Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
9. September 2021(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 69 – Mehrwertsteueranspruch – Innergemeinschaftlicher Erwerb von Kraftstoffen – Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer – Art. 206 – Begriff ‚Vorauszahlungen‘ – Art. 273 – Genaue Erhebung der Mehrwertsteuer und Vermeidung von Steuerhinterziehung – Spielraum der Mitgliedstaaten“
In der Rechtssache C-855/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 17. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 22. November 2019, in dem Verfahren
G. sp. z o.o.
gegen
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der G. sp. z o.o., vertreten durch M. Kalinowski, radca prawny,
– des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski als Bevollmächtigte,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Siekierzyńska und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. März 2021
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 110 AEUV sowie der Art. 69, 206 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der G. sp. z o.o. und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Direktor der Finanzverwaltungskammer Bydgoszcz [Bromberg], Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) über eine Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 In Art. 62 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt
(1) als ‚Steuertatbestand‘ der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;
(2) als ‚Steueranspruch‘ der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“
4 Art. 68 dieser Richtlinie sieht vor:
„Der Steuertatbestand tritt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird.
Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen gilt als zu dem Zeitpunkt bewirkt, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände innerhalb des Mitgliedstaats als bewirkt gilt.“
5 Art. 69 dieser Richtlinie lautet:
„Beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen tritt der Steueranspruch bei der Ausstellung der Rechnung, oder bei Ablauf der Frist nach Artikel 222 Absatz 1, wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechnung ausgestellt worden ist, ein.“
6 Art. 206 dieser Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.“
7 In Art. 222 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Für Gegenstände, die unter den Voraussetzungen des Artikels 138 geliefert werden, oder für Dienstleistungen, für die nach Artikel 196 der Leistungsempfänger die Steuer schuldet, wird spätestens am fünfzehnten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist, eine Rechnung ausgestellt.
Für andere Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen können die Mitgliedstaaten den Steuerpflichtigen Fristen für die Ausstellung der Rechnung setzen.“
8 Art. 250 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.
…“
9 Art. 273 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“
Polnisches Recht
10 Art. 20 Abs. 5 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. von 2016, Position 710) in der zur Zeit des Sachverhalts geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Im Rahmen eines gemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen entsteht der Steueranspruch am Tag der Ausstellung der Rechnung durch den Steuerschuldner, jedoch spätestens am fünfzehnten Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Gegenstände erworben wurden …“
11 Nach Art. 99 Abs. 11a des Mehrwertsteuergesetzes ist der Steuerpflichtige im Fall des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Gegenständen im Sinne von Art. 103 Abs. 5a dieses Gesetzes verpflichtet, dem Leiter des für die Abrechnung der Verbrauchsteuer zuständigen Zollamts die für die monatlichen Zeiträume geschuldeten Steuerbeträge bis zum fünften Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Zahlungsverpflichtung entstanden ist, anzuzeigen.
12 Art. 103 Abs. 5a dieses Gesetzes lautet:
„Im Fall des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Kraftstoffen, die im Anhang 2 der Ustawa o podatku akcyzowym (Gesetz über die Verbrauchsteuern) vom 6. Dezember 2008 aufgeführt sind und deren Erzeugung oder Vertrieb einer Konzession nach den Vorschriften der Ustawa Prawo energetyczne (Energiegesetz) vom 10. April 1997 bedarf, ist der Steuerpflichtige verpflichtet, ohne Aufforderung durch den Leiter der Zollbehörde den Betrag der Steuer zu berechnen und auf das Konto der für die Verbrauchsteuer zuständigen Zollkammer
1) binnen fünf Tagen nach dem Eintreffen dieser Gegenstände bei der Empfangsstelle für verbrauchsteuerpflichtige Gegenstände, die in der betreffenden Genehmigung genannt wird, einzuzahlen, falls ein innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen im Sinne der Bestimmungen des [Gesetzes vom 6. Dezember 2008 über die Verbrauchsteuern] durch einen registrierten Empfänger unter Anwendung des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer vorliegt;
2) binnen fünf Tagen nach der Verbringung dieser Gegenstände aus dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats in ein Steuerlager einzuzahlen;
3) zum Zeitpunkt der Verbringung dieser Gegenstände ins Inland einzuzahlen, falls die Gegenstände nicht im Rahmen des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer befördert werden.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
13 Im Dezember 2016 führte G. 20 innergemeinschaftliche Erwerbe von Dieselkraftstoff des KN-Codes 2710 19 43 im Umfang von insgesamt 3 190 874 m3 durch.
