erzielten Gewinne oder Verluste in dem im Gründungsvertrag vereinbarten Verhältnis weiterberechnen. Diese Gewinne oder Verluste werden bei den zu versteuernden Einkünften der Mitglieder der WIV körperschaftsteuerrechtlich berücksichtigt.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

21

Der TGE Gas Engineering GmbH mit Sitz in Bonn (im Folgenden: TGE Bonn), einer Gesellschaft deutschen Rechts, wurde am 3. März 2009 in Portugal als gebietsfremdem Unternehmen ohne feste Niederlassung zur Durchführung eines einzelnen Rechtsgeschäfts, nämlich des Erwerbs von Gesellschaftsanteilen, die Steueridentifikationsnummer 980410878 zugeteilt.

22

TGE Sucursal em Portugal wurde am 7. April 2009 in Portugal als gebietsfremdes Unternehmen mit fester Niederlassung in Form einer Zweigniederlassung eingetragen, und ihr wurde die Steueridentifikationsnummer 980412463 zugeteilt.

23

TGE Bonn bildete in der Folge mit der Somague Engenharia SA eine WIV mit der Bezeichnung „Projesines Expansão do Terminal de GNL de Sines, ACE“ (im Folgenden: WIV Projesines). Bei deren Gründung verwendete TGE Bonn ihre Steueridentifikationsnummer und nicht die von TGE Sucursal em Portugal. Die WIV Projesines erhielt ihre eigene Steueridentifikationsnummer, nämlich 508917280.

24

Zweck der WIV Projesines war die Durchführung des Projekts zur Erweiterung des Flüssigerdgasterminals Sines in Portugal. Dieses Terminal gehört der Redes Energéticas Nacionais SA, einer portugiesischen Elektrizitätsgesellschaft.

25

Die WIV sind in Portugal einer besonderen Regelung unterworfen. Nach Art. 6 Abs. 2 des Körperschaftsteuergesetzes muss eine WIV den Beteiligten, die sie gegründet haben, ihre während des Rechnungsjahrs erzielten Gewinne oder Verluste in dem im Gründungsvertrag vereinbarten Verhältnis weiterberechnen. Diese Gewinne oder Verluste werden bei den zu versteuernden Einkünften der Mitglieder der WIV körperschaftsteuerrechtlich berücksichtigt.

26

Der Gründungsvertrag der WIV Projesines sieht vor, dass Somague Engenharia 85 % und TGE Bonn 15 % der Kosten trägt. In einer Vereinbarung und in der Geschäftsordnung der WIV Projesines werden jedoch 64,29 % der Verpflichtungen und Passiva TGE Bonn, die restlichen 35,71 % Somague Engenharia zugeordnet.

27

Am 4. Mai 2009 schloss TGE Sucursal em Portugal mit der WIV Projesines einen Subunternehmervertrag ab. Dieser sieht wechselseitige Leistungen zwischen TGE Sucursal em Portugal und der WIV Projesines vor, wobei diese ihre Kosten TGE Sucursal em Portugal weiterberechnen muss.

28

Die WIV Projesines leitete gemäß dem im Subunternehmervertrag mit TGE Sucursal em Portugal niedergelegten „full back-to-back general principle“ sämtliche Rechnungen aus diesem Vertrag und sämtliche Rechnungen von Somague Engenharia an Redes Energéticas Nacionais als Bauherrin weiter.

29

Bei der Kostenzuordnung und Weiterberechnung verwendete die WIV Projesines die Steueridentifikationsnummer von TGE Sucursal em Portugal, nicht die von TGE Bonn. Auf den Belastungsanzeigen, die sie an TGE Sucursal em Portugal versandte, war daher deren Steueridentifikationsnummer angegeben und die Mehrwertsteuer auf dieser Grundlage berechnet. Die WIV Projesines ordnete 64,29 % ihrer Kosten TGE Sucursal em Portugal zu.

30

TGE Sucursal em Portugal zog sodann die in den Belastungsanzeigen der WIV Projesines berechnete Mehrwertsteuer als Vorsteuer ab.

