Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
20. Januar 2021(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2 – Art. 9 – Begriffe ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ und ‚Steuerpflichtiger‘ – Umsätze, die auf die nachhaltige Erzielung von Einnahmen aus einem Gegenstand gerichtet sind – Erwerb von Immobilien durch einen Gläubiger in einem zur Beitreibung grundpfandrechtlich besicherter Darlehen eingeleiteten Zwangsvollstreckungsverfahren und Verkauf dieser Immobilien – Bloße Ausübung des Eigentumsrechts durch seinen Inhaber“
In der Rechtssache C-655/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) mit Entscheidung vom 22. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 30. August 2019, in dem Verfahren
Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Sibiu,
Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Braşov
gegen
LN
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von LN, vertreten durch G. Comăniţă, avocat,
– der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, A. Rotăreanu und S.-A. Purza als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Lyal als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 9 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Administrația județeană a finanțelor publice Sibiu (AJFP Sibiu) (Regionalverwaltung für öffentliche Finanzen Sibiu, Rumänien) und der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Brașov (DGRFP Brașov) (Regionale Generaldirektion für Finanzen Brașov, Rumänien) auf der einen Seite und LN auf der anderen Seite wegen einer zusätzlichen Mehrwertbesteuerung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer unterliegen.
4 Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Als ,Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
Rumänisches Recht
5 Art. 1251 der Legea nr. 571/2003 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch) vom 22. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927/23. Dezember 2003) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Steuergesetzbuch) sieht vor:
„(1) Im Sinne dieses Titels haben die nachfolgenden Begriffe und Ausdrücke die folgende Bedeutung:
…
18. ‚Steuerpflichtiger‘ im Sinne von Art. 127 Abs. 1: eine natürliche Person, eine Gruppe von Personen, eine öffentliche Einrichtung, eine juristische Person sowie jede andere Rechtspersönlichkeit, die fähig ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben;
…
20. ‚Nichtsteuerpflichtiger‘: eine Person, die nicht die Voraussetzungen nach Art. 127 Abs. 1, um als Steuerpflichtiger zu gelten, erfüllt;
21. ‚Person‘: ein Steuerpflichtiger, eine nicht steuerpflichtige juristische Person oder ein Nichtsteuerpflichtiger;
…“
6 Art. 127 des Steuergesetzbuchs lautet:
„(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer wirtschaftliche Tätigkeiten der in Abs. 2 vorgesehenen Art unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
(2) Im Sinne dieses Titels umfassen wirtschaftliche Tätigkeiten die Tätigkeiten der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Tätigkeiten. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.
(21) Die Fälle, in denen natürliche Personen, die Lieferungen von unbeweglichen Gegenständen vornehmen, steuerpflichtig werden, sind gesetzlich festgelegt.
…“
7 Art. 152 des Steuergesetzbuchs bestimmt:
„(1) Ein in Rumänien ansässiger Steuerpflichtiger, dessen angemeldeter oder tatsächlicher Jahresumsatz unter der Grenze von 35 000 Euro liegt, deren Entsprechung in [rumänischen Lei (RON)] nach dem von der Banca Națională a României [rumänische Nationalbank] zum Beitrittszeitpunkt bekannt gegebenen Wechselkurs auf Tausendstel gerundet festgelegt wird, kann die Befreiung von der Steuer, nachstehend als ‚besondere Befreiungsregelung‘ bezeichnet, für Umsätze gemäß Art. 126 Abs. 1 beantragen, mit Ausnahme von nach Art. 143 Abs. 2 Buchst. b befreiten innergemeinschaftlichen Lieferungen neuer Transportmittel.
