Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
19. Dezember 2019(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435/EWG – Vermeidung der Doppelbesteuerung – Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich – Verbot der Besteuerung erlangter Gewinne – Einbeziehung der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividende in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft – Abzug der ausgeschütteten Dividende von der Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft und zeitlich unbeschränkte Übertragung des Überschusses auf die nachfolgenden Steuerjahre – Reihenfolge der Anrechnung der Steuerabzüge auf die Gewinne – Verlust eines Steuervorteils“
In der Rechtssache C-389/18
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 26. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juni 2018, in dem Verfahren
Brussels Securities SA
gegen
État belge
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündlichen Verhandlungen vom 4. April 2019 und 3. Juli 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Brussels Securities SA, vertreten durch R. Forestini, avocat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, P. Cottin und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte sowie durch G. Vercauteren, Sachverständiger,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und N. Gossement als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. September 2019
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6) in der durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 (ABl. 2004, L 7, S. 41) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 90/435).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Brussels Securities SA und dem belgischen Staat wegen der Reihenfolge, in der abzugsfähige Einkünfte von den steuerpflichtigen Gewinnen abzuziehen sind.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 90/435 lautet:
„Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.“
4 In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so
– besteuern der Staat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte diese Gewinne entweder nicht oder
– lassen im Falle einer Besteuerung zu, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichtet, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß Artikel 2 und Artikel 3 erfüllen.
…
(2) Jeder Mitgliedstaat kann bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können. Wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, darf der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen.
…“
5 Die Richtlinie 90/435 wurde durch die Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8), die am 18. Januar 2012 in Kraft trat, aufgehoben. Auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist jedoch in zeitlicher Hinsicht die Richtlinie 90/435 anwendbar.
Belgisches Recht
6 In Art. 202 des Code des impôts sur les revenus 1992 (Einkommensteuergesetzbuch 1992) in seiner im Steuerjahr 2011 anwendbaren Fassung (im Folgenden: EStGB 1992) heißt es in Bezug auf die Regelung der definitiv besteuerten Einkünfte (im Folgenden: DBE):
„§ 1 Von den Gewinnen des Besteuerungszeitraums werden in dem Maße, wie sie sich darin befinden, ebenfalls abgezogen:
1. Dividenden ausschließlich der Einkünfte, die anlässlich der Übertragung auf eine Gesellschaft ihrer eigenen Aktien oder Anteile oder anlässlich der Gesamt- oder Teilverteilung des Gesellschaftsvermögens einer Gesellschaft erzielt werden,
…
§ 2 Außer sofern eine Plusdifferenz aus der Anwendung von Artikel 211 § 2 Absatz 3 oder von Bestimmungen mit ähnlicher Wirkung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union hervorgeht, sind in § 1 Nr. 1 und 2 erwähnte Einkünfte nur abzugsfähig, sofern:
1. am Datum der Zuerkennung oder Ausschüttung dieser Einkünfte die Gesellschaft, die die Einkünfte bezieht, am Kapital der Gesellschaft, die sie ausschüttet, eine Beteiligung von mindestens 10 Prozent oder mit einem Investitionswert von mindestens 2 500 000 Euro besitzt,
2. diese Einkünfte sich auf Aktien oder Anteile beziehen, die die Beschaffenheit von Finanzanlagen haben und während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens einem Jahr in Volleigentum sind oder waren.“
7 Art. 204 § 1 des EStGB 1992 lautet:
„Gemäß Artikel 202 § 1 Nr. 1, 3 und 4 abzugsfähige Einkünfte gelten als in den Gewinnen des Besteuerungszeitraums befindlich bis zu 95 Prozent des eingenommenen oder erhaltenen Betrags, eventuell erhöht um den tatsächlichen oder fiktiven Mobiliensteuervorabzug oder, in Bezug auf die in Artikel 202 § 1 Nr. 4 und 5 erwähnten Einkünfte, verringert um die dem Verkäufer vergüteten Zinsen, wenn die Wertpapiere im Besteuerungszeitraum erworben wurden.“
8 Art. 205 §§ 2 und 3 des EStGB 1992 sieht vor:
„§ 2 Der in Artikel 202 vorgesehene Abzug wird auf den Betrag der Gewinne des Besteuerungszeitraums beschränkt, der nach der Anwendung von Artikel 199 übrig bleibt, verringert um:
…
Die in Absatz 1 aufgezählten Verringerungen sind nicht auf die in Artikel 202 § 1 Nr. 1 und 3 erwähnten Einkünfte anwendbar, die von einer Tochtergesellschaft gewährt oder zuerkannt werden, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässig ist.
