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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

11. November 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Art. 199 – Reverse-Charge-Verfahren – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Materielle Bedingungen des Rechts auf Vorsteuerabzug – Steuerpflichtigeneigenschaft des Lieferers – Beweislast – Steuerhinterziehung – Missbräuchliche Praxis – Rechnung, in der ein fiktiver Lieferer angegeben ist“

In der Rechtssache C-281/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 11. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2020, in dem Verfahren

Ferimet SL

gegen

Administración General del Estado

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter) und M. Ilešič,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Ferimet SL, vertreten durch M. A. Montero Reiter, procurador, und F. Juanes Ródenas, abogado,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1), gegebenenfalls in Verbindung mit weiteren Bestimmungen der Richtlinie, und des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ferimet SL und der Administración General del Estado (Allgemeine Verwaltung des Staates, Spanien) über das Recht auf Vorsteuerabzug für eine im Jahr 2008 bewirkte Lieferung von recyclingfähigen Materialien.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

4        Art. 168 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

5        Art. 178 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)      für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;

f)      hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.“

6        Art. 199 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:

d)      Lieferung von Gebrauchtmaterial, auch solchem, das in seinem unveränderten Zustand nicht zur Wiederverwendung geeignet ist, Schrott, von gewerblichen und nichtgewerblichen Abfallstoffen, recyclingfähigen Abfallstoffen und teilweise verarbeiteten Abfallstoffen, und gewissen in Anhang VI aufgeführten Gegenständen und Dienstleistungen;

…“

7        Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

 Spanisches Recht

8        Art. 84 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c der Ley 37/1992 del Impuesto sobre el Valor Añadido (Gesetz über die Mehrwertsteuer) vom 28. Dezember 1992 (BOE Nr. 312 vom 29. Dezember 1992, S. 44247) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über die Mehrwertsteuer) sieht vor, dass Gewerbetreibende oder sonstige selbständig Berufstätige, an die besteuerte Umsätze bewirkt werden, der Mehrwertsteuerpflicht unterliegen, wenn es sich um Lieferungen von gewerblichen Abfallstoffen, von Gussabfällen und -ausschusswaren, von Abfällen und anderen recyclingfähigen Materialen aus Eisen und anderen Metallen oder aus ihren Legierungen, von Schlacken sowie von Aschen und Industrieabfällen handelt, die Metalle oder Legierungen enthalten.

9        Nach Art. 92 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die Mehrwertsteuer können Steuerpflichtige von der auf inländische steuerpflichtige Umsätze anfallenden Mehrwertsteuer die Vorsteuer abziehen, die ebenfalls im Inland angefallen ist und die sie im Wege der Abwälzung getragen oder für Lieferungen von Gegenständen entrichtet haben, die in Art. 84 Abs. 1 Nr. 2 dieses Gesetzes aufgeführt sind.

10      Art. 97 des Gesetzes über die Mehrwertsteuer bestimmt:

„1.      Gewerbetreibende oder sonstige selbständig Berufstätige können das Recht auf Vorsteuerabzug nur ausüben, wenn sie im Besitz des Dokuments sind, das ihre Vorsteuerabzugsberechtigung nachweist.

Zu diesem Zweck gelten nur folgende Dokumente als Nachweise für die Vorsteuerabzugsberechtigung:

4°      die vom Steuerpflichtigen in den Fällen des Art. 165 Abs. 1 dieses Gesetzes ausgestellte Rechnung. …

2.      Vorhergehende Dokumente, die nicht sämtliche durch Gesetz oder Verordnung vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllen, begründen kein Recht auf Vorsteuerabzug. …

…“

11      Nach Art. 165 Abs. 1 des Gesetzes über die Mehrwertsteuer ist „[in] den in Art. 84 Abs. 1 Nr. 2 … dieses Gesetzes genannten Fällen … der Rechnung, die vom Lieferer der betreffenden Gegenstände bzw. dem Erbringer der betreffenden Dienstleistungen ausgestellt worden ist, oder dem buchhalterischen Nachweis für den Umsatz ein Rechnungsbeleg mit dem Ausweis der Steuer beizufügen. Dieser Beleg hat den durch Verordnung festgelegten Bedingungen zu entsprechen“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

12      Ferimet erwarb ihrem eigenen Vorbringen zufolge im Jahr 2008 von der Gesellschaft Reciclatges de Terra Alta recyclingfähige Materialien (Alteisen), wobei sie angab, dass der Umsatz dem Reverse-Charge-Verfahren unterliege, und den entsprechenden Rechnungsbeleg erstellte.