(2) Der Umsatz, der als Bezugsgröße für die Anwendung von Abs. 1 dient, besteht im Nettogesamtbetrag der in den Abs. 7 und 71 bezeichneten Lieferungen von Gegenständen und der Erbringung von Dienstleistungen durch den Steuerpflichtigen im Lauf eines Kalenderjahrs, die steuerpflichtig sind oder, je nach Fall, die steuerpflichtig wären, wenn sie nicht durch ein Kleinunternehmen erfolgt wären, der Umsätze aus wirtschaftlichen Tätigkeiten, bezüglich deren der Ort der Lieferung/Leistung als im Ausland gelegen anzusehen ist, soweit die Steuer abziehbar wäre, wenn diese Umsätze gemäß Art. 145 Abs. 2 Buchst. b in Rumänien bewirkt worden wären, der zum Vorsteuerabzug berechtigenden steuerbefreiten Umsätze und der gemäß Art. 141 Abs. 2 Buchst. a, b, e und f nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden steuerbefreiten Umsätze, soweit diese keine Nebenumsätze zur Haupttätigkeit sind, mit Ausnahme der folgenden Umsätze:
a) in Art. 1251 Abs. 1 Nr. 3 definierte Lieferungen von Sachanlagen oder immateriellen Anlagegütern durch den Steuerpflichtigen;
b) innergemeinschaftliche Lieferungen neuer Transportmittel, die nach Art. 143 Abs. 2 Buchst. b steuerbefreit sind;
…
(6) Ein Steuerpflichtiger, der die besondere Befreiungsregelung in Anspruch nimmt und dessen Jahresumsatz in einem Kalenderjahr gemäß Abs. 2 die Befreiungsgrenze erreicht oder übersteigt, muss die Mehrwertsteuerregistrierung gemäß Art. 153 innerhalb von zehn Tagen nach dem Tag, an dem er die Befreiungsgrenze erreicht oder überschritten hat, beantragen. … Die besondere Befreiungsregelung gilt gemäß Art. 153 bis zum Tag der Mehrwertsteuerregistrierung. Beantragt der Steuerpflichtige die Registrierung nicht oder verspätet, sind die zuständigen Steuerbehörden befugt, ihm die Pflicht zur Entrichtung der Steuer und die damit zusammenhängenden Nebenpflichten von dem Zeitpunkt an aufzuerlegen, zu dem er sich gemäß Art. 153 hätte mehrwertsteuerlich registrieren lassen müssen.
…“
8 Art. 153 des Steuergesetzbuchs sieht vor:
„(1) Ein Steuerpflichtiger, der gemäß Art. 1251 Abs. 2 Buchst. b in Rumänien ansässig ist und eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder auszuüben beabsichtigt, die steuerbare und/oder von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze mit Vorsteuerabzugsberechtigung umfasst, hat bei der zuständigen Steuerbehörde wie folgt die Mehrwertsteuerregistrierung zu beantragen:
…
b) wenn er im Lauf eines Kalenderjahrs die in Art. 152 Abs. 1 vorgesehene Befreiungsgrenze erreicht oder überschreitet, innerhalb von zehn Tagen nach Ablauf des Monats, in dem die Befreiungsgrenze erreicht oder überschritten wurde;
…
(6) Die zuständigen Steuerbehörden registrieren gemäß diesem Artikel zu Zwecken der Mehrwertsteuer alle Personen, die nach den Bestimmungen dieses Titels verpflichtet sind, nach den Abs. 1, 2, 4 oder 5 die Registrierung zu beantragen.
(7) Wenn eine Person nach den Abs. 1, 2, 4 oder 5 verpflichtet ist, sich registrieren zu lassen, und die Registrierung nicht beantragt, registrieren die zuständigen Steuerbehörden diese Person von Amts wegen.
…“
9 Nr. 3 der Hotărârea Guvernului nr. 44/2004 pentru aprobarea Normelor metodologice de aplicare a Legii 571/2003 privind Codul fiscal (Regierungserlass Nr. 44/2004 zur Genehmigung der Durchführungsbestimmungen zum Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch) vom 22. Januar 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 112/6. Februar 2004) sieht in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung vor:
„(1) Nach Art. 127 Abs. 2 des Steuergesetzbuchs bezieht sich die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen im Einklang mit dem fundamentalen Grundsatz des Mehrwertsteuersystems, wonach die Steuer neutral zu sein hat, auf jede Art von Umsatz, unabhängig von dessen rechtlicher Form, wie der Gerichtshof in den Rechtssachen C-186/89, van Tiem, C-306/94, Régie dauphinoise, und C-77/01, Empresa de Desenvolvimento Mineiro SA (EDM), festgestellt hat.
(2) Gemäß Abs. 1 wird davon ausgegangen, dass natürliche Personen keine steuerpflichtige wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, wenn sie Einkünfte aus dem Verkauf von Wohnungen des persönlichen Eigentums oder anderer von ihnen zu persönlichen Zwecken genutzter Gegenstände erzielen. Die Kategorie von zu persönlichen Zwecken genutzten Gegenständen erfasst Gebäude und gegebenenfalls die dazugehörigen Grundstücke des persönlichen Eigentums natürlicher Personen, die zu Wohnzwecken genutzt worden sind, einschließlich von Ferienhäusern und jedes anderen durch eine natürliche Person persönlich genutzten Gegenstands sowie von Gegenständen aller Art, die rechtmäßig ererbt oder unter Anwendung der in den Gesetzen über die Wiederherstellung des Eigentumsrechts vorgesehenen Abhilfemaßnahmen erworben wurden.