Für die Anwendung des vorhergehenden Absatzes gilt als Tochtergesellschaft die Tochtergesellschaft, so wie sie in der Richtlinie [90/435] definiert ist.
§ 3 In Artikel 202 § 1 Nr. 1 und 3 erwähnte Einkünfte, die von einer in § 2 Absatz 3 erwähnten Tochtergesellschaft gewährt oder zuerkannt werden, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässig ist, und die nicht abgezogen werden konnten, können bis zu 95 Prozent ihres Betrags auf die folgenden Besteuerungszeiträume übertragen werden.“
9 Art. 205ter § 1 Abs. 1 des EStGB 1992 bestimmt, dass bei der Festlegung des Abzugs für Risikokapital (im Folgenden: ARK) für einen Besteuerungszeitraum das zu berücksichtigende Risikokapital vorbehaltlich der Bestimmungen der §§ 2 bis 7 dieses Artikels dem Betrag des Eigenkapitals der Gesellschaft am Ende des vorhergehenden Besteuerungszeitraums entspricht, das gemäß den Rechtsvorschriften über die Buchhaltung und den Jahresabschluss der Unternehmen bestimmt wird, so wie es in der Bilanz vorkommt. Nach Art. 205ter § 1 Abs. 2 des EStGB 1992 wird das gemäß Abs. 1 festgelegte Risikokapital um den Nettosteuerwert am Ende des vorhergehenden Besteuerungszeitraums der eigenen Aktien und Anteile und der Finanzanlagen, die aus Beteiligungen und anderen Aktien und Anteilen bestehen, und den Nettosteuerwert am Ende des vorhergehenden Besteuerungszeitraums der Aktien und Anteile von Investmentgesellschaften, deren mögliche Einkünfte aufgrund der Art. 202 und 203 des EStGB 1992 von den Gewinnen abgezogen werden können, verringert.
10 In Art. 205ter Abs. 2 bis 7 des EStGB 1992 ist geregelt, in welchen Fällen das Eigenkapital zu berichtigen ist, damit es als Berechnungsgrundlage für die Ermittlung des ARK dienen kann.
11 Art. 205quinquies des EStGB 1992 lautet:
„Gibt es während eines Besteuerungszeitraums keine oder unzureichende Gewinne, von denen der Abzug für Risikokapital abgezogen werden kann, wird die für diesen Besteuerungszeitraum nicht gewährte Steuerbefreiung nacheinander auf Gewinne der sieben folgenden Jahre übertragen.“
12 Gemäß Art. 206 § 1 des EStGB 1992, der den Abzug vorheriger Verluste betrifft, werden vorherige berufliche Verluste nacheinander von den Berufseinkünften jedes folgenden Besteuerungszeitraums abgezogen.
13 Nach Art. 207 des EStGB 1992 bestimmt der König die Weise, wie die in den Art. 199 bis 206 dieses Gesetzbuchs vorgesehenen Abzüge vorgenommen werden.
