Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
12. September 2018(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Recht auf Vorsteuerabzug – Von einem von der Steuerbehörde für ‚inaktiv‘ erklärten Steuerpflichtigen getätigte Erwerbe – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer“
In der Rechtssache C-69/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 16. November 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Februar 2017, in dem Verfahren
Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL, vormals Gamesa Wind România SRL,
gegen
Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Soluţionare a Contestaţiilor,
Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Administrare a Marilor Contribuabili
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter) sowie der Richterinnen A. Prechal und C. Toader,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL, vertreten durch A. Stănoiu und O. Marian, avocaţi,
– der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch H. R. Radu, dann durch C.-R. Canţăr, R. I. Haţieganu und L. Liţu als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch G.-D. Balan und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gamesa Renewable Energy România SRL, vormals Gamesa Wind România SRL (im Folgenden: Gamesa) auf der einen sowie der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Soluţionare a Contestaţiilor (Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen, Rumänien) und der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Administrare a Marilor Contribuabili (Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern, Rumänien) auf der anderen Seite wegen des Rechts von Gamesa, Mehrwertsteuer, die sie für Erwerbe entrichtet hat, die sie in dem Zeitraum getätigt hat, in dem ihre Mehrwertsteueridentifikationsnummer gelöscht war, als Vorsteuer abzuziehen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 in Titel I („Zielsetzung und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2006/112 sieht in Abs. 2 Unterabs. 2 vor:
„Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.“
4 In Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden … Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
5 Art. 167 der Richtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
6 Art. 168 in Titel X („Vorsteuerabzug“) der Richtlinie sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
7 Art. 178 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
8 Art. 179 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.“
9 Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.“
10 Art. 214 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:
a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;
…“
11 Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:
„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“
12 Art. 252 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mehrwertsteuererklärung ist innerhalb eines von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegenden Zeitraums abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate nach Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums nicht überschreiten.
(2) Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden.
Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.“
13 Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Rumänisches Recht
14 Art. 11 Abs. 11 der Legea nr. 571/2003 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch) vom 22. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927 vom 23. Dezember 2003) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Steuergesetzbuch) lautet:
„Umsätze, die ein Steuerpflichtiger ausführt, der durch Erlass des Präsidenten der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur für inaktiv erklärt worden ist, werden von den Steuerbehörden nicht berücksichtigt; hiervon ausgenommen sind Lieferungen von Gegenständen im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens.“
15 Art. 1471 Abs. 2 des Steuergesetzbuchs sieht vor:
„Sind die Voraussetzungen und Formalitäten für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug im Steuererklärungszeitraum nicht erfüllt oder wurden die in Art. 146 vorgesehenen Steuerbelege nicht vorgelegt, kann der Steuerpflichtige das Recht auf Vorsteuerabzug mittels Erklärung für den Steuerzeitraum ausüben, in dem diese Voraussetzungen und Formalitäten erfüllt werden, oder durch eine nachfolgende Erklärung, jedoch für höchstens fünf aufeinanderfolgende Jahre ab dem 1. Januar des Jahres, das auf das Jahr folgt, in dem das Abzugsrecht entstanden ist.“
16 Art. 153 Abs. 9 des Steuergesetzbuchs bestimmt:
„Die zuständigen Steuerbehörden können die mehrwertsteuerliche Registrierung einer Person gemäß diesem Artikel aufheben, wenn die Person nach den Bestimmungen dieses Titels nicht verpflichtet oder nicht berechtigt war, die mehrwertsteuerliche Registrierung gemäß diesem Artikel zu beantragen. Ebenso können die zuständigen Steuerbehörden die mehrwertsteuerliche Registrierung einer Person von Amts wegen gemäß diesem Artikel bei Steuerpflichtigen aufheben, die auf der Liste der für inaktiv erklärten Steuerpflichtigen nach Art. 11 aufgeführt sind, sowie bei nach den gesetzlichen Vorschriften im Handelsregister eingetragenen Steuerpflichtigen, die vorübergehend inaktiv sind. Das Verfahren für die Löschung im Register richtet sich nach den geltenden Verfahrensvorschriften. Nach der Aufhebung der mehrwertsteuerlichen Registrierung [dieser Personen] ist bei den zuständigen Steuerbehörden die mehrwertsteuerliche Registrierung zu beantragen, wenn die Situation, die zur Löschung im Register geführt hat, nicht mehr besteht; die Vorschriften über die in Art. 152 vorgesehene Befreiungsgrenze für Kleinunternehmer finden im entsprechenden Kalenderjahr keine Anwendung.“
17 Art. 1582 des Steuergesetzbuchs sieht vor:
„(1) Beginnend zum 1. August 2010 wird bei der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur das Register der innergemeinschaftlichen Marktteilnehmer eingerichtet und geführt, das sämtliche steuerpflichtige Personen sowie nicht steuerpflichtige juristische Personen umfasst, die innergemeinschaftliche Umsätze tätigen, d. h.:
a) innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen, die in Rumänien nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a erfolgen und nach Art. 143 Abs. 2 Buchst. a und d steuerfrei sind;
b) anschließende Lieferungen von Gegenständen, die im Rahmen von Dreiecksgeschäften nach Art. 1321 Abs. 5 erfolgen, die im Ankunftsmitgliedstaat der Gegenstände getätigt werden und die in Rumänien als innergemeinschaftliche Lieferungen mit dem Code T gemeldet werden;
c) innergemeinschaftliche Dienstleistungen, d. h. von Art. 133 Abs. 2 erfasste Dienstleistungen, die von in Rumänien ansässigen Steuerpflichtigen gegenüber nicht in Rumänien, aber in der Gemeinschaft ansässigen Personen erbracht werden und bei denen es sich nicht um Dienstleistungen handelt, die in dem Mitgliedstaat, in dem diese Personen steuerpflichtig sind, von der Mehrwertsteuer befreit sind;
d) innergemeinschaftliche Erwerbe von steuerbaren Gegenständen, die in Rumänien gemäß Art. 1321 getätigt werden;
e) innergemeinschaftliche Erwerbe von Dienstleistungen, d. h. von unter Art. 133 Abs. 2 fallenden Dienstleistungen, die gegenüber einem in Rumänien ansässigen Steuerpflichtigen – einschließlich nicht steuerpflichtiger juristischer Personen, die nach Art. 153 oder Art. 1531 für die Zwecke der Mehrwertsteuer registriert sind – von nicht in Rumänien, aber in der Gemeinschaft ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden und bezüglich deren der Empfänger nach Art. 150 Abs. 2 zur Zahlung der Steuer verpflichtet ist.
…
(3) Personen, die nach Art. 153 und Art. 1531 für die Zwecke der Mehrwertsteuer registriert sind, müssen, wenn sie beabsichtigen, einen oder mehrere innergemeinschaftliche Umsätze der in Abs. 1 vorgesehenen Art zu tätigen, ihre Eintragung in das Register der innergemeinschaftlichen Marktteilnehmer beantragen, bevor sie diese Umsätze tätigen.
