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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

18. März 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 203 – Zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuern – Guter Glaube des Ausstellers der Rechnung – Gefährdung des Steueraufkommens – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die Möglichkeit einer Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Steuer vorzusehen – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C-48/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 15. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2020, in dem Verfahren

UAB „P.“

gegen

Dyrektor Izby Skarbowej w B.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der UAB „P.“, vertreten durch D. Kosacka, doradca podatkowy,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Gossement und J. Szczodrowski als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UAB „P.“ (im Folgenden: P.) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w B. (Direktor der Finanzkammer B., Polen) wegen der Zahlung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 203 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“

 Polnisches Recht

4        Art. 108 Abs. 1 des Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2004, Nr. 54, Pos. 535) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (Dz. U. 2016, Pos. 710) (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

„Wenn eine juristische Person, eine Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit oder eine natürliche Person eine Rechnung ausstellt, in der sie den Steuerbetrag ausweist, ist sie verpflichtet, diesen abzuführen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

5        P. ist eine Gesellschaft mit Sitz in Litauen, die litauischen Transportunternehmen Tankkarten zur Verfügung stellte, die es diesen Unternehmen ermöglichten, sich bei bestimmten Tankstellen in Polen mit Kraftstoff zu versorgen.

6        Da P. der Ansicht war, ihre Geschäftstätigkeit bestehe darin, Kraftstoff von polnischen Tankstellen zu erwerben, um ihn anschließend mittels Tankkarten an litauische Transportunternehmen weiterzuverkaufen, stellte sie Rechnungen über die Lieferung von Kraftstoff an diese Unternehmen aus, in denen sie einen Mehrwertsteuerbetrag auswies.

7        Mit Bescheid vom 27. Juni 2014 stellte der Naczelnik Urzędu Skarbowego w Białymstoku (Leiter des Finanzamts Białystok, Polen) eine Mehrwertsteuerschuld von P. für den Zeitraum von März bis Dezember 2011, eine Überzahlung für den Zeitraum von März bis Juni 2011 sowie einen nach Art. 108 des Mehrwertsteuergesetzes zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag fest. Außerdem war er der Ansicht, dass P. nicht zum Abzug der Vorsteuer aus den Rechnungen, die ihr von Tankstellenbetreibern für den Einkauf von Kraftstoff ausgestellt worden seien, berechtigt sei.

8        P. legte gegen diesen Bescheid Einspruch beim Dyrektor Izby Skarbowej w B. (Direktor der Finanzkammer B., Polen) ein.

9        Mit Bescheid vom 2. Oktober 2014 hob der Direktor der Finanzkammer B. die Entscheidung des Leiters des Finanzamts Białystok vom 27. Juni 2014 mit der Begründung auf, dass dieser den Ort der Besteuerung der Tätigkeiten der Klägerin des Ausgangsverfahrens unter Verstoß gegen die Bestimmungen des Mehrwertsteuergesetzes festgesetzt habe. Außerdem entschied er in der Sache, indem er die mehrwertsteuerrechtlichen Verpflichtungen von P. festsetzte.

10      In seinem Bescheid vom 2. Oktober 2014 bestätigte der Direktor der Finanzkammer B. die Ansicht des Leiters des Finanzamts Białystok, dass P in Polen weder Kraftstoff erworben noch geliefert habe. Der Kraftstoff sei von den polnischen Tankstellen unmittelbar an die litauischen Transportunternehmen geliefert worden, die sich mittels der bei P. gekauften Tankkarten an diesen Tankstellen versorgt hätten und dabei über eine völlige Wahlfreiheit verfügten, insbesondere was Menge und Art des Kraftstoffs angehe. Die tatsächliche Tätigkeit von P. habe somit darin bestanden, den Erwerb von Kraftstoff an diesen Tankstellen durch die litauischen Transportunternehmen unter Verwendung von Tankkarten zu finanzieren. Diese Tätigkeit stelle eine Finanzdienstleistung dar, die in Polen nach dem Mehrwertsteuergesetz von der Mehrwertsteuer befreit sei.