(3) Es wird davon ausgegangen, dass eine natürliche Person, die nicht bereits aufgrund anderer Tätigkeiten Steuerpflichtiger ist, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen umfasst, wenn sie als solche selbständig handelt und die Tätigkeit zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen nach Art. 127 Abs. 2 des Steuergesetzbuchs ausgeübt wird.
(4) Im Fall der Errichtung unbeweglicher Gegenstände durch natürliche Personen mit dem Ziel des Verkaufs wird davon ausgegangen, dass die wirtschaftliche Tätigkeit zu dem Zeitpunkt beginnt, zu dem die betreffende natürliche Person beabsichtigt, eine solche Tätigkeit auszuüben, wobei ihre Absicht anhand objektiver Kriterien zu beurteilen ist, wie beispielsweise anhand des Umstands, dass sie Zahlungsverpflichtungen eingegangen ist und/oder Vorinvestitionen für die Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit vorgenommen hat. Die wirtschaftliche Tätigkeit gilt von ihrem Beginn an bis zur Lieferung des errichteten unbeweglichen Gegenstands oder von Teilen davon als nachhaltig, auch wenn es sich um einen einzigen unbeweglichen Gegenstand handelt.
(5) Im Fall des Erwerbs von Grundstücken und/oder Gebäuden durch eine natürliche Person mit dem Ziel des Verkaufs stellt die Lieferung dieser Gegenstände eine nachhaltige Tätigkeit dar, wenn die natürliche Person im Lauf eines Kalenderjahrs mehr als einen Umsatz tätigt. Führt die natürliche Person jedoch gemäß Abs. 4 bereits die Errichtung eines unbeweglichen Gegenstands mit dem Ziel des Verkaufs durch, erfolgt jeder weitere, später getätigte Umsatz, da die Tätigkeit bereits als begonnen und dauerhaft angesehen wird, nicht mehr gelegentlich. Auch wenn die erste Lieferung als gelegentlich gilt, wird sie, wenn im selben Jahr eine zweite Lieferung erfolgt, nicht besteuert, sondern bei der Berechnung der in Art. 152 des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Befreiungsgrenze berücksichtigt. Lieferungen von Gebäuden und Grundstücken, die nach Art. 141 Abs. 2 Buchst. f des Steuergesetzbuchs von der Steuer befreit sind, werden sowohl bei der Bestimmung der Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit als auch bei der Berechnung der in Art. 152 des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Befreiungsgrenze berücksichtigt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Im Jahr 2009 gewährte LN einem Dritten mehrere Darlehen in Höhe von insgesamt 80 400 Euro, die durch Grundpfandrechte an mehreren Immobilien gesichert waren. Da die Darlehen nicht zurückgezahlt werden konnten, wurden diese Immobilien versteigert, und LN erhielt für drei von ihnen den Zuschlag.
11 Im Jahr 2010 schloss LN zwei Kaufverträge ab, wobei der erste eine der in der vorstehenden Randnummer genannten drei Immobilien und der andere ein im Jahr 2005 erworbenes Grundstück betraf. Die beiden anderen Immobilien, die LN durch Zuschlag erhalten hatte, waren Gegenstand verschiedener Kaufverträge in den Jahren 2011 und 2012.
12 Im Jahr 2016 wurde anlässlich einer Steuerprüfung durch die AJFP Sibiu festgestellt, dass die ab dem Jahr 2010 bewirkten Umsätze am 30. Juni 2010 zur Erzielung von Einnahmen in Höhe von 611 364 RON (etwa 145 000 Euro) geführt hätten, so dass diese Umsätze als nachhaltige wirtschaftliche Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen eingestuft wurden. Die AJFP Sibiu ging daher davon aus, dass LN ab dem 10. Juli 2010 hätte mehrwertsteuerlich registriert werden müssen, weil die Umsatzgrenze von 35 000 Euro, unterhalb deren die besondere Befreiungsregelung nach Art. 152 Abs. 1 und 2 des Steuergesetzbuchs gelte, überschritten worden sei.
13 Die beiden im Jahr 2010 von LN verkauften Immobilien seien nicht für persönliche Zwecke verwendet worden, sondern zum Zweck des Weiterverkaufs zur Erzielung von Einnahmen erworben worden.