14 Die Steuerbehörde stellte fest, dass die von G. durchgeführten innergemeinschaftlichen Erwerbe unter die zweite in Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Fallgestaltung fielen, nämlich die Verbringung der Gegenstände aus einem anderen Mitgliedstaat in ein Steuerlager.
15 G. zahlte die Mehrwertsteuer auf diese Erwerbe von insgesamt 1 530 766 polnischen Zlotys (PLN) (ungefähr 345 000 Euro) unter Verstoß gegen diese Bestimmung nicht binnen fünf Tagen ab der Einfuhr des Dieselkraftstoffs ins Inland. Zudem gab sie unter Verstoß gegen Art. 99 Abs. 11a dieses Gesetzes auch nicht bis zum fünften Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem die Zahlungsverpflichtung entstanden ist, eine Erklärung für den betreffenden Monatszeitraum ab.
16 Mit Bescheid vom 6. April 2018 verlangte die Steuerbehörde von G. im Rahmen einer Nacherhebung für den Monat Dezember 2016 die sofortige Zahlung der geschuldeten Mehrwertsteuer zuzüglich Zinsen, berechnet ab dem Tag, der auf den Tag der Fälligkeit der Zahlung folgt.
17 Mit Urteil vom 10. Juli 2018 wies der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Bydgoszczy (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Bydgoszcz [Bromberg], Polen) die von G. gegen diesen Bescheid erhobene Klage ab.
18 Der mit einer Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil befasste Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) stellt fest, dass Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes zu einer Reihe von Änderungen dieses Gesetzes mit Wirkung ab dem 1. August 2016 gehöre, mit denen die Erhebung der Mehrwertsteuer beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen verbessert und Mehrwertsteuerbetrug beim grenzüberschreitenden Handel mit Kraftstoffen verhindert werden solle.
19 Das vorlegende Gericht fragt sich zunächst, ob dieser Art. 103 Abs. 5a, soweit er für die Zahlung der Mehrwertsteuer auf innergemeinschaftliche Erwerbe von Kraftstoffen aus anderen Mitgliedstaaten kürzere Fristen als für innerstaatliche Erwerbe festlegt, mit Art. 110 AEUV vereinbar ist. Die den Mitgliedstaaten in Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumte Möglichkeit, Pflichten vorzusehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, könne nur vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze ausgeübt werden und nur, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führten.
20 Für den Fall, dass Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes weder gegen Art. 110 AEUV noch gegen Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen sollte, fragt sich das vorlegende Gericht, ob er mit Art. 69 dieser Richtlinie in Einklang steht, soweit er vorsieht, dass die Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen selbst vor der Entstehung der in diesem Art. 69 genannten Steuerschuld erhoben werden kann, wonach diese Schuld bei der Ausstellung der Rechnung entsteht oder, wenn bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechnung ausgestellt worden ist, spätestens am 15. Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.
21 Nach Ansicht dieses Gerichts hängt die Antwort auf diese Frage von der Natur der in Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes genannten Zahlungen ab. Wenn diese ein eigenständiges Mittel zur beschleunigten Erhebung der Mehrwertsteuer darstellten, liefe die Pflicht, die Steuer vor der Entstehung der Steuerschuld gemäß Art. 69 zu entrichten, diesen Bestimmungen zuwider, weil der Mehrwertsteueranspruch zu diesem Zeitpunkt keine Grundlage habe. Hingegen könnte die Pflicht, die Steuer vor Entstehung der Steuerschuld zu zahlen, mit dieser Bestimmung in Einklang stehen, wenn diese Zahlungen als eine „Vorauszahlung“ im Sinne von Art. 206 zweiter Satz am Ende der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen würden. Wenn ja, stelle sich die Frage, ob diese Vorauszahlung auf den Bruttobetrag der auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen geschuldeten Mehrwertsteuer berechnet werden könne, ohne das Recht auf Vorsteuerabzug des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.
22 Für den Fall, dass dem so ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob eine nicht fristgerecht geleistete Mehrwertsteuervorauszahlung im Sinne dieser Bestimmung mit Ablauf des steuerlichen Abrechnungszeitraums, für den sie entrichtet werden muss, ihre rechtliche Existenz verliert.