14 Art. 77 des Königlichen Erlasses vom 27. August 1993 zur Ausführung des EStGB 1992 (Moniteur belge vom 13. September 1993) sieht in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung (im Folgenden: Ausführungserlass) vor:
„In den Artikeln 202 bis 205 des [EStGB] 1992 erwähnte Beträge, die als definitiv besteuerte Einkünfte oder als steuerfreie Einkünfte aus beweglichen Gütern abzugsfähig sind, werden im Verhältnis zu den Gewinnen abgezogen, die nach Anwendung von Artikel 76 übrig bleiben; dieser Abzug erfolgt unter Berücksichtigung der Herkunft der Gewinne vorrangig von den Gewinnen, in denen diese Beträge einbegriffen sind.“
15 Art. 77/1 des Ausführungserlasses lautet:
„Der in den Artikeln 2051 bis 2054 des [EStGB] 1992 erwähnte Abzug für Einkünfte aus Patenten erfolgt im Verhältnis zu den Gewinnen, die nach Anwendung von Artikel 77 übrig bleiben.“
16 Art. 77bis des Ausführungserlasses hat folgenden Wortlaut:
„Der in den Artikeln 205bis bis 205septies des [EStGB] 1992 erwähnte [ARK] erfolgt im Verhältnis zu den Gewinnen, die nach Anwendung von Artikel 77/1 übrig bleiben.“
17 Art. 78 des Ausführungserlasses bestimmt:
„Von den gemäß den Artikeln 74 bis 77bis festgelegten Gewinnen werden in Artikel 206 des [EStGB] 1992 erwähnte vorherige berufliche Verluste in dem Maße abgezogen, wie diese Verluste, die gemäß den Rechtsvorschriften festgelegt werden, die für die betreffenden Besteuerungszeiträume gelten, vorher nicht abgezogen werden konnten oder vorher nicht durch Gewinne, die durch Abkommen befreit sind, gedeckt waren oder vorher nicht unter den Gesellschaftern aufgeteilt worden sind.
Dieser Abzug erfolgt gemäß den in Artikel 75 Absatz 2 vorgesehenen Modalitäten, wobei Verluste, die in Ländern erlitten wurden, für die Gewinne durch Abkommen befreit sind, nur in dem Maße abgezogen werden, wie sie die durch Abkommen befreiten Gewinne überschreiten.“
18 Art. 79 des Ausführungserlasses lautet:
„Der in den Artikeln 68 bis 77 und 201 des [EStGB] 1992 erwähnte Investitionsabzug wird anschließend vom Betrag der belgischen Gewinne abgezogen, die nach Anwendung von Artikel 78 übrig bleiben.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
19 Brussels Securities, ein Unternehmen mit Sitz in Belgien, unterliegt in diesem Mitgliedstaat der Gesellschaftssteuer.
20 In ihrer Steuererklärung für das Steuerjahr 2011 gab Brussels Securities an, ihre Besteuerungsgrundlage ermittelt zu haben, indem sie zunächst den ARK und dann die DBE abgezogen habe. Zudem begehrte sie die Übertragung von Abzügen aufgrund der DBE für einen Betrag von 6 027 313,39 Euro, aufgrund der ARK für einen Betrag von 38 787 618,70 Euro und aufgrund der steuerlichen Verluste für einen Betrag von 4 600 991,75 Euro auf das Steuerjahr 2012.
21 Mit Berichtigungsbescheid vom 21. Mai 2013 teilten die Steuerbehörden mit, dass sie beabsichtigten, den am Anfang und am Ende des Steuerjahrs 2011 übertragbaren ARK-Betrag zu ändern. Hierzu verwiesen sie auf die in den Art. 77 bis 79 des Ausführungserlasses vorgesehene Reihenfolge für die Anrechnung der Steuerabzüge. Demnach seien von den steuerpflichtigen Gewinnen zunächst die DBE, dann der ARK und schließlich die übertragbaren Verluste abzuziehen. Da Brussels Securities diese Anrechnungsreihenfolge in den Steuerjahren 2005 bis 2011 nicht eingehalten habe, könne kein Betrag als DBE auf das Steuerjahr 2012 übertragen werden, und in Bezug auf den ARK sei der Betrag auf 44 630 643,66 Euro zu ändern. Die übertragbaren Verluste wurden mit einem Betrag von 4 600 991,75 Euro beibehalten.
22 Am 23. Oktober 2013 erließen die Steuerbehörden einen Steuerbescheid, in dem sie an ihrem im Berichtigungsbescheid vom 21. Mai 2013 eingenommenen Standpunkt festhielten.