13      Bei einer Kontrolle stellte die Inspección de los Tributos (Steuerinspektion, Spanien) u. a. fest, dass das in der Rechnung als Lieferer der genannten Materialien ausgewiesene Unternehmen tatsächlich nicht über die für deren Lieferung erforderlichen materiellen und personellen Mittel verfügte, und befand, dass die von Ferimet ausgestellten Rechnungen als unrichtig anzusehen seien. Zwar seien die in Rede stehenden Materialien unbestrittenermaßen geliefert worden, doch stelle der fragliche Umsatz ein Scheingeschäft dar, weil der wirkliche Lieferer der Materialien absichtlich verheimlicht worden sei. Die Steuerinspektion entschied daher, dass für diesen Umsatz kein Vorsteuerabzug zu gestatten sei, und erließ für das Steuerjahr 2008 einen Steuerbescheid über 140 441,71 Euro, verbunden mit einer Geldbuße in Höhe von 140 737,68 Euro.

14      Nachdem das Tribunal Económico-Administrativo Regional de Cataluña (Unabhängige Regionale Einspruchsstelle der Finanzverwaltung von Katalonien, Spanien) den von Ferimet gegen diesen Steuerbescheid und diese Geldbuße gerichteten Rechtsbehelf zurückgewiesen hatte, focht Ferimet diese abweisende Entscheidung beim Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien, Spanien) an. Vor dem genannten Obergericht machte Ferimet geltend, dass nachgewiesen sei, dass der Kauf der betreffenden recyclingfähigen Materialien nicht nur zum Schein erfolgt sei, dass die Angabe eines fiktiven Lieferers auf einer Rechnung ein reines Formerfordernis betreffe, da der Erwerb tatsächlich erfolgt sei, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nicht versagt werden dürfe, wenn der Nachweis für den Umsatz erbracht worden sei, und dass das im vorliegenden Fall angewandte Reverse-Charge-Verfahren nicht nur die Erhebung der Mehrwertsteuer und deren Kontrolle gewährleiste, sondern auch das Nichtvorliegen jedweden Steuervorteils für den Steuerpflichtigen.

15      Mit einem Urteil vom 23. November 2017 wies das Tribunal Superior de Justicia de Cataluña (Obergericht Katalonien) den Rechtsbehelf von Ferimet mit der Begründung zurück, dass die Steuerinspektion die Verheimlichung des Lieferers hinreichend dargetan habe und dass dessen Nennung nicht als bloße Förmlichkeit angesehen werden könne, da hierin ein Gesichtspunkt bestehe, der die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Mehrwertsteuerkette ermögliche, und da diese Angabe daher den Grundsatz der Neutralität der Steuer betreffe. Zwar führe das Reverse-Charge-Verfahren grundsätzlich nicht zu einem Verlust von Steuereinnahmen, doch hänge das Recht auf Vorsteuerabzug von der Erfüllung materieller Bedingungen ab, zu denen gehöre, dass die angegebene Person auch tatsächlich der Lieferer sei.

16      Daraufhin legte Ferimet beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein, vor dem sie vorträgt, dass auf der Grundlage des nationalen und des europäischen Rechts sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofs notwendigerweise anzunehmen sei, dass sie die den Erwerb der in Rede stehenden recyclingfähigen Materialien betreffende Mehrwertsteuer habe abziehen dürfen. Sie macht insoweit geltend, dass sie deren wirklicher Empfänger gewesen sei, dass sie diese tatsächlich gekauft und erhalten habe und dass es keinen Verlust von Steuereinnahmen gegeben habe oder habe geben können, weil weder sie noch ihr Lieferer Mehrwertsteuer geschuldet hätten, da für sie das Reverse-Charge-Verfahren gegolten habe.

17      Die spanische Regierung macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass die in einer Rechnung enthaltene Angabe eines fiktiven Lieferers zeige, dass es sich um ein Scheingeschäft handele, dass bei der Verheimlichung der Identität des wahren Lieferers davon auszugehen sei, dass diese Verheimlichung mit einer Hinterziehung der Mehrwertsteuer und der direkten Steuern verbunden sei, und dass Ferimet das von ihr geltend gemachte Nichtvorliegen eines Steuervorteils nicht dargetan habe.