23 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stehen die Art. 110 AEUV und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht einer Bestimmung wie Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes entgegen, wonach der Steuerpflichtige im Fall des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Kraftstoffen verpflichtet ist, ohne Aufforderung durch den Leiter der Zollbehörde den Betrag der Steuer zu berechnen und auf das Konto der für die Verbrauchsteuer zuständigen Zollkammer
a) binnen fünf Tagen nach dem Eintreffen dieser Gegenstände bei der Empfangsstelle für verbrauchsteuerpflichtige Gegenstände, die in der betreffenden Genehmigung genannt wird, einzuzahlen, falls ein innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen im Sinne der Bestimmungen des Gesetzes vom 6. Dezember 2008 über die Verbrauchsteuern durch einen registrierten Empfänger unter Anwendung des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer vorliegt;
b) binnen fünf Tagen nach der Verbringung dieser Gegenstände aus dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats in ein Steuerlager einzuzahlen;
c) zum Zeitpunkt der Verbringung dieser Gegenstände ins Inland einzuzahlen, falls die Gegenstände nicht im Rahmen des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer befördert werden?
2. Steht Art. 69 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht einer Bestimmung wie Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes entgegen, der bestimmt, dass der Steuerpflichtige im Fall eines innergemeinschaftlichen Erwerbs von Kraftstoffen verpflichtet ist, ohne Aufforderung durch den Leiter der Zollbehörde den Betrag der Steuer zu berechnen und auf das Konto der für die Verbrauchsteuer zuständigen Zollkammer
a) binnen fünf Tagen nach dem Eintreffen dieser Gegenstände bei der Empfangsstelle für verbrauchsteuerpflichtige Gegenstände, die in der betreffenden Genehmigung genannt wird, einzuzahlen, falls ein innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen im Sinne der Bestimmungen des Gesetzes vom 6. Dezember 2008 über die Verbrauchsteuern durch einen registrierten Empfänger unter Anwendung des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer vorliegt;
b) binnen fünf Tagen nach der Verbringung dieser Gegenstände aus dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats in ein Steuerlager einzuzahlen;
c) zum Zeitpunkt der Verbringung dieser Gegenstände ins Inland einzuzahlen, falls die Gegenstände nicht im Rahmen des Verfahrens der Aussetzung der Verbrauchsteuer nach den Vorschriften über die Verbrauchsteuer befördert werden,
wenn sie dahin ausgelegt wird, dass der fragliche Betrag keine Mehrwertsteuervorauszahlung im Sinne von Art. 206 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt?
3. Verliert eine Mehrwertsteuervorauszahlung im Sinne von Art. 206 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die nicht fristgemäß geleistet wird, mit Ablauf des steuerlichen Abrechnungszeitraums, für den sie entrichtet werden muss, ihre rechtliche Existenz?
Zu den Vorlagefragen
24 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht als Erstes wissen, ob Art. 110 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, die eine Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen anordnet, bevor dieser Steueranspruch im Sinne von Art. 69 der Mehrwertsteuerrichtlinie eintritt. Als Zweites fragt das vorlegende Gericht, ob diese Richtlinie, insbesondere ihre Art. 69, 206 und 273, dahin auszulegen ist, dass sie einer solchen Bestimmung des nationalen Rechts entgegensteht. Außerdem fragt dieses Gericht zum einen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie gegebenenfalls dem Erfordernis entgegensteht, die auf einen solchen Erwerb geschuldete Mehrwertsteuer auf einer Bruttogrundlage zu berechnen, ohne das Recht auf Vorsteuerabzug zu berücksichtigen, und zum anderen, ob eine nicht fristgerecht geleistete Mehrwertsteuervorauszahlung im Sinne von Art. 206 dieser Richtlinie mit Ablauf des steuerlichen Abrechnungszeitraums, für den sie entrichtet werden muss, ihre rechtliche Existenz verliert.
25 Es sind zunächst die Fragen des vorlegenden Gerichts zu beantworten, mit denen es wissen möchte, ob die Art. 69, 206 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegenstehen, die eine Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen festlegt, bevor dieser Steueranspruch im Sinne dieses Art. 69 eintritt.
26 Art. 62 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert als „Steuertatbestand“ den Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden, während Nr. 2 dieses Artikels als „Steueranspruch“ den Anspruch auf Zahlung der Steuer definiert, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann. Zudem geht aus Art. 206 Satz 1 dieser Richtlinie hervor, dass die Zahlungspflicht grundsätzlich bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Art. 250 dieser Richtlinie entsteht.
27 Insoweit ist hervorzuheben, dass zwischen den Begriffen des Steuertatbestands und des Steueranspruchs im Sinne von Art. 62 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf der einen und dem Begriff der Entrichtung der Steuer auf der anderen Seite zu unterscheiden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Oktober 1993, Balocchi, C-10/92, EU:C:1993:846, Rn. 24).