…
(10) Die Steuerbehörde streicht von Amts wegen aus dem Register der innergemeinschaftlichen Marktteilnehmer:
a) steuerpflichtige Personen sowie nicht steuerpflichtige juristische Personen, die in der Liste der nach dem Gesetz für inaktiv erklärten Steuerpflichtigen aufgeführt sind;
…“
18 Art. 78 Abs. 5 der Ordonanța Guvernului nr. 92/2003 privind Codul de procedură fiscală (Regierungsverordnung Nr. 92/2003 über die Steuerverfahrensordnung) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung sieht vor:
„Steuerpflichtige juristische Personen oder andere Einheiten ohne Rechtspersönlichkeit werden für inaktiv erklärt und unterliegen den Bestimmungen des Art. 11 Abs. 11 und 12 des Gesetzes Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch mit späteren Änderungen und Ergänzungen, wenn sie eine der folgenden Voraussetzungen erfüllen:
a) sie haben während eines Kalenderhalbjahres keine der gesetzlich vorgesehenen Erklärungspflichten erfüllt;
b) sie haben sich einer Steuerprüfung entzogen, indem sie Erklärungen mit Angaben zu ihrem Geschäftssitz abgegeben haben, die es den Steuerbehörden nicht erlauben, sie ausfindig zu machen;
c) die Steuerbehörden haben festgestellt, dass sie am angegebenen Geschäftssitz oder steuerlichen Sitz nicht aktiv sind.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 Gamesa ist eine Gesellschaft rumänischen Rechts mit Sitz in Bukarest (Rumänien), deren Geschäftsgegenstand die Montage, Installation und Unterhaltung von Windparks ist.
20 Zur Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erwarb Gamesa verschiedene Gegenstände und Dienstleistungen von in Rumänien und in anderen Ländern der Europäischen Union niedergelassenen mehrwertsteuerlich registrierten Lieferanten. Sie übte ihr Vorsteuerabzugsrecht bezüglich der Erwerbe durch Abgabe einer Mehrwertsteuererklärung aus.
21 Vom 7. Oktober 2010 bis zum 24. Mai 2011 war Gamesa zum inaktiven Steuerpflichtigen im Sinne von Art. 11 Abs. 11 des Steuergesetzbuchs erklärt, da sie während eines Kalenderhalbjahres keine der gesetzlich vorgesehenen Erklärungspflichten erfüllt hatte.
22 Im Zeitraum vom 26. November 2014 bis zum 29. Juli 2015 wurde bei Gamesa eine Steuerprüfung zur Überprüfung ihrer mehrwertsteuerlichen und körperschaftsteuerlichen Situation in Bezug auf im Zeitraum vom 15. Mai 2009 bis zum 31. Dezember 2013 ausgeführte Umsätze durchgeführt. Auf der Grundlage des nach dieser Überprüfung erstellten Berichts erging gegen Gamesa ein Steuerbescheid, mit dem ihr das Recht auf Abzug von Vorsteuer in Höhe von 3 875 717 rumänischen Lei (RON) (ungefähr 890 000 Euro) versagt und eine Verpflichtung zur Zahlung von Nebenforderungen in Höhe von 2 845 308 RON (ungefähr 654 000 Euro) auferlegt wurde, was im Wesentlichen damit begründet wurde, dass ihr für die Erwerbe, die sie in dem Zeitraum getätigt habe, in dem sie für inaktiv erklärt gewesen sei, kein Abzugsrecht zugestanden habe.
23 Der von Gamesa gegen die zusätzlichen Steuerforderungen eingelegte Einspruch wurde mit einer Entscheidung der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen vom 15. Dezember 2015 zurückgewiesen.
24 Mit am 10. Juni 2016 in das Rechtssachenregister eingetragener Klageschrift erhob Gamesa bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) Klage gegen die Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen und die Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern. Sie beantragt zum einen die teilweise Aufhebung des Steuerbescheids, soweit die Steuerverwaltung ihr mit diesem das Recht auf Abzug von Vorsteuer in Höhe von 3 875 717 RON (ungefähr 890 000 Euro) für den Zeitraum vom 15. Mai 2009 bis zum 31. Dezember 2013 versagte und eine Verpflichtung zur Zahlung von Nebenforderungen in Höhe von 2 845 308 RON (ungefähr 654 000 Euro) auferlegte, und zum anderen die Aufhebung der Entscheidung der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen vom 15. Dezember 2015 insgesamt.