18      Das vorlegende Gericht führt aus, dass es in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit darum gehe, ob es möglich sei, die Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen, die Ferimet selbst durch Ausstellung einer Rechnung im Reverse-Charge-Verfahren weitergegeben habe und mit der sie belastet worden sei, während der fragliche Umsatz zwar tatsächlich bewirkt worden sei, der wahre Lieferer der genannten recyclingfähigen Materialien aber durch Angabe eines fiktiven oder inexistenten Lieferers in der Rechnung verheimlicht worden sei.

19      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist in diesem Rechtsstreit erstens zu klären, ob die Angabe des Lieferers der betreffenden Gegenstände eine rein formale Bedingung des Rechts auf Vorsteuerabzug darstellt, zweitens, welche Folgen die Angabe einer falschen Identität des Lieferers und die Kenntnis des Erwerbers von der Wahrheitswidrigkeit dieser Angabe haben, und drittens, ob der Rechtsprechung des Gerichtshofs zwangsläufig zu entnehmen ist, dass der Vorsteuerabzug auch im Fall von Bösgläubigkeit nur dann versagt werden darf, wenn für den Mitgliedstaat eine Gefährdung des Steueraufkommens besteht, obgleich nach dem Reverse-Charge-Verfahren der Steuerpflichtige dem Fiskus grundsätzlich keine Mehrwertsteuer schuldet.

20      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs impliziere nicht zwangsläufig, dass das Recht auf Vorsteuerabzug niemals versagt werden dürfe, wenn das Reverse-Charge-Verfahren angewandt werde und erwiesen sei, dass die Lieferung der betreffenden Gegenstände tatsächlich erfolgt sei und der Steuerpflichtige sie erworben habe. Aus dieser Rechtsprechung ergebe sich ebenso wenig, dass die Angabe eines Lieferers auf der Rechnung eine rein formale Angabe sei, die keine Bedeutung für die Ausübung dieses Rechts habe, wenn der betreffende Umsatz tatsächlich bewirkt worden sei.

21      Ferner stellt das vorlegende Gericht zu der Frage des Steuervorteils, der eine Bedingung für die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug sei, fest, dass sich aus der genannten Rechtsprechung nicht ergebe, dass dieser Vorteil nur den Steuerpflichtigen betreffe, der den Vorsteuerabzug begehre, und nicht gegebenenfalls andere Beteiligte an dem zu diesem Abzug führenden Umsatz. Bei der Frage, ob im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ein Steuerpflichtiger das Abzugsrecht geltend machen könne, sei das Verhalten des Lieferers nicht notwendigerweise außer Acht zu lassen, insbesondere wenn Gefahren für die direkte Besteuerung bestehen könnten.

22      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind Art. 168 und die mit ihm zusammenhängenden Vorschriften der Richtlinie 2006/112, der sich daraus ergebende Grundsatz der steuerlichen Neutralität und die zu dieser Richtlinie ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass sie den Abzug der bezahlten Vorsteuer Unternehmern nicht gestatten, die im Reverse-Charge-Verfahren den Nachweis (Rechnung) des Umsatzes, eines Erwerbs von Gegenständen, in der Weise ausstellen, dass sie in diesen einen fiktiven Lieferer aufnehmen, auch wenn unstreitig ist, dass der Erwerb seitens des betreffenden Unternehmers tatsächlich stattgefunden hat und dass dieser die gekauften Materialien für seinen Handels- bzw. Geschäftsbetrieb erworben hat?

2.      Sollte eine Praxis wie die beschriebene – bei der davon auszugehen ist, dass sie dem Betroffenen bekannt war – als missbräuchlich oder betrügerisch eingeordnet und somit als Grund für den Ausschluss des Vorsteuerabzugs angesehen werden können, ist es für diesen Ausschluss dann notwendig, einen Steuervorteil nachzuweisen, der mit den Zwecken der Mehrwertsteuerregelung nicht vereinbar ist?