23 Nachdem ihre Beschwerde gegen diesen Steuerbescheid zurückgewiesen worden war, erhob Brussels Securities beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel, Belgien), eine Klage auf Nichtigerklärung des Berichtigungsbescheids vom 21. Mai 2013 und des Steuerbescheids vom 23. Oktober 2013 sowie auf Feststellung, dass die DBE sowie die DBE-Überschüsse und der ARK sowie die ARK-Überschüsse, auf die sich Brussels Securities berief, den in ihrer Steuererklärung für das Steuerjahr 2011 angegebenen Beträgen entsprechen.
24 Brussels Securities trägt vor, die in den Art. 77 bis 79 des Ausführungserlasses vorgesehene Reihenfolge für die Anrechnung der Steuerabzüge habe zur Folge, dass ein Unternehmen, das die DBE-Regelung nutze, den im ARK bestehenden Steuervorteil in Höhe der abzugsfähigen DBE verliere. Die nationale Regelung stehe daher nicht mit Art. 4 der Richtlinie 90/435 im Einklang.
25 Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob die Befreiungsregelung, die darin bestehe, dass die von der Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividende in einem ersten Schritt in die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen und in einem zweiten Schritt in Höhe von bis zu 95 % als DBE von ihr abgezogen werde, wegen der im Ausführungserlass vorgesehenen Anrechnungsreihenfolge der Steuerabzüge und angesichts des Anspruchs auf den ARK und des Rechts auf den Abzug des Saldos der vorherigen Verluste dazu führe, dass die Muttergesellschaft stärker besteuert werde als bei einer Befreiungsregelung, bei der die von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden schlicht und einfach von den Gewinnen des Steuerjahrs abgezogen würden, in dem sie erlangt worden seien, und damit das steuerpflichtige Ergebnis entsprechend verringerten und im gleichen Maße gegebenenfalls die übertragbaren steuerlichen Verluste erhöhten.
26 Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, wenn die Muttergesellschaft in einem der sieben folgenden Besteuerungszeiträume, auf die Art. 205quinquies des EStGB 1992 abstelle, ein positives Ergebnis erziele, würde die sofortige Herausrechnung der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden dazu führen, dass der ARK vor dem Saldo der vorherigen abzugsfähigen Verluste, erhöht um den Betrag der befreiten Dividenden, angerechnet würde, so dass der Saldo der auf den folgenden Steuerzeitraum vorzutragenden Verluste höher wäre als im Rahmen der Regelung des DBE-Abzugs. Im Rahmen der letztgenannten Regelung habe die Anrechnung des Saldos der vorgetragenen DBE Vorrang vor der Anrechnung des Saldos des vorgetragenen ARK. Somit könne der Abzug der DBE aufgrund der Anrechnungsreihenfolge der Steuerabzüge, wie sie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung vorsehe, zu einer höheren Steuerlast führen als bei einem sofortigen Abzug der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden.
