Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
27. Juni 2018(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Recht auf Vorsteuerabzug – Materielle Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug – Tatsächliche Lieferung der Gegenstände“
In den verbundenen Rechtssachen C-459/17 und C-460/17
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidungen vom 21. Juli 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2017, in den Verfahren
SGI (C-459/17) und
Valériane SNC (C-460/17)
gegen
Ministre de l’Action et des Comptes publics
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richter J.-C. Bonichot und E. Regan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von SGI und Valériane, vertreten durch L. Boré, avocat,
– der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. de Moustier und A. Alidière als Bevollmächtigte,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 (ABl. 1991, L 376, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen SGI (C-459/17) bzw. der Valériane SNC (C-460/17) gegen den Ministre de l’Action et des Comptes publics (Minister für den öffentlichen Dienst und den Haushalt, Frankreich) wegen des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer auf den Erwerb von Investitionsgütern.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;
2. die Einfuhr von Gegenständen.“
4 In Art. 3 der Sechsten Richtlinie heißt es:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter
– ‚Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats‘ das Inland, wie es für jeden Mitgliedstaat in den Absätzen 2 und 3 definiert ist;
– ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gebiet der Gemeinschaft‘ das Inland der Mitgliedstaaten, wie es für jeden Mitgliedstaat in den Absätzen 2 und 3 definiert ist;
…
(2) Für die Anwendung dieser Richtlinie ist unter ‚Inland‘ der Anwendungsbereich des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu verstehen, wie er in Artikel 227 für jeden Mitgliedstaat definiert ist.
(3) Folgende Hoheitsgebiete gelten nicht als Inland
…
– Französische Republik:
die überseeischen Departements;
…“
5 Nach Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie „[gilt a]ls Lieferung eines Gegenstands … die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.
6 In Art. 10 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie heißt es:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie gilt als
a) Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
b) Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.
(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. …
…“
7 In Art. 17 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie heißt es:
„(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,
…“
Französisches Recht
8 In Art. 199j Teil B Abs. I des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch) in der für den Sachverhalt der Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: CGI) heißt es:
„Steuerpflichtige mit Wohnsitz in Frankreich im Sinne von Art. 4 Teil B haben Anspruch auf Ermäßigung der Einkommensteuer aufgrund neuer produktiver Investitionen, die sie in den überseeischen Departements, in Saint-Pierre und Miquelon, auf Mayotte, in Neukaledonien, in Französisch-Polynesien, auf den Inseln Wallis und Futuna und in den Französischen Süd- und Antarktisgebieten im Rahmen eines Unternehmens vornehmen, das im Bereich der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels oder des Handwerks tätig ist und unter Art. 34 fällt.
…
Die Bestimmungen von Unterabs. 1 sind anwendbar auf Investitionen von Gesellschaften, die der Besteuerung gemäß Art. 8 unterliegen, und von in den Art. 239c oder 239c Teil C genannten Gruppen, deren Anteile … von Steuerpflichtigen mit Wohnsitz in Frankreich im Sinne von Art. 4 Teil B gehalten werden. In diesem Fall nehmen die Gesellschafter oder Mitglieder die Steuerermäßigung in einem Verhältnis vor, das ihren Rechten an der Gesellschaft oder der Gruppe entspricht.
…
Die in diesem Abs. I vorgesehene Steuerermäßigung gilt für produktive Investitionen, die einem Unternehmen im Rahmen eines Mietvertrags zur Verfügung gestellt werden …“
9 In Art. 271 CGI heißt es:
„I. 1. Die Mehrwertsteuer auf die Kostenelemente eines steuerbaren Umsatzes ist von der Mehrwertsteuer auf diesen Umsatz abziehbar.