3.      Schließlich, sollte ein solcher Nachweis notwendig sein, ist dann hinsichtlich des Steuervorteils, der die Verweigerung des Vorsteuerabzugs gestatten würde und in jedem Einzelfall gesondert festzustellen wäre, ausschließlich auf den Steuerpflichtigen selbst (d. h. den Erwerber der Gegenstände) abzustellen, oder kommt auch ein Vorteil bei anderen am Geschäft Beteiligten in Betracht?

 Zu den Vorlagefragen

23      Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass einem Steuerpflichtigen die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen entfallenden Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige bewusst einen fiktiven Lieferer in der Rechnung angegeben hat, die er selbst für diesen Umsatz im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ausgestellt hat.

24      Das vorlegende Gericht möchte zunächst wissen, ob die Angabe des Lieferers in der Rechnung über die Gegenstände, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, eine rein formale Bedingung darstellt. Sodann möchte es wissen, welche Folgen es für die Ausübung dieses Rechts hat, dass der Steuerpflichtige den wahren Lieferer dieser Gegenstände in einem Fall verheimlicht, in dem deren tatsächliche Lieferung und Verwendung auf einer nachfolgenden Umsatzstufe von dem Steuerpflichtigen für seine besteuerten Umsätze nicht bestritten sind. Schließlich möchte es wissen, ob die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug dem bösgläubigen Steuerpflichtigen nur dann versagt werden kann, wenn für den betreffenden Mitgliedstaat eine Gefährdung des Steueraufkommens und für diesen Steuerpflichtigen oder für andere an dem betreffenden Umsatz Beteiligte ein Steuervorteil besteht.

25      Zunächst ist festzustellen, dass es in den Vorlagefragen nur um die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug und nicht darum geht, ob unter den vom vorlegenden Gericht angeführten Umständen gegen den betreffenden Steuerpflichtigen eine finanzielle Sanktion wegen Verstoßes gegen bestimmte Anforderungen der Richtlinie 2006/112 zu verhängen ist oder ob eine solche Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

26      Daher ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug der Einhaltung sowohl materieller als auch formaler Bedingungen unterliegt. Hinsichtlich der materiellen Bedingungen ist es, um dieses Recht geltend machen zu können, nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 zum einen erforderlich, dass der Betroffene „Steuerpflichtiger“ im Sinne der Richtlinie ist. Zum anderen ist es erforderlich, dass die zur Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sind und dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe von dem Steuerpflichtigen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden. Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die formalen Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a der Richtlinie fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 ausgestellte Rechnung besitzen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 28 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 21. November 2018, Vădan, C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 39 und 40, sowie Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 43).

27      Folglich stellt die Angabe des Lieferers in der Rechnung über die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, eine formale Bedingung für die Ausübung dieses Rechts dar. Dagegen gehört die Steuerpflichtigeneigenschaft des Lieferers der Gegenstände bzw. des Erbringers der Dienstleistungen zu dessen materiellen Bedingungen, wie die spanische und die tschechische Regierung anmerken.

28      Speziell zu den Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug in einem Reverse-Charge-Verfahren gemäß Art. 199 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist überdies darauf hinzuweisen, dass ein Steuerpflichtiger, der als Erwerber eines Gegenstands die darauf anfallende Mehrwertsteuer schuldet, für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine gemäß den Formvorgaben dieser Richtlinie ausgestellte Rechnung zu besitzen braucht und nur die Förmlichkeiten erfüllen muss, die der betreffende Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 178 Buchst. f dieser Richtlinie eröffneten Möglichkeit vorgeschrieben hat (Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass der Steuerpflichtige bewusst einen fiktiven Lieferer in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnung angegeben hat, was die Inspección de los Tributos (Steuerinspektion) daran gehindert habe, den wahren Lieferer namhaft zu machen und damit dessen Steuerpflichtigeneigenschaft als materielle Bedingung des Rechts auf Vorsteuerabzug festzustellen.

30      Was als Zweites die Folgen der Verheimlichung des wahren Lieferers durch den Steuerpflichtigen anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Unternehmer durch die Abzugsregelung vollständig von der im Rahmen all seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten im Prinzip selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, ist das in den Art. 167 ff. der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, sofern die materiellen wie auch formalen Anforderungen oder Bedingungen, denen dieses Recht unterliegt, von den Steuerpflichtigen, die es ausüben wollen, eingehalten werden (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Zwar können die Mitgliedstaaten nach Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 über die in dieser Richtlinie vorgesehenen Pflichten hinaus weitere Pflichten vorsehen, wenn sie diese für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, doch dürfen die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen. Sie dürfen daher nicht so eingesetzt werden, dass sie systematisch das Recht auf Vorsteuerabzug und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      So hat der Gerichtshof entschieden, dass das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität verlangt, dass Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Bedingungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formalen Bedingungen nicht genügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 38, und vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 41).