27 Unter diesen Umständen hat das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht Erster Instanz Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 4 der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit den übrigen Quellen des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er einer Regelung einer nationalen Behörde entgegensteht, die wie das EStGB 1992 und der Ausführungserlass in ihrer für das Steuerjahr 2011 geltenden Fassung,
in denen eine Befreiungsregelung gewählt wurde (Verzicht auf die Besteuerung der ausgeschütteten Gewinne, die eine Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft bezieht), die darin besteht, dass in einem ersten Schritt die von der Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividende in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen wird und in einem zweiten Schritt 95 % dieser Dividende von der Steuerbemessungsgrundlage als DBE abgezogen werden,
aufgrund der kombinierten Anwendung, zur Ermittlung der Grundlage für die Berechnung der Gesellschaftssteuer der Muttergesellschaft, dieser belgischen Regelung für den Abzug der DBE und 1. von Vorschriften für einen anderen Abzug, der einen in dieser Regelung vorgesehenen Steuervorteil darstellt (ARK), 2. des Rechts, den Restbetrag der vorherigen abzugsfähigen Verluste abzuziehen, 3. des Rechts zur Übertragung auf die folgenden Steuerjahre, wenn ihr Betrag in einem Steuerjahr höher ist als der zu versteuernde Gewinn, der Anrechnung des Überschusses der DBE, des ARK und des Restbetrags der vorherigen abzugsfähigen Verluste und 4. der Anrechnungsreihenfolge, die vorsieht, dass sich die Anrechnung in diesen folgenden Steuerjahren, bis der zu versteuernde Gewinn erschöpft ist, zunächst auf die übertragenen DBE, dann auf den ARK (dessen Übertragung auf die „sieben folgenden Jahre“ begrenzt ist) und dann auf den Restbetrag der vorherigen abzugsfähigen Verluste beziehen muss,
zur Verringerung der Verluste, die die Muttergesellschaft hätte abziehen können, wenn die Dividenden schlicht und einfach aus den Gewinnen des Steuerjahrs, in dem sie bezogen wurden, herausgenommen worden wären (mit der Folge, dass sich das steuerpflichtige Ergebnis dieses Steuerjahrs verringert und gegebenenfalls die vortragbaren steuerlichen Verluste erhöhen) und nicht in diese Gewinne einbezogen und sodann im Fall unzureichender Gewinne Befreiungs- und Übertragungsregeln für den befreiten Betrag unterworfen worden wären, um die gesamten von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden oder einen Teil von ihnen führt,
und zwar um den Restbetrag der vorherigen abzugsfähigen Verluste der Muttergesellschaft, was in Steuerjahren eintreten kann, die auf ein Steuerjahr folgen, in dem die DBE, der ARK und der Restbetrag der vorherigen abzugsfähigen Verluste den Betrag der steuerpflichtigen Gewinne übersteigen?
Verfahren vor dem Gerichtshof
28 Am 4. April 2019 hat eine erste mündliche Verhandlung stattgefunden. Nach dem Ausscheiden eines Mitglieds des Gerichtshofs, des Berichterstatters in der vorliegenden Rechtssache, seiner Ersetzung innerhalb des Spruchkörpers durch einen anderen Richter und der Bestimmung eines neuen Berichterstatters hat am 3. Juli 2019 eine zweite mündliche Verhandlung stattgefunden. Bei beiden mündlichen Verhandlungen waren dieselben Parteien und Beteiligten vertreten.
Zur Vorlagefrage
29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Dividenden, die eine Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft erhalten hat, in einem ersten Schritt in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen werden müssen, bevor sie in einem zweiten Schritt in Höhe von 95 % abgezogen werden können, wobei der Überschuss zeitlich unbegrenzt auf die folgenden Steuerjahre übertragen werden kann und dieser Abzug Vorrang vor einem anderen Steuerabzug hat, dessen Übertragung zeitlich begrenzt ist.
30 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 sieht für den Fall, dass einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund ihrer Beteiligung an der Tochtergesellschaft Gewinne zufließen, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, vor, dass der Staat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte diese Gewinne entweder nicht besteuern oder im Fall einer Besteuerung zulassen, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichtet, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß den Art. 2 und 3 der Richtlinie erfüllen.
31 Die Richtlinie 90/435 lässt den Mitgliedstaaten somit in ihrem Art. 4 Abs. 1 ausdrücklich die Wahl zwischen dem Befreiungssystem (erster Gedankenstrich) und dem Anrechnungssystem (zweiter Gedankenstrich) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 31).
32 Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hat das Königreich Belgien das in Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 vorgesehene Befreiungssystem gewählt. Daher ist auf die Vorlagefrage allein im Licht dieser Bestimmung zu antworten.
33 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass die für den Mitgliedstaat, der das in Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 vorgesehene System gewählt hat, geltende Verpflichtung, die Gewinne, die der Muttergesellschaft als Teilhaberin ihrer Tochtergesellschaft zufließen, nicht zu besteuern, von keiner Voraussetzung abhängig gemacht worden ist und nur unter dem Vorbehalt des Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie des Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie steht (Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 33).