…
II. 1. Soweit Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet werden und unter der Voraussetzung, dass für diese Umsätze ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, können die Steuerschuldner gegebenenfalls abziehen:
a) die auf den gemäß Art. 289 ausgestellten Rechnungen ausgewiesene Steuer, wenn diese rechtmäßig auf diesen Rechnungen ausgewiesen werden durfte;
…“
10 Art. 272 Abs. 2 CGI lautet:
„Die unter den in Art. 283 Abs. 4 definierten Voraussetzungen in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer kann vom Rechnungsempfänger nicht abgezogen werden.“
11 Art. 283 Abs. 4 CGI bestimmt:
„Liegt der Rechnung keine Warenlieferung oder Erbringung einer Dienstleistung zugrunde oder weist sie einen Preis aus, der vom Käufer nicht tatsächlich bezahlt werden muss, wird die Steuer von der Person geschuldet, die sie in Rechnung gestellt hat.“
12 Dem vorlegenden Gericht zufolge ergibt sich aus den Art. 271, 272 Abs. 2 und 283 Abs. 4 CGI, dass ein Steuerpflichtiger die Mehrwertsteuer, die auf einer auf seinen Namen ausgestellten Rechnung einer Person ausgewiesen ist, die an ihn keine Ware geliefert oder keine Dienstleistung erbracht hat, von der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer nicht abziehen darf.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
13 Die Tätigkeit von SGI und Valériane, Gesellschaften französischen Rechts mit Sitz in Réunion (Frankreich), besteht in der Durchführung von Investitionen, die von der Steuerermäßigung nach Art. 199j Teil B CGI erfasst werden. Im Rahmen der Regelung in diesem Artikel erwerben die Gesellschaften Ausrüstungsgegenstände, die zur Vermietung an in Réunion niedergelassene Betriebsinhaber bestimmt sind.
14 Nach einer Prüfung der Buchhaltung stellte die französische Steuerverwaltung die Berechtigung von SGI und Valériane, die auf verschiedenen Rechnungen über den Kauf von Ausrüstungsgegenständen ausgewiesene Mehrwertsteuer abzuziehen, u. a. deswegen in Frage, weil diese Rechnungen keinen tatsächlichen Lieferungen entsprochen hätten. Infolgedessen erließ sie Mehrwertsteuernachforderungsbescheide an SGI für die Zeiträume viertes Quartal 2004 sowie erstes und zweites Quartal 2005, und an Valériane für den Zeitraum drittes Quartal 2004.
15 SGI und Valériane fochten diese Bescheide vor dem Tribunal administratif de la Réunion (Verwaltungsgericht Réunion, Frankreich) an, das ihre Rechtsbehelfe mit zwei Urteilen vom 28. Februar 2013 zurückwies, die von der Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux, Frankreich) bestätigt wurden.
16 Zu SGI führte die Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) aus, dass SGI, die sich auf ihre Gutgläubigkeit berufen habe, weder bestritten habe, dass zahlreiche Umsätze keinen tatsächlichen Lieferungen entsprochen hätten, noch, dass Lieferungen verspätet gewesen seien, noch schließlich, dass bestimmte Transaktionen annulliert worden seien. So habe SGI nicht kontrolliert, ob diese wirtschaftlichen Vorgänge, bei denen es um erhebliche Beträge gegangen sei, tatsächlich stattgefunden hätten. Das Verwaltungsberufungsgericht leitete daraus ab, dass die Finanzverwaltung den Beweis dafür erbracht habe, dass SGI in ihrer Eigenschaft als „Professionelle[s Unternehmen auf dem Gebiet] der überseeischen Steuerbefreiung“ über den fiktiven Charakter der betreffenden Umsätze oder die Überfakturierung einiger von ihnen nicht habe in Unkenntnis sein können.
17 Im Hinblick auf Valériane stellte das Verwaltungsberufungsgericht fest, aufgrund der Ermittlungen der Steuerverwaltung sei erwiesen, dass zum einen die fraglichen Gegenstände nicht geliefert und installiert worden seien, und dass zum anderen Valériane mehrere Verstöße begangen habe wie die Nichtzahlung des Rechnungsbetrags, die Nichteinnahme der Sicherheitsleistung und der Miete, die im mit dem Mieter der Gegenstände geschlossenen Mietvertrag bestimmt waren, sowie das Fehlen einer Überprüfung, ob die Gegenstände tatsächlich vorhanden gewesen seien, obwohl der Mietvertrag noch vor der Rechnungsstellung und dem Erhalt der Gegenstände abgeschlossen worden sei.