11      Da im Übrigen die von P. ausgestellten Rechnungen nicht den tatsächlichen Ablauf ihrer Tätigkeiten widerspiegelten, bestätigte der Direktor der Finanzkammer B. auch, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens kein Recht auf Abzug der in den von den Tankstellen ausgestellten Rechnungen ausgewiesenen Vorsteuer habe. Weiter verpflichteten die von P. ausgestellten Verkaufsrechnungen diese gemäß dem Mehrwertsteuergesetz zur Zahlung der darin ausgewiesenen Mehrwertsteuer.

12      P. erhob gegen den Bescheid des Direktors der Finanzkammer B. Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Białymstoku (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Białystok, Polen), das diesen Bescheid mit Urteil vom 7. April 2015 aufhob.

13      Der Direktor der Finanzkammer B. legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) ein.

14      Mit Urteil vom 17. Februar 2017 hob dieses Gericht das Urteil des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Białymstoku (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Białystok) vom 7. April 2015 auf, da es der Ansicht war, dass dieses Gericht auf der Grundlage der ihm übermittelten Akten hätte prüfen müssen, ob die Steuerbehörden zutreffend angenommen hätten, dass die Ausstellung der Rechnungen durch P. die Gefahr von Steuerausfällen für den Staat herbeigeführt habe, und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Prüfung an das Woiwodschaftsverwaltungsgericht zurück.

15      Mit Urteil vom 19. Juli 2017 wies das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Białymstoku (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Białystok) die Klage von P. mit der Begründung ab, dass eine Gefahr von Steuerausfällen für den Staat bestanden habe.

16      P. legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. Unter Berufung auf die Urteile vom 6. Februar 2003, Auto Lease Holland (C-185/01, EU:C:2003:73), und vom 15. Mai 2019, Vega International Car Transport and Logistic (C-235/18, EU:C:2019:412), weist dieses Gericht darauf hin, dass die tatsächliche Tätigkeit von P. darin bestanden habe, den Erwerb von Kraftstoff durch ihre litauischen Kunden an Tankstellen mit Tankkarten zu finanzieren, und dass sie sich folglich darauf beschränkt habe, Finanzdienstleistungen an litauische Einrichtungen zu erbringen, die in Polen nicht mehrwertsteuerpflichtig seien.

17      Es sei jedoch nicht erwiesen, dass das Verhalten von P. und ihren Vertragspartnern Steuerhinterziehung oder -missbrauch darstelle. Aufgrund einer Praxis der polnischen Steuerbehörden seien Umsätze wie die von P. getätigten als Reihengeschäft, bei dem es um die Lieferung von Kraftstoff an Transportunternehmen gehe, eingestuft worden. Nach dieser Praxis habe jeder Teilnehmer an der Kraftstoffversorgungskette eine entgeltliche Lieferung von Gegenständen vorgenommen, nämlich Kraftstoff, obwohl in Wirklichkeit nur eine einzige physische Lieferung von Gegenständen stattgefunden habe.

18      So führt das vorlegende Gericht aus, P. habe sich auf der Grundlage dieser Praxis als Beteiligte eines Reihengeschäfts sehen können, nämlich als Erwerberin des Kraftstoffs an Tankstellen, um ihn an litauische Transportunternehmen weiterzuverkaufen. Diese Unternehmen erhielten von P. Rechnungen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer für den Kraftstoff und konnten in Polen die Erstattung dieser Steuer beantragen.

19      Das vorlegende Gericht stellt außerdem klar, da der Ausgangsrechtsstreit Mehrwertsteuererklärungen von P. für Zeiträume betreffe, in denen die polnischen Steuerbehörden der betreffenden nationalen Praxis gefolgt seien, habe P. der Auslegung der Vorschriften des Mehrwertsteuergesetzes durch diese Behörden im Rahmen der Steuervorbescheide vertrauen dürfen.