31

Anlässlich einer Steuerprüfung bei TGE Sucursal em Portugal für die Rechnungsjahre 2009 bis 2011 erstellte die ATA einen Bericht, in dem sie feststellte, dass TGE Sucursal em Portugal und TGE Bonn zwei verschiedene Rechtsträger seien, die jeweils über eine Steueridentifikationsnummer verfügten. Da TGE Sucursal em Portugal kein Gründungsmitglied der WIV Projesines sei, könne ihr diese ihre Kosten nicht zuordnen und TGE Sucursal em Portugal die darauf entfallende Mehrwertsteuer nicht abziehen.

32

Die ATA forderte TGE Sucursal em Portugal daher auf, die der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer entsprechenden Beträge zu zahlen. TGE Sucursal em Portugal wandte sich an das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht für Steuerangelegenheiten [Zentralstelle für das Verwaltungsschiedsverfahren]), um die Aufhebung der Entscheidung der ATA über diese Nacherhebung zu erwirken.

33

Vor dem vorlegenden Gericht macht die ATA geltend, dass TGE Sucursal em Portugal eine feste Niederlassung sei, die ein von TGE Bonn verschiedenes Steuerrechtssubjekt sei. Da nur TGE Bonn Mitglied der WIV Projesines sei, sei TGE Sucursal em Portugal nicht berechtigt, die Kosten der WIV zu übernehmen und die darauf entfallende Mehrwertsteuer abzuziehen. Dass die WIV Projesines in ihren Rechnungen den im Gründungsvertrag festgelegten Umlegungsschlüssel zugrunde lege, sei insoweit unerheblich.

34

Die beiden Unternehmen seien zwei unterschiedliche Steuerrechtssubjekte und damit mehrwertsteuerrechtlich zwei gesonderte Einheiten. Hätte TGE Bonn die Ertragslage der WIV Projesines TGE Sucursal em Portugal als gebietsfremdem Unternehmen mit fester Niederlassung zuschreiben wollen, hätte sie bei der Gründung der WIV die Steueridentifikationsnummer von TGE Sucursal em Portugal verwenden können und müssen.

35

Zwischen den Belastungsanzeigen, die gegenüber TGE Sucursal em Portugal ausgestellt worden seien, und deren aktiven Umsätzen bestehe kein unmittelbarer und direkter Zusammenhang. Ein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe daher nicht.

36

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Arbitral Tributário (Centro de Arbitragem Administrativa) (Schiedsgericht in Steuersachen [Zentrum für Verwaltungsschiedsgerichtsbarkeit]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art. 44, 45, 132 Abs. 1 Buchst. f, 167 bis 169, 178, 179, 192a bis 194 und 196 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die Art. 10 und 11 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 sowie der Grundsatz der Neutralität dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die portugiesische Steuerverwaltung einer Zweigniederlassung einer Gesellschaft deutschen Rechts das Vorsteuerabzugsrecht in einem Fall verweigert, in dem

der Gesellschaft deutschen Rechts in Portugal eine Steueridentifikationsnummer als gebietsfremdem Unternehmen ohne feste Niederlassung für die Durchführung eines einzelnen Rechtsgeschäfts, nämlich den „Erwerb von Gesellschaftsanteilen“, zugeteilt wurde;

die Zweigniederlassung dieser Gesellschaft deutschen Rechts später in Portugal registriert wurde und ihr eine eigene Steueridentifikationsnummer als fester Niederlassung dieser Gesellschaft zugeteilt wurde;

die Gesellschaft deutschen Rechts sodann unter Verwendung der ersten Identifikationsnummer mit einem anderen Unternehmen einen Vertrag zur Gründung einer WIV für die Durchführung eines Werkvertrags in Portugal abgeschlossen hat;