18 SGI und Valériane waren der Ansicht, die Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) habe einen Rechtsfehler begangen, und erhoben beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) eine Kassationsbeschwerde auf Grundlage der Sechsten Richtlinie in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs.
19 Zur Stützung ihres Rechtsmittels bringt SGI vor, dass es ihr, da keine ernsthaften Indizien dafür vorgelegen hätten, dass die streitigen wirtschaftlichen Tätigkeiten in eine Hinterziehung einbezogen gewesen seien, nicht oblegen habe, zu prüfen, ob diese Tätigkeiten tatsächlich stattgefunden hätten. Valériane trägt vor, die Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) habe nicht ermittelt, ob die Verwaltung den Beweis erbracht habe, dass Valériane gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass bei dem fraglichen Umsatz ein Mehrwertsteuerbetrug vorliege.
20 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 31. Januar 2013, Stroy trans (C-642/11, EU:C:2013:54) bzw. LVK (C-643/11, EU:C:2013:55), entschieden hat, dass dann, wenn in Anbetracht von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten, die der Aussteller der Rechnung begangen hat oder die dem Umsatz, auf den das Recht auf Vorsteuerabzug gestützt wird, vorausgegangen sind, davon ausgegangen wird, dass dieser Umsatz tatsächlich nicht bewirkt wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug dem Rechnungsempfänger nur versagt werden darf, wenn anhand objektiver Gesichtspunkte und ohne dass vom Rechnungsempfänger Nachprüfungen verlangt werden, die ihm nicht obliegen, nachgewiesen ist, dass der Rechnungsempfänger wusste oder wissen musste, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
21 Jedoch führt das vorlegende Gericht aus, dass diese beiden Urteile zu Sachverhalten ergangen seien, die sich von denen in den vorliegenden Ausgangsverfahren unterschieden hätten und in denen sich die Steuerverwaltung auf Unregelmäßigkeiten gestützt habe, die der Rechnungsaussteller oder einer seiner Lieferanten begangen hatten. In den Vorlagefragen sei es darum gegangen, welche Konsequenzen für die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug durch den Rechnungsempfänger daraus zu ziehen sind, dass die Steuerverwaltung nicht durch einen Steuerberichtigungsbescheid an den Aussteller der Rechnung die von diesem erklärte Mehrwertsteuer berichtigt habe.
22 In den Ausgangsverfahren sei das Recht auf Vorsteuerabzug hingegen verweigert worden, da die betreffenden Gegenstände den im Ausgangsverfahren fraglichen Gesellschaften tatsächlich nicht geliefert worden seien. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf den Vorsteuerabzug verweigert werden soll, in einer solchen Situation der Nachweis ausreicht, dass die Waren oder Dienstleistungen tatsächlich nicht an ihn geliefert bzw. erbracht wurden, oder ob auch nachzuweisen ist, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war.
23 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Sind die Bestimmungen von Art. 17 der Sechsten Richtlinie, die im Wesentlichen in Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) übernommen wurden, dahin auszulegen, dass dann, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der ausgewiesenen Steuer auf Rechnungen über Gegenstände oder Dienstleistungen, bei denen die Steuerverwaltung feststellt, dass sie nicht tatsächlich an ihn geliefert bzw. erbracht wurden, von der von ihm für seine eigenen Umsätze geschuldeten Mehrwertsteuer versagt werden soll, in jedem Fall zu prüfen ist, ob nachgewiesen ist, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war, sei es, dass diese Hinterziehung auf Initiative des Rechnungsausstellers, des Rechnungsempfängers oder eines Dritten erfolgte?