20      Das vorlegende Gericht führt aus, dass P., auch wenn sie in gutem Glauben gehandelt habe, im Jahr 2011 fehlerhafte Rechnungen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer an die litauischen Transportunternehmen ausgestellt habe und dass demnach formell die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 108 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes erfüllt seien, der der Umsetzung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112 diene.

21      Es weist aber darauf hin, dass der Rechnungsaussteller, wenn er im guten Glauben gehandelt habe, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Gewährleistung der Neutralität der Mehrwertsteuer die Möglichkeit haben müsse, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer nach einem Verfahren zu berichtigen, das der Mitgliedstaat dafür vorgesehen habe. Da die polnischen Rechtsvorschriften jedoch kein solches Verfahren vorsähen, wenn gegen den Betroffenen bereits ein Steuerverfahren eingeleitet worden sei, stellt das vorlegende Gericht fest, dass P. keine Möglichkeit gehabt habe, die auf den Rechnungen an die litauischen Transportunternehmen zu Unrecht ausgewiesene Mehrwertsteuer zu berichtigen.

22      Wären im Übrigen die Umsätze zwischen den Tankstellen, P. und den litauischen Transportunternehmen ordnungsgemäß der Mehrwertsteuer unterworfen worden, wären diesen Transportunternehmen nicht die von P. ausgestellten Rechnungen, in denen die Mehrwertsteuer zu Unrecht ausgewiesen worden sei, sondern Rechnungen der Tankstellen für die Lieferung von Kraftstoff ausgestellt worden, in denen ein Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen worden wäre, der demjenigen ähnlich sei, der in den von P. ausgestellten Rechnungen ausgewiesen worden sei.

23      Die ordnungsgemäße Erklärung dieser Umsätze durch die Beteiligten hätte es den litauischen Transportunternehmen ebenfalls ermöglicht, die Erstattung der Steuer zu verlangen, die in den durch die Tankstellen ausgestellten Rechnungen ausgewiesen worden sei, was zeige, dass die Ausstellung der Rechnungen durch P., in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen worden sei, keine Gefährdung des Steueraufkommens des Staats darstelle. Dagegen habe die Anwendung von Art. 108 des Mehrwertsteuergesetzes auf die von P. ausgestellten Rechnungen, obwohl die Lieferung von Kraftstoff durch die Tankstellen ebenfalls mehrwertsteuerpflichtig sei, zur Folge, dass auf ein und denselben Umsatz doppelt Mehrwertsteuer erhoben werde.

24      Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 203 der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren der Anwendung einer nationalen Bestimmung wie Art. 108 Abs. 1 des [Mehrwertsteuergesetzes] auf Rechnungen mit zu Unrecht ausgewiesener Mehrwertsteuer, die der Steuerpflichtige im guten Glauben ausgestellt hat, entgegenstehen, wenn

–        die Handlung des Steuerpflichtigen keine Steuerhinterziehung darstellt, sondern auf einer falschen Auslegung der Rechtsvorschriften beruht, die die Parteien, die an dem Umsatz beteiligt waren, unter Zugrundelegung der Gesetzesauslegung, die die Steuerbehörden vertreten haben, und der allgemeinen diesbezüglichen Praxis zum Zeitpunkt der Tätigung des Umsatzes vorgenommen haben, wobei sie fälschlicherweise davon ausgingen, dass der Rechnungssteller eine Lieferung von Gegenständen vornimmt, während er in Wirklichkeit eine Finanzdienstleistung erbringt, die von der Mehrwertsteuer befreit ist, und

–        der Empfänger der Rechnung mit der zu Unrecht ausgewiesenen Mehrwertsteuer ihre Erstattung fordern könnte, wenn der Umsatz durch einen Steuerpflichtigen, der tatsächlich eine Lieferung von Gegenständen an ihn vornimmt, ordnungsgemäß in Rechnung gestellt worden wäre?

 Zur Vorlagefrage

25      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 203 der Richtlinie 2006/112 und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem im guten Glauben handelnden Steuerpflichtigen nicht erlaubt, nach Einleitung eines Steuerprüfverfahrens Rechnungen zu berichtigen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, obwohl der Empfänger dieser Rechnungen einen Anspruch auf Erstattung dieser Steuer gehabt hätte, wenn die Umsätze, die Gegenstand dieser Rechnungen waren, ordnungsgemäß erklärt worden wären.