die Zweigniederlassung danach unter Verwendung ihrer eigenen Steueridentifikationsnummer einen Subunternehmervertrag mit der WIV abgeschlossen hat, in dem die wechselseitigen Leistungen zwischen der Zweigniederlassung und der WIV vereinbart wurden und festgelegt wurde, dass die WIV den Subunternehmern die ihr entstandenen Kosten im vereinbarten Verhältnis in Rechnung stellt;

die WIV auf den zur Inrechnungstellung von Kosten gegenüber der Zweigniederlassung ausgestellten Belastungsanzeigen deren Steueridentifikationsnummer angegeben und Mehrwertsteuer berechnet hat;

die Zweigniederlassung die in den Belastungsanzeigen berechnete Mehrwertsteuer als Vorsteuer abgezogen hat;

sich die Geschäftstätigkeit der WIV (über eine Subunternehmerschaft) aus den Geschäftstätigkeiten der Zweigniederlassung und des anderen die WIV bildenden Unternehmens zusammensetzt, wobei diese beiden der WIV Rechnungen über die von dieser gegenüber dem Auftraggeber abgerechneten Gesamteinnahmen stellten?

Zur Vorlagefrage

37

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob insbesondere die Art. 167 und 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, eine Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, und ihre Zweigniederlassung im erstgenannten Mitgliedstaat deshalb als zwei verschiedene Steuerpflichtige anzusehen, weil sie jeweils über eine eigene Steueridentifikationsnummer verfügen, und aus diesem Grund der Zweigniederlassung das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer zu versagen, die auf den von einer WIV, zu deren Mitgliedern die Gesellschaft, nicht aber ihre Zweigniederlassung gehört, ausgestellten Belastungsanzeigen ausgewiesen ist.

38

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass der Ausgangsrechtsstreit im Wesentlichen auf den Schlussfolgerungen beruht, die die zuständige Steuerverwaltung daraus gezogen hat, dass TGE Bonn und TGE Sucursal em Portugal über unterschiedliche Steueridentifikationsnummern verfügen und dass bei der Gründung der WIV Projesines die Steueridentifikationsnummer von TGE Bonn verwendet wurde, während die WIV Projesines bei der Erstellung der die Umlegung ihrer Kosten betreffenden Rechnungen die Steueridentifikationsnummer von TGE Sucursal em Portugal verwendete.

39

In diesem Zusammenhang ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie ein Steuerpflichtiger, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, berechtigt ist, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die auf diese Gegenstände oder Dienstleistungen geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer abzuziehen, sofern die Gegenstände oder Dienstleistungen ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden. Der Empfänger der fraglichen Dienstleistung muss daher ein Steuerpflichtiger im Sinne der Richtlinie sein.

40

Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert, wer „Steuerpflichtiger“ ist, nämlich Personen, die eine wirtschaftliche Tätigkeit „selbständig“ ausüben. Für eine einheitliche Anwendung der Mehrwertsteuerrichtlinie ist es besonders wichtig, dass der in ihrem Titel III definierte Begriff „Steuerpflichtiger“ autonom und einheitlich ausgelegt wird (Urteil vom 17. September 2014, Skandia America [USA], filial Sverige, C-7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 23).

41

Was eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft und ihre Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat betrifft, so ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese beiden Einheiten mehrwertsteuerrechtlich als ein einziger Steuerpflichtiger anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. März 2006, FCE Bank, C-210/04, EU:C:2006:196, Rn. 37, vom 16. Juli 2009, Kommission/Italien, C-244/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:478, Rn. 38, und vom 12. September 2013, Le Crédit Lyonnais, C-388/11, EU:C:2013:541, Rn. 34), es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die Zweigniederlassung einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht. Hierzu ist zu prüfen, ob eine solche Zweigniederlassung als selbständig betrachtet werden kann, insbesondere ob sie das wirtschaftliche Risiko ihrer Tätigkeit trägt (Urteil vom 23. März 2006, FCE Bank, C-210/04, EU:C:2006:196, Rn. 35).