24 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. August 2017 sind die Rechtssachen C-459/17 und C-460/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.
Zur Vorlagefrage
Zulässigkeit
25 Der in den Ausgangsverfahren fragliche Sachverhalt fand in einem französischen überseeischen Departement außerhalb des Anwendungsbereichs der Sechsten Richtlinie gemäß ihrem Art. 3 Abs. 3 statt.
26 Der Gerichtshof hat Vorabentscheidungsersuchen in Fällen für zulässig erklärt, in denen zwar der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unmittelbar in den Geltungsbereich des Unionsrechts fiel, aber die Vorschriften des Unionsrechts durch das nationale Recht, das sich zur Regelung von nicht unter den Geltungsbereich des Unionsrechts fallenden Sachverhalten nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richtete, für anwendbar erklärt worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2018, Jacob und Lassus, C-327/16 und C-421/16, EU:C:2018:210, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
27 In solchen Fällen besteht nämlich ein klares Interesse der Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden (Urteil vom 22. März 2018, Jacob und Lassus, C-327/16 und C-421/16, EU:C:2018:210, Rn. 34).
28 Vorliegend ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass Art. 17 der Sechsten Richtlinie durch das französische Recht auch für das in den Ausgangsverfahren fragliche überseeische Departement unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden ist. Somit besteht ein klares Interesse der Union daran, dass die Vorlagefrage beantwortet wird.
29 Die Vorlagefrage ist folglich zulässig.
Zur Beantwortung der Frage
30 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 17 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Verwaltung, die einem steuerpflichtigen Rechnungsempfänger das Recht auf Abzug der auf der Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer versagt, nur nachweisen muss, dass die der Rechnung entsprechenden Umsätze tatsächlich nicht bewirkt wurden, oder ob sie auch seine fehlende Gutgläubigkeit nachweisen muss.
31 Einleitend ist erstens darauf hinzuweisen, dass die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Richtlinie 2006/112 die Sechste Richtlinie aufgehoben hat, ohne dass dies jedoch zu inhaltlichen Änderungen im Verhältnis zu dieser geführt hat. Da die maßgeblichen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie inhaltlich im Wesentlichen mit denen der Richtlinie 2006/112 übereinstimmen, ist die zu ihr ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs auch auf die Sechste Richtlinie anwendbar.
32 Zweitens ist nach den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen vorliegend unstreitig, dass sowohl SGI und Valériane als auch die Lieferanten der betreffenden Gegenstände im Sinne der Sechsten Richtlinie steuerpflichtig sind.
33 Drittens beruht die Vorlagefrage auf der Annahme, dass die in den Ausgangsverfahren fraglichen Gegenstände, für die die Vorsteuer geltend gemacht wird, tatsächlich nicht geliefert wurden.
34 Nach Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Dies tritt gemäß Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird.
35 Daraus folgt, dass im Mehrwertsteuersystem der Vorsteuerabzug daran geknüpft ist, dass die Lieferung des betreffenden Gegenstands oder die betreffende Dienstleistung tatsächlich bewirkt wird (vgl. entsprechend Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Juli 2013, Menidzherski biznes reshenia, C-572/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:456, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Umgekehrt kann kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen, wenn die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung tatsächlich nicht bewirkt wurde.
37 Dazu hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug sich nicht auf eine Steuer erstreckt, die ausschließlich deswegen geschuldet wird, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Juli 2013, Menidzherski biznes reshenia, C-572/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:456, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Die Gut- oder Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, ist ohne Bedeutung für die Frage, ob die Lieferung im Sinne von Art. 10 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie bewirkt wurde. Entsprechend dem Zweck der Richtlinie, mit der ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem geschaffen werden sollte, das u. a. auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze beruht, hat nämlich der Begriff „Lieferung eines Gegenstands“ im Sinne ihres Art. 5 Abs. 1 einen objektiven Charakter und ist unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze auszulegen. Die Steuerverwaltung ist dabei nicht verpflichtet, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln oder die Absicht eines anderen an derselben Lieferkette beteiligten Wirtschaftsteilnehmers, der nicht der Steuerpflichtige ist, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2013, Dixons Retail, C-494/12, EU:C:2013:758, Rn. 19 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Wer einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, muss nachweisen, dass er die Voraussetzungen hierfür erfüllt (Urteil vom 26. September 1996, Enkler, C-230/94, EU:C:1996:352, Rn. 24).