25 Mit ihrer Klage wirft Gamesa der Steuerverwaltung hauptsächlich vor, sie habe den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer vor dem Hintergrund verkannt, dass sie, Gamesa, sämtlichen Verpflichtungen zur Reaktivierung ihrer Mehrwertsteueridentifikationsnummer nachgekommen sei. Die Steuerbehörde beruft sich zu ihrer Verteidigung auf die Notwendigkeit der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Verhinderung von Steuerhinterziehungen.
26 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Verbietet die Richtlinie 2006/112 (insbesondere ihre Art. 213, 214 und 273) unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung oder Steuerpraxis, wonach einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn es nach der Reaktivierung der Mehrwertsteueridentifikationsnummer des Steuerpflichtigen mittels mehrerer Mehrwertsteuererklärungen geltend gemacht wird, nicht gewährt wird, weil sich die fragliche Vorsteuer auf Erwerbe bezieht, die in dem Zeitraum getätigt wurden, in dem die Mehrwertsteueridentifikationsnummer des Steuerpflichtigen inaktiv war?
2. Verbietet die Richtlinie 2006/112 (insbesondere ihre Art. 213, 214 und 273) unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung oder Steuerpraxis, wonach einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn es nach der Reaktivierung der Mehrwertsteueridentifikationsnummer des Steuerpflichtigen mittels mehrerer Mehrwertsteuererklärungen geltend gemacht wird, nicht gewährt wird, weil die fragliche Vorsteuer – obgleich sie sich auf Rechnungen bezieht, die nach der Reaktivierung der Mehrwertsteueridentifikationsnummer des Steuerpflichtigen ausgestellt wurden – Erwerbe betrifft, die in dem Zeitraum getätigt wurden, in dem die Mehrwertsteueridentifikationsnummer inaktiv war?
Zu den Vorlagefragen
27 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/112, namentlich ihre Art. 213, 214 und 273, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen, der in einem Zeitraum Erwerbe getätigt hat, in dem seine Mehrwertsteueridentifikationsnummer gelöscht war, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, das Recht versagen kann, die Vorsteuer für diese Erwerbe mittels nach der Reaktivierung seiner Identifikationsnummer erstellter Mehrwertsteuererklärungen – oder ausgestellter Rechnungen – abzuziehen.
28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ist das in den Art. 167 ff. der Richtlinie 2006/112 geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Durch die Abzugsregelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt jedoch der Einhaltung sowohl materieller als auch formeller Anforderungen und Bedingungen.
32 Hinsichtlich der materiellen Anforderungen und Bedingungen ist es für das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 von Bedeutung, dass der Betreffende „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie ist und dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen von ihm auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sind (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 39).
33 Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die den formellen Anforderungen und Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 ausgestellte Rechnung besitzen muss (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 40).
34 Nach ständiger Rechtsprechung erfordert das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (Urteile vom 28. Juli 2016, Astone, C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 45, vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 41, und vom 26. April 2018, Zabrus Siret, C-81/17, EU:C:2018:283, Rn. 44).
35 Insbesondere stellen die in Art. 214 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Mehrwertsteuer-Identifikation sowie die in Art. 213 dieser Richtlinie vorgesehene Pflicht des Steuerpflichtigen, die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit anzuzeigen, nur Kontrollzwecken dienende Formerfordernisse dar, die namentlich das Recht auf Vorsteuerabzug nicht in Frage stellen dürfen, sofern die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung dieses Rechts erfüllt sind (Urteile vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 60, und vom 7. März 2018, Dobre, C-159/17, EU:C:2018:161, Rn. 32).
36 Folglich kann ein Mehrwertsteuerpflichtiger nicht mit der Begründung an der Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug gehindert werden, dass er sich nicht als mehrwertsteuerpflichtig hat registrieren lassen, bevor er die erworbenen Gegenstände im Rahmen seiner besteuerten Tätigkeit verwendet hat (Urteile vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie, C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 51, sowie vom 7. März 2018, Dobre, C-159/17, EU:C:2018:161, Rn. 33).