42

Im Ausgangsverfahren hat TGE Bonn in Portugal eine erste Steueridentifikationsnummer erhalten, um ein einzelnes Rechtsgeschäft durchzuführen, das in der Gründung der WIV Projesines bestand. TGE Bonn hat sodann zur Registrierung von TGE Succursal em Portugal eine zweite Steueridentifikationsnummer erhalten, die im Rahmen aller von ihr und ihrer Zweigniederlassung in Portugal ausgeübten Tätigkeiten verwendet wurde. Es ist offensichtlich, dass die beiden Steueridentifikationsnummern von TGE Bonn und TGE Succursal em Portugal ein und derselben Einheit zuzuordnen sind, nämlich TGE Bonn.

43

Daraus folgt, dass TGE Bonn und TGE Sucursal em Portugal ein einziger Steuerpflichtiger im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie sind.

44

Es ist daran zu erinnern, dass das in den Art. 167 und 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug nach ständiger Rechtsprechung integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (vgl. u. a. Urteile vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C-284/11, EU:C:2012:458, Rn. 44, und vom 28. Juli 2016, Astone, C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 30).

45

Da TGE Bonn und TGE Succursal em Portugal ein und dieselbe rechtliche Einheit und damit ein einziger Steuerpflichtiger sind, gebietet im vorliegenden Fall der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2007, Collée, C-146/05, EU:C:2007:549, Rn. 31).

46

Verfügt daher die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige als Empfänger der fraglichen Umsätze die Mehrwertsteuer schuldet, darf sie hinsichtlich seines Rechts auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (Urteile vom 1. April 2004, Bockemühl, C-90/02, EU:C:2004:206, Rn. 51, und vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 64).

47

Daraus folgt, dass die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens einem Steuerpflichtigen nicht allein deshalb den Vorsteuerabzug versagen darf, weil er bei der Gründung einer WIV eine Steueridentifikationsnummer als gebietsfremdes Unternehmen ohne feste Niederlassung und bei der Weiterberechnung der Kosten der WIV die Steueridentifikationsnummer seiner in diesem Mitgliedstaat ansässigen Zweigniederlassung verwendet hat.

48

Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass TGE Bonn in Deutschland ansässig und TGE Succursal em Portugal ihre feste Niederlassung in Portugal ist.

49

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 44 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Ort der einem Steuerpflichtigen als solchem geleisteten Dienstleistung der Ort gilt, an dem der Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Anknüpfungspunkt als vorrangigen gewählt, da er als objektives, einfaches und praktisches Kriterium große Rechtssicherheit bietet (Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 53 bis 55). Demgegenüber ist die Anknüpfung an die feste Niederlassung des Steuerpflichtigen in Art. 44 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie nachrangig und eine Ausnahmevorschrift zur allgemeinen Regel (Urteil vom 16. Oktober 2014, Welmory, C-605/12, EU:C:2014:2298, Rn. 56).

50

Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Ausgangsrechtsstreit zu prüfen, ob die sonstigen in Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgeführten Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug vorliegen.

51

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 167 und 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, eine Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, und ihre Zweigniederlassung im erstgenannten Mitgliedstaat deshalb als zwei verschiedene Steuerpflichtige anzusehen, weil sie jeweils über eine eigene Steueridentifikationsnummer verfügen, und aus diesem Grund der Zweigniederlassung das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer zu versagen, die auf den von einer WIV, zu deren Mitgliedern die Gesellschaft, nicht aber ihre Zweigniederlassung gehört, ausgestellten Belastungsanzeigen ausgewiesen ist.

Kosten

52

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität sind dahin auszulegen, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, eine Gesellschaft, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, und ihre Zweigniederlassung im erstgenannten Mitgliedstaat deshalb als zwei verschiedene Steuerpflichtige anzusehen, weil sie jeweils über eine eigene Steueridentifikationsnummer verfügen, und aus diesem Grund der Zweigniederlassung das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer zu versagen, die auf den von einer wirtschaftlichen Interessenvereinigung, zu deren Mitgliedern die Gesellschaft, nicht aber ihre Zweigniederlassung gehört, ausgestellten Belastungsanzeigen ausgewiesen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Portugiesisch.