40 Daraus folgt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug davon abhängt, dass die entsprechenden Umsätze tatsächlich bewirkt wurden.
41 Des Weiteren führen weder die von SGI und Valériane geltend gemachten Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung noch die sich aus den Urteilen vom 31. Januar 2013, Stroy trans (C-642/11, EU:C:2013:54) bzw. LVK (C-643/11, EU:C:2013:55), ergebende Rechtsprechung zu einem anderen Ergebnis.
42 Zunächst müssen nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können (Urteil vom 31. Januar 2013, LVK, C-643/11, EU:C:2013:55, Rn. 51).
43 Im Hinblick auf die in den Ausgangsverfahren fraglichen Steuervorschriften deutet allerdings nichts darauf hin, dass die Klägerinnen der Ausgangsverfahren nicht imstande gewesen wären, sich bei der Anwendung dieser Vorschriften angemessen zu orientieren.
44 Sodann erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, der eine Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung darstellt, dass die Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirken, im Mehrwertsteuerbereich nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern eine Differenzierung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, LVK, C-643/11, EU:C:2013:55, Rn. 55). Ein Steuerpflichtiger, dem das Recht auf Vorsteuerabzug mangels eines steuerbaren Umsatzes verweigert wird, befindet sich jedoch nicht in einer Situation, die mit der eines Steuerpflichtigen vergleichbar wäre, dem das Recht auf Vorsteuerabzug aufgrund eines tatsächlich vorliegenden steuerbaren Umsatzes gewährt wird.
45 Schließlich ist festzustellen, dass die Urteile vom 31. Januar 2013, Stroy trans (C-642/11, EU:C:2013:54) bzw. LVK (C-643/11, EU:C:2013:55), zu Sachverhalten ergangen sind, die sich von denen der Ausgangsverfahren wesentlich unterschieden. Die beiden Urteile betrafen nämlich in einem Kontext, in dem nicht erwiesen war, dass die Lieferungen der Gegenstände, die dem Recht auf Vorsteuerabzug der betreffenden Steuerpflichtigen zugrunde lagen, tatsächlich nicht bewirkt worden waren, zum einen die Frage, ob die Steuerverwaltung allein deswegen, weil die Lieferanten kein Dokument über die Vornahme der fraglichen Lieferung vorgelegt hatten, feststellen durfte, dass steuerbare Lieferungen fehlten. Zum anderen betrafen sie die Frage, ob die steuerpflichtigen Rechnungsempfänger ihr Vorbringen, dass die fraglichen Umsätze tatsächlich bewirkt worden seien, darauf stützen durften, dass die Steuerverwaltung bei den Ausstellern der streitigen Rechnungen keine Berichtigungen veranlasst habe.
46 In den Ausgangsverfahren beruht jedoch, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, die Vorlagefrage auf der Annahme, dass die Gegenstände, für die die Vorsteuer geltend gemacht wird, tatsächlich nicht geliefert worden waren.
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Verwaltung, die einem steuerpflichtigen Rechnungsempfänger das Recht auf Abzug der auf der Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer versagt, nur nachweisen muss, dass die der Rechnung entsprechenden Umsätze tatsächlich nicht bewirkt wurden.
Kosten
48 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. Dezember 1991 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Verwaltung, die einem steuerpflichtigen Rechnungsempfänger das Recht auf Abzug der auf der Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer versagt, nur nachweisen muss, dass die der Rechnung entsprechenden Umsätze tatsächlich nicht bewirkt wurden.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Französisch.