34 Die Mitgliedstaaten sind daher nicht berechtigt, den Vorteil, der sich aus Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 ergibt, von anderen als den in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen abhängig zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 34 und 36).
35 Darüber hinaus ergibt sich insbesondere aus dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 90/435, dass sie durch die Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Unionsebene erleichtern soll. Die Richtlinie soll damit sicherstellen, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind (Urteile vom 1. Oktober 2009, Gaz de France – Berliner Investissement, C-247/08, EU:C:2009:600, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C-448/15, EU:C:2017:180, Rn. 25).
36 Um das Ziel zu erreichen, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind, soll mit der Richtlinie 90/435, insbesondere mit der Regelung in ihrem Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich, verhindert werden, dass es zu einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung dieser Gewinne kommt, dass also die ausgeschütteten Gewinne ein erstes Mal bei der Tochtergesellschaft und ein zweites Mal bei der Muttergesellschaft erfasst werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. April 2008, Banque Fédérative du Crédit Mutuel, C-27/07, EU:C:2008:195, Rn. 24, 25 und 27, sowie vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 29 und 30).
37 Dabei hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 den Mitgliedstaaten untersagt, die Muttergesellschaft wegen der von ihrer Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne zu besteuern, ohne dass danach unterschieden würde, ob der die Besteuerung der Muttergesellschaft auslösende Tatbestand im Zufluss dieser Gewinne oder in deren Weiterausschüttung besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Mai 2017, X, C-68/15, EU:C:2017:379, Rn. 79), und dass unter dieses Verbot auch eine nationale Regelung fällt, die, obwohl die der Muttergesellschaft zufließenden Dividenden nicht als solche besteuert werden, dazu führen kann, dass diese Dividenden indirekt bei der Muttergesellschaft besteuert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 40).
38 Eine solche Regelung ist nämlich weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen und dem System der Richtlinie 90/435 vereinbar, da sie es nicht erlaubt, das mit ihrem Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich verfolgte Ziel der Vermeidung einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung in vollem Umfang zu erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret, C-138/07, EU:C:2009:82, Rn. 41 und 45).
39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die während der Steuerjahre 1992 bis 1998 geltenden belgischen Steuervorschriften betreffend die DBE, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret (C-138/07, EU:C:2009:82), ergangen ist, vorsahen, dass die von der Muttergesellschaft bezogenen Dividenden ihrer Steuerbemessungsgrundlage hinzugerechnet wurden und sodann ein 95 % der Dividenden entsprechender Betrag von dieser Grundlage abgezogen wurde, aber nur insoweit, als das Mutterunternehmen steuerpflichtige Gewinne erzielt hatte, und ohne die Möglichkeit, den nicht abgezogenen Teil der DBE auf spätere Steuerjahre zu übertragen. Wie der Gerichtshof in den Rn. 37 und 39 dieses Urteils ausgeführt hat, hatte eine solche Regelung zur Folge, dass die Verluste der Muttergesellschaft in Höhe der bezogenen Dividenden vermindert wurden, wenn die Muttergesellschaft im betreffenden Besteuerungszeitraum keine anderen steuerpflichtigen Einkünfte erzielte, und war insofern, als sie den Vortrag von Verlusten auf spätere Steuerjahre zuließ, geeignet, die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft in späteren Steuerjahren zu erhöhen.
40 Dem Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass die DBE-Regelung im Anschluss an das Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret (C-138/07, EU:C:2009:82), geändert wurde. Nach Art. 205 § 3 des EStGB 1992 kann der Teil der DBE, der im betreffenden Steuerjahr wegen unzureichender Gewinne nicht abgezogen werden kann, nunmehr auf spätere Steuerjahre übertragen werden. Zudem ist diese Übertragung zeitlich nicht beschränkt. Somit wird die Verringerung der übertragbaren Verluste, zu der die Einbeziehung der Dividenden in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft führt, jetzt offenbar durch eine zeitlich unbegrenzte Übertragung der DBE in gleicher Höhe ausgeglichen.