14 Hinsichtlich des Verkaufs im Jahr 2011 war die AJFP Sibiu der Ansicht, dass dieser mehrwertsteuerfrei sein müsse, da die Lieferung des entsprechenden Gegenstands nach dem 31. Dezember des auf den Erstbezug folgenden Jahres erfolgt sei. Im Hinblick auf den Verkauf im Jahr 2012 vertrat die Steuerbehörde hingegen die Auffassung, dass dieser Umsatz mehrwertsteuerpflichtig sei.
15 Unter diesen Umständen verlangte die AJFP Sibiu von LN mit Bescheid vom 28. März 2016 die Zahlung zusätzlicher Mehrwertsteuer sowie von Verzugszinsen und Säumniszuschlägen.
16 Der von LN gegen diesen Steuerbescheid eingelegte Einspruch wurde mit Entscheidung der DGRFP Brașov vom 8. November 2016 zurückgewiesen.
17 LN erhob beim Tribunalul Sibiu (Landgericht Sibiu, Rumänien) Klage, mit der er sich insbesondere gegen die Befugnis der Steuerverwaltung wandte, eine natürliche Person, die sich nicht freiwillig mehrwertsteuerlich habe registrieren lassen, zu besteuern, sowie dagegen, Rechtsgeschäfte des Immobilienverkaufs wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen.
18 Das Tribunalul Sibiu (Landgericht Sibiu) gab der Klage von LN statt. Es war nämlich der Ansicht, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit im Wesentlichen in der nachhaltigen Erzielung von Einnahmen bestehe, so dass der bloße Erwerb und Verkauf eines unbeweglichen Gegenstands für sich genommen keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen könnten. Darüber hinaus sei der spätere Verkauf der in einer Versteigerung erworbenen unbeweglichen Gegenstände im vorliegenden Fall bloß eine Modalität gewesen, die dem Beklagten des Ausgangsverfahrens zur Verfügung gestanden habe, um die Darlehen, die er im Jahr 2009 gewährt habe, beizutreiben.
19 Die Steuerverwaltung legte gegen dieses Urteil bei der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) ein Rechtsmittel ein.
20 Nach Ansicht dieses Gerichts stellt sich die Frage, ob das Rechtsgeschäft, mit dem ein Gläubiger, der mit Grundpfandrechten an Immobilien besicherte Darlehen gewährt hat, in einem Zwangsvollstreckungsverfahren den Zuschlag für diese Immobilien erhalten hat und diese sodann verkauft, als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie einzustufen ist, die als solche nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie der Mehrwertsteuer unterliegt. In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht auch, ob die Person, die dieses Rechtsgeschäft vorgenommen hat, als Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie anzusehen ist.
21 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Steht Art. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Einstufung des Umsatzes, mit dem ein Abgabenschuldner, der – als Gläubiger – in einem Zwangsvollstreckungsverfahren den Zuschlag für eine Immobilie erhält und diese nach einer gewissen Zeit verkauft, um den als Darlehen gewährten Betrag beizutreiben, als wirtschaftliche Tätigkeit in Form der Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen entgegen?
2. Kann die Person, die ein solches Rechtsgeschäft vorgenommen hat, als Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden?
Zu den Vorlagefragen
22 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass der Umsatz, bei dem eine Person den Zuschlag für eine Immobilie erhält, die in einem zur Beitreibung eines zuvor gewährten Darlehens eingeleiteten Zwangsvollstreckungsverfahren beschlagnahmt wurde, und die Immobilie später verkauft, eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, und ob diese Person in Bezug auf diesen Umsatz als Steuerpflichtiger anzusehen ist.
23 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsgeschäfte aus dem Verkauf von zuvor durch Zuschlag erworbenen Immobilien an einen Gläubiger, dem Darlehensgeber, im Anschluss an ein Zwangsversteigerungsverfahren aus Grundpfandrechten bestanden haben, die dessen Forderung gegenüber dem früheren Eigentümer der Immobilien besicherten.