34      Folglich darf die Steuerverwaltung, wenn sie über die Angaben verfügt, die für die Feststellung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen erforderlich sind, hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen aufstellen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42).

35      Diese Erwägungen gelten insbesondere im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. April 2004, Bockemühl, C-90/02, EU:C:2004:206, Rn. 50 und 51, vom 8. Mai 2008, Ecotrade, C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 62 bis 64, sowie vom 6. Februar 2014, Fatorie, C-424/12, EU:C:2014:50, Rn. 34 und 35).

36      Anders verhält es sich allerdings, wenn der Verstoß gegen die formalen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Dies kann indessen dann der Fall sein, wenn in der Rechnung über die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, nicht angegeben wird, wer in Wahrheit der Lieferer ist, sofern damit die Namhaftmachung dieses Lieferers und folglich die Feststellung seiner Steuerpflichtigeneigenschaft verhindert wird, da diese Eigenschaft, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine der materiellen Bedingungen des Rechts auf Vorsteuerabzug darstellt.

38      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Steuerverwaltung zum einen nicht auf die Prüfung der Rechnung selbst beschränken darf. Sie hat auch die vom Steuerpflichtigen beigebrachten zusätzlichen Informationen zu berücksichtigen (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 44). Zum anderen muss ein Steuerpflichtiger, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, nachweisen, dass er die hierfür vorgesehenen Bedingungen erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Vădan, C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 43). Die Steuerbehörden können somit vom Steuerpflichtigen selbst die Belege verlangen, die ihnen für die Beurteilung der Frage notwendig erscheinen, ob der verlangte Abzug gewährt werden kann (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Folglich hat der das Recht auf Vorsteuerabzug ausübende Steuerpflichtige grundsätzlich nachzuweisen, dass der Lieferer der Gegenstände bzw. der Erbringer der Dienstleistungen, für die dieses Recht ausgeübt wird, Steuerpflichtiger war. Der Steuerpflichtige muss also durch objektive Nachweise belegen, dass ihm Steuerpflichtige auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht haben, die seinen der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätzen dienten und für die er tatsächlich Mehrwertsteuer entrichtet hat. Diese Nachweise können u. a. Unterlagen im Besitz der Lieferer oder Dienstleistungserbringer umfassen, von denen der Steuerpflichtige die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die er die Mehrwertsteuer entrichtet hat, bezogen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. November 2018, Vădan, C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 44 und 45).

40      Allerdings kann die Steuerverwaltung bei der Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung von dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen, u. a. zu prüfen, ob der Lieferer der Gegenstände bzw. der Erbringer der Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Steuerpflichtiger ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 61, sowie Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 56).

41      Bei der Beweislast hinsichtlich der Frage, ob der Lieferer Steuerpflichtiger ist, ist zwischen der Feststellung einer materiellen Bedingung des Rechts auf Vorsteuerabzug einerseits und der Feststellung einer Hinterziehung der Mehrwertsteuer andererseits zu unterscheiden.

42      Auch wenn im Rahmen der Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung von dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangt werden kann, dass er prüft, ob der Lieferer der betreffenden Gegenstände bzw. der Erbringer der betreffenden Dienstleistungen Steuerpflichtiger ist, verhält es sich mithin gleichwohl anders, wenn die Feststellung der Steuerpflichtigeneigenschaft für die Prüfung erforderlich ist, ob diese materielle Bedingung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt ist.

43      Im letztgenannten Fall hat der Steuerpflichtige anhand objektiver Beweise darzutun, dass der Lieferer Steuerpflichtiger ist, es sei denn, die Steuerverwaltung verfügt über die Angaben, die für die Prüfung erforderlich sind, ob diese materielle Bedingung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt ist. Insoweit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, dass der Begriff „Steuerpflichtiger“ weit gefasst ist und sich auf tatsächliche Gegebenheiten stützt (Urteile vom 6. September 2012, Tóth, C-324/11, EU:C:2012:549, Rn. 30, und vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp, C-277/14, EU:C:2015:719, Rn. 34), so dass sich die Steuerpflichtigeneigenschaft des Lieferers aus den Umständen des Falles ergeben kann.