28 Wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellen der Steuertatbestand, der Steueranspruch und die Zahlungspflicht somit drei aufeinanderfolgende Etappen in dem Prozess dar, der zur Erhebung der Steuer führt in dem Sinn, dass die Entstehung der Pflicht zur Zahlung der Mehrwertsteuer voraussetzt, dass der Steueranspruch entstanden ist, wobei dieser Steueranspruch wiederum davon abhängt, dass zuvor ein Steuertatbestand verwirklicht wurde.
29 Bei innergemeinschaftlichen Erwerben tritt gemäß Art. 68 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Steuertatbestand zwar zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird, der Steueranspruch nach Art. 69 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 222 aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich bei der Ausstellung der Rechnung oder spätestens am 15. Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist, falls vor diesem Zeitpunkt keine Rechnung ausgestellt wurde.
30 Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass im Rahmen der in Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes auf dem Gebiet des innergemeinschaftlichen Erwerbs von Kraftstoffen eingeführten Regelung der Steuertatbestand gemäß Art. 68 der Mehrwertsteuerrichtlinie eintritt, bevor die Mehrwertsteuervorauszahlung geschuldet wird, da diese Pflicht nach Einfuhr dieser Gegenstände in das nationale Hoheitsgebiet entsteht. Diese Pflicht wird jedoch offenbar auferlegt, bevor der Mehrwertsteueranspruch nach Art. 69 dieser Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 222 entsteht.
31 Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass Art. 103 Abs. 5a des Mehrwertsteuergesetzes die Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer unter Verstoß gegen diese letztgenannten Bestimmungen unabhängig von der Ausstellung einer Rechnung oder dem Ablauf der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Frist, mit deren Ablauf der Steueranspruch zwangsläufig entsteht, entstehen lässt.
32 Außerdem trifft es zwar zu, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 206 zweiter Satz der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Regel der Zahlung bei Abgabe der periodischen Erklärung abweichen und Vorauszahlungen erheben können; von dieser Möglichkeit darf jedoch nur Gebrauch gemacht werden, soweit sie eine Steuer betrifft, für die der Steueranspruch entstanden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Oktober 1993, Balocchi, C-10/92, EU:C:1993:846, Rn. 25 und 27).
33 Wie nämlich der Generalanwalt in den Nrn. 98 und 99 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schwächt Art. 206 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Grundsatz, der in Satz 1 dieser unter Titel XI, Kapitel 1 („Zahlungspflicht“) dieser Richtlinie fallenden Bestimmung aufgestellt wird (Zahlungspflicht bei Abgabe der Erklärung), zwar ab, doch kann dieser Artikel keine Ausnahme von den Art. 62 und 69 dieser Richtlinie, die unter den Titel VI („Steuertatbestand und Steueranspruch“) fallen, festlegen.
34 Folglich ist diese Bestimmung unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Möglichkeit, nach Art. 206 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie Vorauszahlungen zu erheben, den Mitgliedstaaten nicht gestattet, den Zeitpunkt, zu dem der Steueranspruch entsteht, vorzuverlegen, sondern nur den Zeitpunkt der Zahlung einer Steuer, für die der Steueranspruch bereits entstanden ist, dahin auszulegen, dass sie einer Bestimmung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Zahlung der Mehrwertsteuer anordnet, bevor der Steueranspruch gemäß Art. 69 dieser Richtlinie entstanden ist.
35 Dieses Ergebnis kann nicht durch Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Frage gestellt werden, in dem es heißt, dass die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Einhaltung bestimmter dort aufgezählter Voraussetzungen weitere Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Denn die Mitgliedstaaten verfügen zwar über einen Spielraum hinsichtlich der Mittel zur Erreichung dieser Ziele, sie sind jedoch verpflichtet, ihre Befugnisse in diesem Bereich unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Grupa Warzywna, C-935/19, EU:C:2021:287, Rn. 25 und 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Daher kann eine Bestimmung des nationalen Rechts nur dann als mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar angesehen werden, wenn sie u. a. die anderen Bestimmungen dieser Richtlinie beachtet.
37 Infolgedessen ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 69, 206 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegenstehen, die eine Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen anordnet, bevor dieser Steueranspruch im Sinne dieses Art. 69 eintritt.
38 In Anbetracht dieser Antwort brauchen die anderen Teile der Vorlagefragen, die die Auslegung von Art. 110 AEUV und weitere Aspekte der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie betreffen, nicht beantwortet zu werden.
Kosten
39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 69, 206 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegenstehen, die eine Pflicht zur Vorauszahlung der Mehrwertsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kraftstoffen anordnet, bevor dieser Steueranspruch im Sinne dieses Art. 69 eintritt.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Polnisch.