24 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer zwar einen sehr weiten Anwendungsbereich zuweist, diese Steuer jedoch ausschließlich Tätigkeiten wirtschaftlicher Art betrifft. So unterliegen der Mehrwertsteuer nach Art. 2 dieser Richtlinie, der die steuerbaren Umsätze aufführt, neben der Einfuhr von Gegenständen innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger in einem Mitgliedstaat gegen Entgelt ausführt (Urteil vom 2. Juni 2016, Lajvér, C-263/15, EU:C:2016:392, Rn. 20 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Zudem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Begriff „Steuerpflichtiger“ in diesem Kontext unter Bezugnahme auf den Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert werden muss. Folglich rechtfertigt gerade, dass eine solche Tätigkeit vorliegt, die Einstufung als Steuerpflichtiger (vgl. entsprechend Urteil vom 15. September 2011, Słaby u. a., C-180/10 und C-181/10, EU:C:2011:589, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung), denn nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie ist Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort selbständig ausübt.
26 Der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ ist in Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie so definiert, dass er alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden umfasst, wobei diese Bestimmung zudem klarstellt, dass als solche Tätigkeit insbesondere „die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen“ gilt.
27 Der Begriff „Nutzung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bezieht sich nach ständiger Rechtsprechung entsprechend den Erfordernissen des Grundsatzes der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems auf alle Vorgänge, die – ungeachtet ihrer Rechtsform – darauf abzielen, aus dem betroffenen Gegenstand nachhaltig Einnahmen zu erzielen (Urteile vom 6. Oktober 2009, SPÖ Landesorganisation Kärnten, C-267/08, EU:C:2009:619, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. Juni 2016, Lajvér, C-263/15, EU:C:2016:392, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Hingegen können der bloße Erwerb und der bloße Verkauf eines Gegenstands keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellen, da das einzige Entgelt aus diesen Vorgängen in einem etwaigen Gewinn beim Verkauf des Gegenstands besteht (Urteil vom 15. September 2011, Słaby u. a., C-180/10 und C-181/10, EU:C:2011:589, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Ebenso kann die bloße Ausübung des Eigentumsrechts durch seinen Inhaber als solche nicht als wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2011, Słaby u. a., C-180/10 und C-181/10, EU:C:2011:589, Rn. 36, vom 9. Juli 2015, Trgovina Prizma, C-331/14, EU:C:2015:456, Rn. 23, und vom 13. Juni 2019, IO [Mehrwertsteuer – Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats], C-420/18, EU:C:2019:490, Rn. 29).
30 Zum einen geht im Hinblick auf die Kriterien, die zur Bestimmung, ob eine Tätigkeit eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, berücksichtigt werden können, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass es für die Unterscheidung zwischen der nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Tätigkeit eines für private Zwecke handelnden Wirtschaftsteilnehmers und der Tätigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers, dessen Umsätze eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellen, nicht auf die Zahl und den Umfang der Verkäufe ankommen kann (Urteile vom 15. September 2011, Słaby u. a., C-180/10 und C-181/10, EU:C:2011:589, Rn. 37, und vom 17. Oktober 2019, Paulo Nascimento Consulting, C-692/17, EU:C:2019:867, Rn. 25).
31 Zum anderen hat der Gerichtshof in Bezug auf den Verkauf eines Baugrundstücks bereits klargestellt, dass ein maßgebliches Beurteilungskriterium darin besteht, dass der Betroffene aktive Schritte zur Vermarktung von Grund und Boden unternommen und sich dabei ähnlicher Mittel bedient hat wie ein Erzeuger, Händler oder Dienstleistender. Derartige Initiativen erfolgen nämlich normalerweise nicht im Rahmen der Verwaltung von Privatvermögen, so dass die daraus resultierenden Umsätze nicht als bloße Ausübung des Eigentumsrechts angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, Trgovina Prizma, C-331/14, EU:C:2015:456, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). Solche Initiativen erfolgen vielmehr im Rahmen einer Tätigkeit, die zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen ausgeübt wird, und können somit als wirtschaftlich eingestuft werden.
32 Im Licht dieser Gesichtspunkte ist zu bestimmen, ob das Rechtsgeschäft, mit dem ein Gläubiger, der grundpfandrechtlich besicherte Darlehen für Immobilien gewährt hat und in einem Zwangsvollstreckungsverfahren den Zuschlag für diese Immobilien erhalten hat, diese nach einer gewissen Zeit verkauft, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt, oder ob es bloß zur Ausübung des Eigentumsrechts durch seinen Inhaber gehört.
33 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens im Jahr 2009 derselben natürlichen Person mehrere grundpfandrechtlich besicherte Darlehen für Immobilien gewährte und dass dem Gläubiger, da diese Darlehen nicht zurückgezahlt wurden, in einem Versteigerungsverfahren im selben Jahr der Zuschlag für drei dieser Immobilien erteilt wurde. In der Folge verkaufte der Gläubiger diese drei Immobilien in den Jahren 2010 bis 2012.