44      Folglich ist bei der Feststellung der materiellen Bedingungen des Rechts auf Vorsteuerabzug in dem Fall, dass in der Rechnung über die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, die Identität des wahren Lieferers nicht angegeben ist, dem Steuerpflichtigen dieses Recht zu versagen, sofern unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und trotz der von dem Steuerpflichtigen vorgelegten Informationen die für die Prüfung, ob dieser Lieferer Steuerpflichtiger war, erforderlichen Angaben fehlen.

45      Ferner hat der Gerichtshof wiederholt darauf hingewiesen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und die nationalen Behörden und Gerichte daher das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen haben, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 54 und 55, vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 21).

46      In Bezug auf die Hinterziehung ist das Recht auf Vorsteuerabzug nach ständiger Rechtsprechung nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Hinterziehung der Umsatzsteuer einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling, C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 59, vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 45, vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, EU:C:2019:861, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 22).

47      Insoweit wurde angenommen, dass ein Steuerpflichtiger, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt, der in eine Hinterziehung der Umsatzsteuer einbezogen war, für die Zwecke der Richtlinie 2006/112 als an der Hinterziehung Beteiligter anzusehen ist, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt, da der Steuerpflichtige in einer solchen Situation den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Ebenso hat der Gerichtshof wiederholt in Fällen, in denen die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug erfüllt waren, klargestellt, dass einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann versagt werden kann, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieser Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine solche vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Der Gerichtshof hat insoweit nämlich entschieden, dass es mit der Vorsteuerabzugsregelung der Richtlinie 2006/112 nicht vereinbar ist, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausging oder nachfolgte, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde, durch die Versagung dieses Rechts mit einer Sanktion zu belegen, da die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung über das hinausginge, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Da außerdem nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es den Steuerbehörden, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen Betrug einbezogen war. Es obliegt sodann den nationalen Gerichten, zu prüfen, ob die betreffenden Steuerbehörden diese objektiven Umstände nachgewiesen haben (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Da das Unionsrecht keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Aus der in den Rn. 46 und 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung folgt, dass dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann versagt werden kann, wenn nach einer gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts vorgenommenen umfassenden Beurteilung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls erwiesen ist, dass der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C-18/13, EU:C:2014:69, Rn. 30, und Beschluss vom 10. November 2016, Signum Alfa Sped, C-446/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:869, Rn. 36). Das Recht auf Vorsteuerabzug kann nur versagt werden, sofern diese Tatsachen auf andere Weise als durch Vermutungen rechtlich hinreichend nachgewiesen sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. September 2020, Crewprint, C-611/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:674, Rn. 45).

53      Im vorliegenden Fall ist im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung die Tatsache, dass der das Recht auf Vorsteuerabzug geltend machende Steuerpflichtige, der die Rechnung ausgestellt hat, bewusst einen fiktiven Lieferer in dieser Rechnung angegeben hat, ein relevanter Anhaltspunkt dafür, dass ihm bekannt war, dass er an einer Lieferung von Gegenständen teilnahm, die in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob dies im Rahmen des Ausgangsverfahrens tatsächlich der Fall ist.

54      In Bezug auf die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis ist darauf hinzuweisen, dass hierfür zwei Voraussetzungen vorliegen müssen, nämlich dass zum einen die fraglichen Umsätze trotz Erfüllung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird (vgl. u. a. Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C-419/14, EU:C:2015:832, Rn. 36, vom 10. Juli 2019, Kuršu zeme, C-273/18, EU:C:2019:588, Rn. 35, und vom 18. Juni 2020, KrakVet Marek Batko, C-276/18, EU:C:2020:485, Rn. 85).

55      Folglich fällt hierunter nicht der Fall, in dem ein fiktiver Lieferer in der Rechnung über die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, angegeben wird, da die Angabe des Lieferers in der Rechnung über die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die das Recht auf Vorsteuerabzug ausgeübt wird, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine formale Bedingung dieses Rechts darstellt und da diese Angabe somit nicht die Erfüllung der materiellen Bedingungen der Bestimmungen über den Vorsteuerabzug zur Folge hat.