41 Gleichwohl ist den Angaben in der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass die übertragenen DBE nach den Bestimmungen des EStGB 1992 in den folgenden Steuerjahren vorrangig von den von der Muttergesellschaft erzielten positiven Ergebnissen abzuziehen sind, während die übrigen abzugsfähigen Elemente, insbesondere der ARK und die Verluste, nur dann abgezogen werden können, wenn und soweit dies nach dem vorrangigen Abzug der DBE noch möglich ist. Konkret wird die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft ermittelt, indem von ihren Gewinnen zunächst die übertragenen DBE, dann, sofern noch steuerpflichtige Gewinne vorhanden sind, der übertragene ARK, falls die Frist für seine Nutzung noch nicht abgelaufen ist, und schließlich die übertragenen Verluste abgezogen werden.
42 Somit kann der vorrangige Abzug der DBE die Steuerbemessungsgrundlage verringern oder gar auf null reduzieren; dies kann dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen ein anderer Steuervorteil ganz oder teilweise genommen wird.
43 Zwar können nach der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung die Verluste zeitlich unbegrenzt übertragen werden, doch ist dies für den ARK nur in den sieben folgenden Steuerjahren möglich. Unter diesen Umständen kann die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils beschriebene Reihenfolge, in der die Abzüge vorzunehmen sind, zum Verlust des Rechts zur Nutzung des übertragenen ARK in Höhe des vorrangig von den steuerpflichtigen Gewinnen der Muttergesellschaft abgezogenen Betrags der DBE führen.
44 Der ARK, der einer Gesellschaft gewährt wird, die in Belgien der Gesellschaftssteuer unterliegt, stellt einen Steuervorteil dar, der bewirkt, dass sich der tatsächliche Gesellschaftssteuersatz, den eine solche Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat zu entrichten hat, verringert (Urteil vom 17. Oktober 2019, Argenta Spaarbank, C-459/18, EU:C:2019:871, Rn. 37).
45 Somit kann die Kombination der auf die bezogenen Dividenden anwendbaren DBE-Regelung, der in der nationalen Regelung vorgesehenen Reihenfolge der Abzüge sowie der zeitlichen Beschränkung für die Nutzung des ARK offenbar dazu führen, dass der Bezug von Dividenden für die Muttergesellschaft den Verlust eines anderen im nationalen Recht vorgesehenen Steuervorteils und damit eine höhere Besteuerung dieser Gesellschaft zur Folge hat als diejenige, der sie unterlegen hätte, wenn sie keine Dividenden von ihrer nicht gebietsansässigen Tochtergesellschaft bezogen hätte oder wenn die Dividenden, wie vom vorlegenden Gericht erwogen, schlicht und einfach aus der Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft herausgenommen worden wären.
46 Unter diesen Umständen ist der Bezug solcher Dividenden für die Muttergesellschaft entgegen dem mit Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 verfolgten Ziel nicht steuerlich neutral.
47 Die belgische Regierung hat vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass die in den Rn. 42, 43 und 45 des vorliegenden Urteils beschriebenen Auswirkungen auf die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft allein auf Umständen ohne Bezug zum Zufluss von Dividenden und zur Richtlinie 90/435 beruhten, wie der Reihenfolge für die Anrechnung steuerlicher Abzüge oder der zeitlichen Begrenzung einer Übertragung des ARK, die nur die nationale Regelung beträfen.
48 Insoweit trifft es zwar zu, dass es nach dem Grundsatz der Steuerautonomie der Mitgliedstaaten mangels Harmonisierungsmaßnahmen auf Unionsebene ihnen obliegt, sowohl die Reihenfolge für die auf die Steuerbemessungsgrundlage einer Muttergesellschaft anwendbaren Abzüge als auch die Fristen für die Übertragung solcher Vorteile festzulegen. Diese Zuständigkeit muss jedoch unter Beachtung des Unionsrechts ausgeübt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2019, Jacob und Lennertz, C-174/18, EU:C:2019:205, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 15. Juli 2019, Galeria Parque Nascente, C-438/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:619, Rn. 50).