34 Aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen ergibt sich auch, dass erstens der Beklagte des Ausgangsverfahrens die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsgeschäfte vorgenommen hat, um sein Vermögen wiederherzustellen und seine Forderungen beizutreiben, nachdem die gewährten Darlehen nicht zurückgezahlt worden waren. Zweitens hat der Beklagte des Ausgangsverfahrens, der die Beitreibung seiner Forderungen und die Wiederherstellung seines Vermögens zum Ziel hat, keine aktiven Schritte zur Vermarktung von Grund und Boden unternommen und sich insbesondere keiner ähnlichen Mittel bedient wie ein Erzeuger, Händler oder Dienstleistender im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie.
35 Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen diese Umstände zu belegen, dass die Verkäufe der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Immobilien in Wirklichkeit zur bloßen Ausübung des Eigentumsrechts und der ordnungsgemäßen Verwaltung des Privatvermögens gehören und daher nicht in den Rahmen der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit fallen.
36 Ebenso wenig ist eine der anderen Angaben des vorlegenden Gerichts geeignet, den wirtschaftlichen Charakter der Tätigkeit des Beklagten des Ausgangsverfahrens im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie darzutun.
37 Daher kann der Auffassung der rumänischen Regierung, wonach der Umstand, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens selbst am Versteigerungsverfahren teilgenommen und die unbeweglichen Gegenstände, auf die sich die Grundpfandrechte bezögen, in diesem Verfahren erworben habe, ohne die Beitreibung der Darlehensbeträge durch die Zwangsvollstreckung aus den Sicherheiten seines Schuldners abzuwarten, bestätige, dass es eine Nutzung von körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen gegeben habe und der Beklagte des Ausgangsverfahrens somit als Mehrwertsteuerpflichtiger einzustufen sei, nicht gefolgt werden.
38 Dieser Umstand scheint nämlich vielmehr belegen zu können, dass der Verkauf der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Immobilien unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieser Umsätze, wie in den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Rahmen der Verwaltung des Privatvermögens des Beklagten des Ausgangsverfahrens stattgefunden hat.
39 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Rechtsgeschäfte des Beklagten des Ausgangsverfahrens zur Verwaltung von Privatvermögen gehören, da der Betreffende, wie aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen, deren Prüfung Sache des vorlegenden Gerichts ist, hervorgeht, erstens die Beitreibung seiner Forderungen und die Wiederherstellung seines Vermögens zum Ziel hatte und zweitens keine aktiven Schritte zur Vermarktung von Grund und Boden unternommen hat. Daraus folgt, dass der Betreffende in Bezug auf die Verkäufe der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Immobilien nicht als Mehrwertsteuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen ist, so dass diese Umsätze der Mehrwertsteuer nicht hätten unterworfen werden dürfen.
40 Vorsorglich sei noch klargestellt, dass der Ausgangsrechtsstreit, wie er vom vorlegenden Gericht dargestellt wird, und seine Vorlagefragen keine Immobilienverkäufe betreffen, die als unmittelbare Folge einer von LN ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit der Darlehensgewährung angesehen würden.
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass der Umsatz, bei dem eine Person den Zuschlag für eine Immobilie erhält, die in einem zur Beitreibung eines zuvor gewährten Darlehens eingeleiteten Zwangsvollstreckungsverfahren beschlagnahmt wurde, und diese Immobilie später verkauft, für sich genommen keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, wenn dieser Umsatz zur bloßen Ausübung des Eigentumsrechts und der ordnungsgemäßen Verwaltung des Privatvermögens gehört, so dass diese Person in Bezug auf diesen Umsatz nicht als Steuerpflichtiger angesehen werden kann.
Kosten
42 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass der Umsatz, bei dem eine Person den Zuschlag für eine Immobilie erhält, die in einem zur Beitreibung eines zuvor gewährten Darlehens eingeleiteten Zwangsvollstreckungsverfahren beschlagnahmt wurde, und diese Immobilie später verkauft, für sich genommen keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, wenn dieser Umsatz zur bloßen Ausübung des Eigentumsrechts und zur ordnungsgemäßen Verwaltung des Privatvermögens gehört, so dass diese Person in Bezug auf diesen Umsatz nicht als Steuerpflichtiger angesehen werden kann.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Rumänisch.