56      Als Drittes ist in Bezug auf die Frage, ob die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug dem bösgläubigen Steuerpflichtigen nur versagt werden kann, sofern für den Mitgliedstaat eine Gefährdung des Steueraufkommens und für den Steuerpflichtigen oder andere an dem fraglichen Umsatz Beteiligte ein Steuervorteil besteht, darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens dem Fiskus grundsätzlich keine Zahlung geschuldet wird (vgl. u. a. Urteile vom 6. Februar 2014, Fatorie, C-424/12, EU:C:2014:50, Rn. 29, und vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 41). Ferner ist die Frage, ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Veräußerungen der betreffenden Gegenstände geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde, für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 3. September 2020, Vikingo Fővállalkozó, C-610/19, EU:C:2020:673, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Allerdings ist dem Steuerpflichtigen, wie sich aus den Rn. 44 und 46 bis 52 des vorliegenden Urteils ergibt, die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug dann zu versagen, wenn die für die Prüfung, ob der Lieferer der betreffenden Gegenstände bzw. der Erbringer der betreffenden Dienstleistungen Steuerpflichtiger war, erforderlichen Angaben fehlen oder wenn rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, dass der Steuerpflichtige Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war. Die Feststellung einer Gefährdung des Steueraufkommens ist folglich keine Voraussetzung für eine solche Versagung.

57      Desgleichen ist es irrelevant, ob der Steuerpflichtige oder andere Beteiligte in der Liefer- bzw. Dienstleistungskette durch den fraglichen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat bzw. haben. Denn zum einen hat das Vorliegen eines solchen Vorteils nichts mit der Frage zu tun, ob die materiellen Bedingungen des Rechts auf Vorsteuerabzug wie die Steuerpflichtigeneigenschaft des Lieferers der betreffenden Gegenstände bzw. des Erbringers der betreffenden Dienstleistungen erfüllt sind. Zum anderen hängt anders als bei den Entscheidungen zu missbräuchlichen Praktiken die Feststellung der Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Mehrwertsteuerhinterziehung nicht davon ab, dass er durch diesen Umsatz einen Steuervorteil erlangt hat, dessen Gewährung dem mit der Richtlinie 2006/112 verfolgten Ziel zuwiderläuft (Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 35).

58      Da das vorlegende Gericht die mögliche Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen, der die Identität des wahren Lieferers verheimlicht, angesprochen hat, ist ferner festzustellen, dass es zwar nicht gegen das Unionsrecht verstößt, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt, die Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen aber nicht erwiesen sein muss, um ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 14. April 2021, Finanzamt Wilmersdorf, C-108/20, EU:C:2021:266, Rn. 30 und 31).

59      Soweit das vorlegende Gericht schließlich auch den Umstand anspricht, dass durch die Verheimlichung des wahren Lieferers die direkte Besteuerung dadurch gefährdet sein könnte, dass der Steuerverwaltung die Möglichkeit der Kontrolle genommen werde, ist festzustellen, dass sich aus der in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nicht aus diesem Grund versagt werden kann. Denn eine solche Versagung verstieße gegen den fundamentalen Grundsatz, den dieses Recht darstellt, und folglich gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität.

60      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass einem Steuerpflichtigen die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen entfallenden Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige bewusst einen fiktiven Lieferer in der Rechnung angegeben hat, die er selbst für diesen Umsatz im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ausgestellt hat, sofern unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und der von dem Steuerpflichtigen vorgelegten Informationen die für die Prüfung, ob der wahre Lieferer Steuerpflichtiger war, erforderlichen Angaben fehlen oder rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, dass der Steuerpflichtige Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war.

 Kosten

61      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass einem Steuerpflichtigen die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf den Erwerb von ihm gelieferten Gegenständen entfallenden Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige bewusst einen fiktiven Lieferer in der Rechnung angegeben hat, die er selbst für diesen Umsatz im Rahmen der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ausgestellt hat, sofern unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und der von dem Steuerpflichtigen vorgelegten Informationen die für die Prüfung, ob der wahre Lieferer Steuerpflichtiger war, erforderlichen Angaben fehlen oder rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, dass der Steuerpflichtige Mehrwertsteuer hinterzogen hat oder gewusst hat oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in eine solche Hinterziehung einbezogen war.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Spanisch.