49 Darüber hinaus hat sich das Königreich Belgien, wie in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, bei der Umsetzung der Richtlinie 90/435 für das in deren Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich vorgesehene Befreiungssystem entschieden und beschlossen, dieses System dergestalt umzusetzen, dass die Dividenden in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen und dann von ihr abgezogen werden, wobei die Möglichkeit besteht, die DBE auf spätere Steuerjahre zu übertragen, in denen sie vorrangig abzuziehen sind. Diese Option impliziert jedoch zwangsläufig eine Wechselbeziehung zwischen den Dividenden und den anderen Elementen der Steuerbemessungsgrundlage wie dem ARK. Unter diesen Umständen müssen die Wirkungen einer solchen Wechselbeziehung mit der Richtlinie 90/435 im Einklang stehen, unabhängig davon, dass die Festlegung der Reihenfolge für die Anrechnung der Steuerabzüge und die zeitliche Begrenzung der Übertragung des ARK allein in die nationale Zuständigkeit fallen.
50 Ferner ist das von der belgischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachte Argument nicht stichhaltig, wonach zum einen die von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschütteten Dividenden nicht systematisch besteuert würden, sondern nur dann, wenn die Muttergesellschaft ihren Anspruch auf den ARK in sieben aufeinanderfolgenden Jahren mangels ausreichender Gewinne während dieses Zeitraums nicht habe geltend machen können, und zum anderen eine solche Besteuerung, selbst wenn sie erfolge, nicht die Dividenden als solche betreffe.
51 Wie der Generalanwalt in Nr. 82 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hat eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, auch wenn ihre nachteiligen Auswirkungen nur in bestimmten Fällen und nicht systematisch eintreten, nämlich gleichwohl Folgen, die nicht mit der Richtlinie 90/435 vereinbar sind.
52 Schließlich weist die belgische Regierung darauf hin, dass die DBE, wenn im Stadium der Anrechnung des ARK noch Gewinne vorhanden seien, bereits von den Gewinnen der Muttergesellschaft hätten abgezogen werden können, so dass die vorherige Einbeziehung der von ihrer nicht gebietsansässigen Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden in die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft in steuerlicher Hinsicht vollständig durch einen Abzug der DBE in gleicher Höhe ausgeglichen worden sei.
53 Damit soll jedoch nur dargetan werden, dass die Dividenden als solche nicht direkt besteuert wurden. Wie in den Rn. 33 und 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, steht Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 aber sowohl einer direkten als auch einer indirekten Besteuerung der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne bei der Muttergesellschaft entgegen, vorbehaltlich allein der in Art. 4 Abs. 2 und 3 geregelten Ausnahmen. Wie in den Rn. 45 ff. des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, kann im Rahmen der Anwendung eines Steuersystems wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Bezug von Dividenden in bestimmten Fällen zum Verlust eines Steuervorteils führen, was wiederum eine stärkere Besteuerung der Muttergesellschaft nach sich ziehen kann, als es bei einem Ausschluss der Dividenden von ihrer Steuerbemessungsgrundlage der Fall wäre. Da die Steuerlast der Muttergesellschaft berührt werden kann, ist davon auszugehen, dass die von ihrer Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden somit einer indirekten Besteuerung unterliegen.
54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Dividenden, die eine Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft erhalten hat, in einem ersten Schritt in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen werden müssen, bevor sie in einem zweiten Schritt in Höhe von 95 % abgezogen werden können, wobei der Überschuss zeitlich unbegrenzt auf die folgenden Steuerjahre übertragen werden kann und dieser Abzug Vorrang vor einem anderen Steuerabzug hat, dessen Übertragung zeitlich begrenzt ist.
Kosten
55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Dividenden, die eine Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft erhalten hat, in einem ersten Schritt in die Steuerbemessungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen werden müssen, bevor sie in einem zweiten Schritt in Höhe von 95 % abgezogen werden können, wobei der Überschuss zeitlich unbegrenzt auf die folgenden Steuerjahre übertragen werden kann und dieser Abzug Vorrang vor einem anderen Steuerabzug hat, dessen Übertragung zeitlich begrenzt ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Französisch.