37 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Ahndung der Nichtbefolgung der Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten durch den Steuerpflichtigen mit der Versagung des Abzugsrechts klar über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels, die ordnungsgemäße Befolgung dieser Verpflichtungen sicherzustellen, erforderlich ist, da das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, gegebenenfalls eine Geldbuße oder eine finanzielle Sanktion zu verhängen, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht (Urteile vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 63, und vom 7. März 2018, Dobre, C-159/17, EU:C:2018:161, Rn. 34).
38 Anders verhalten könnte es sich, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom 28. Juli 2016, Astone, C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 7. März 2018, Dobre, C-159/17, EU:C:2018:161, Rn. 35).
39 Ebenso kann das Recht auf Vorsteuerabzug verweigert werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 43, und vom 7. März 2018, Dobre, C-159/17, EU:C:2018:161, Rn. 36).
40 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Gamesa vom 7. Oktober 2010 bis zum 24. Mai 2011 zum inaktiven Steuerpflichtigen erklärt war, da sie während eines Kalenderhalbjahres keine der gesetzlich vorgesehenen Erklärungspflichten erfüllt hatte. Allerdings wurde sie beginnend zum 25. Mai 2011 mehrwertsteuerlich reaktiviert und erneut entsprechend registriert. Im Anschluss an diese Reaktivierung übte sie ihr Recht auf Vorsteuerabzug mittels nach dieser Reaktivierung erstellter Mehrwertsteuererklärungen oder ausgestellter Rechnungen aus.
41 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Zeitpunkt, zu dem die Mehrwertsteuererklärung erstellt oder die Rechnung ausgestellt wurde, nicht zwingend Auswirkungen auf die materiellen Anforderungen hat, die ein Recht auf Vorsteuerabzug begründen.
42 Daraus ergibt sich, dass, sofern die materiellen Anforderungen erfüllt sind, die ein Recht auf Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer begründen, und das Abzugsrecht nicht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird, eine Gesellschaft in einer Situation wie derjenigen von Gamesa berechtigt wäre, ihr Abzugsrecht mittels nach ihrer mehrwertsteuerlichen Reaktivierung erstellter Mehrwertsteuererklärungen oder ausgestellter Rechnungen geltend zu machen.
43 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, u. a. zu prüfen, ob die Steuerverwaltung über die Angaben verfügte, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt waren, die ein Recht auf Abzug der von Gamesa entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer begründen, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt der Mehrwertsteuererklärung oder vom Rechnungsdatum.
44 Nach alledem ist die Richtlinie 2006/112, namentlich ihre Art. 213, 214 und 273, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen, der in einem Zeitraum Erwerbe getätigt hat, in dem seine Mehrwertsteueridentifikationsnummer gelöscht war, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, das Recht, die Vorsteuer für diese Erwerbe mittels nach der Reaktivierung seiner Identifikationsnummer erstellter Mehrwertsteuererklärungen – oder ausgestellter Rechnungen – abzuziehen, allein aus dem Grund versagen kann, dass diese Erwerbe während des Zeitraums der Deaktivierung stattfanden, obwohl die materiellen Anforderungen erfüllt sind und das Vorsteuerabzugsrecht nicht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.
Kosten
45 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung, namentlich ihre Art. 213, 214 und 273, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen, der in einem Zeitraum Erwerbe getätigt hat, in dem seine Mehrwertsteueridentifikationsnummer gelöscht war, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, das Recht, die Vorsteuer für diese Erwerbe mittels nach der Reaktivierung seiner Identifikationsnummer erstellter Mehrwertsteuererklärungen – oder ausgestellter Rechnungen – abzuziehen, allein aus dem Grund versagen kann, dass diese Erwerbe während des Zeitraums der Deaktivierung stattfanden, obwohl die materiellen Anforderungen erfüllt sind und das Vorsteuerabzugsrecht nicht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Rumänisch.