26      Nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 wird die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist. Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet wird, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (Urteil vom 8. Mai 2019, EN.SA., C-712/17, EU:C:2019:374, Rn. 26).

27      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass diese Bestimmung einer Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken soll, die sich aus dem Recht auf Vorsteuerabzug nach dieser Richtlinie ergeben kann (Urteil vom 11. April 2013, Rusedespred, C-138/12, EU:C:2013:233, Rn. 24).

28      In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten zwar Maßnahmen erlassen dürfen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, diese Maßnahmen jedoch nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, und daher nicht so eingesetzt werden dürfen, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom 11. April 2013, Rusedespred, C-138/12, EU:C:2013:233, Rn. 28 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer soll den Steuerpflichtigen im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit vollständig von der Mehrwertsteuer entlasten. Dieses System gewährleistet daher eine völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C-835/18, EU:C:2020:520, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Was insbesondere die Erstattung von fälschlich in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2006/112 keine Bestimmung über die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Aussteller der Rechnung enthält und dass es unter diesen Umständen grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C-835/18, EU:C:2020:520, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung der Neutralität der Mehrwertsteuer in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die Möglichkeit vorzusehen, jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer zu berichtigen, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist (Urteil vom 2. Juli 2020, Terracult, C-835/18, EU:C:2020:520, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Diese Lösung ist insbesondere auf eine Situation anwendbar, in der der Steuerpflichtige in gutem Glauben gehandelt hat, als er Rechnungen mit zu Unrecht ausgewiesener Mehrwertsteuer ausgestellt hat, soweit er unter Berufung auf eine ständige Praxis der polnischen Steuerbehörden davon ausgegangen ist, dass die Zurverfügungstellung von Tankkarten an Wirtschaftsteilnehmer, die es diesen ermöglicht, sich an Tankstellen mit Kraftstoff zu versorgen, keine in Polen von der Mehrwertsteuer befreite Finanzdienstleistung darstellt, sondern eine Lieferung von Gegenständen, die in diesem Mitgliedstaat der Mehrwertsteuer unterliegt.

33      Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass das polnische Recht zwar grundsätzlich ein Verfahren vorsieht, das die Berichtigung zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch einen in gutem Glauben handelnden Steuerpflichtigen ermöglicht, dieses Verfahren jedoch nicht anwendbar ist, wenn gegen den Betroffenen eine Steuerprüfung eingeleitet worden ist.

34      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Weigerung, die Möglichkeit einzuräumen, an Transportunternehmen ausgestellte Rechnungen für Kraftstoff, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, zu berichtigen, obwohl die an Tankstellen erfolgten Kraftstofflieferungen an diese Transportunternehmen ebenfalls der Mehrwertsteuer unterliegen, darauf hinausliefe, der Klägerin des Ausgangsverfahrens unter Missachtung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer eine Steuerlast aufzuerlegen.

35      Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 203 der Richtlinie 2006/112 und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem im guten Glauben handelnden Steuerpflichtigen nicht erlaubt, nach Einleitung eines Steuerprüfverfahrens Rechnungen zu berichtigen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, obwohl der Empfänger dieser Rechnungen einen Anspruch auf Erstattung dieser Steuer gehabt hätte, wenn die Umsätze, die Gegenstand dieser Rechnungen waren, ordnungsgemäß erklärt worden wären.

 Kosten

36      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem im guten Glauben handelnden Steuerpflichtigen nicht erlaubt, nach Einleitung eines Steuerprüfverfahrens Rechnungen zu berichtigen, in denen zu Unrecht Mehrwertsteuer ausgewiesen wird, obwohl der Empfänger dieser Rechnungen einen Anspruch auf Erstattung dieser Steuer gehabt hätte, wenn die Umsätze, die Gegenstand dieser Rechnungen waren, ordnungsgemäß erklärt worden wären.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.