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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

12. Mai 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 201 – Steuerschuldner – Einfuhrmehrwertsteuer – Unionszollkodex – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Art. 77 Abs. 3 – Gesamtschuldnerische Haftung des indirekten Zollvertreters und des einführenden Unternehmens – Zölle“

In der Rechtssache C-714/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria provinciale di Venezia (Provinzfinanzgericht Venedig, Italien) mit Entscheidung vom 17. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Dezember 2020, in dem Verfahren

U. I. Srl

gegen

Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Venezia

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter) und P. G. Xuereb,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der U. I. Srl, vertreten durch C. Santacroce und A. Dal Ferro, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, Avvocato dello Stato,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, K. Georgiadis und G. Avdikos als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios, F. Clotuche-Duvieusart und F. Moro als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 201 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Art. 77 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der U. I. Srl und der Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio delle dogane di Venezia (Zoll- und Monopolagentur – Zollamt Venedig, Italien) (im Folgenden: Zollamt) wegen der Zahlung von Einfuhrmehrwertsteuer durch U. I. als indirekten Zollvertreter zusätzlich zu Zöllen auf Einfuhrgeschäfte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Mehrwertsteuerrichtlinie

3        Die Erwägungsgründe 43 und 44 der Mehrwertsteuerrichtlinie lauten:

„(43)      Die Mitgliedstaaten sollten den Einfuhrsteuerschuldner nach freiem Ermessen bestimmen können.

(44)      Die Mitgliedstaaten sollten auch Regelungen treffen können, nach denen eine andere Person als der Steuerschuldner gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Steuer haftet.“

4        Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.

5        Nach Art. 30 Abs. 1 der Richtlinie gilt als Einfuhr eines Gegenstands die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Art. 29 AEUV befindet, in die Union.

6        Art. 70 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt, dass Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.

7        Art. 71 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„(1)      Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die [Union] einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne der Artikel 156, 276 und 277, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, treten Steuertatbestand und Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren oder dieser sonstigen Regelung nicht mehr unterliegen.

Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung, treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben entstehen.

(2)      In den Fällen, in denen die eingeführten Gegenstände keiner der Abgaben im Sinne des Absatzes 1 Unterabsatz 2 unterliegen, wenden die Mitgliedstaaten in Bezug auf Steuertatbestand und Steueranspruch die für Zölle geltenden Vorschriften an.“

8        Art. 201 dieser Richtlinie lautet:

„Bei der Einfuhr wird die Mehrwertsteuer von der Person oder den Personen geschuldet, die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt.“

 Zollkodex

9        Art. 5 des Zollkodex bestimmt:

„Für den Zollkodex gelten folgende Begriffsbestimmungen:

6.      ,Zollvertreter‘ ist jede Person, die von einer anderen Person dazu bestellt wurde, für deren Geschäftsverkehr mit den Zollbehörden die Handlungen vorzunehmen und Formalitäten zu erfüllen, die im Rahmen der zollrechtlichen Vorschriften erforderlich sind.

12.      ‚Zollanmeldung‘ ist die Handlung, durch die eine Person in der vorgeschriebenen Art und Weise die Absicht bekundet, Waren in ein bestimmtes Zollverfahren überzuführen, gegebenenfalls unter Angabe der dafür in Anspruch zu nehmenden besonderen Regelung.

15.      ‚Anmelder‘ ist die Person, die in eigenem Namen eine Zollanmeldung, eine Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung, eine summarische Eingangsanmeldung, eine summarische Ausgangsanmeldung, eine Wiederausfuhranmeldung oder eine Wiederausfuhrmitteilung abgibt oder die Person, in deren Namen diese Anmeldung oder Mitteilung abgegeben wird.

18.      ‚Zollschuld‘ ist die Verpflichtung einer Person, den aufgrund der geltenden zollrechtlichen Vorschriften für eine bestimmte Ware vorgesehenen Betrag der Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben zu entrichten.

19.      ‚Zollschuldner‘ ist eine zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtete Person.

20.      ,Einfuhrabgaben‘ sind die für die Einfuhr von Waren zu entrichtenden Abgaben;

…“

10      Art. 18 Abs. 1 des Zollkodex lautet:

„Jede Person kann einen Zollvertreter ernennen.

Zulässig ist sowohl die direkte Vertretung, bei der der Zollvertreter im Namen und für Rechnung einer anderen Person handelt, als auch die indirekte Vertretung, bei der der Zollvertreter im eigenen Namen, aber für Rechnung einer anderen Person handelt.“

11      Art. 77 des Zollkodex, der zu Abschnitt 1 („Einfuhrzollschuld“) in Kapitel 1 („Entstehung der Zollschuld“) des Titels III („Zollschuld und Sicherheitsleistung“) des Zollkodex gehört, sieht vor:

„(1)      Eine Einfuhrzollschuld entsteht durch die Überführung von einfuhrabgabenpflichtigen Nicht-Unionswaren in eines der folgenden Zollverfahren:

a)      Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr, auch im Rahmen der Vorschriften über die Endverwendung,

b)      vorübergehende Verwendung unter teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben.

(2)      Die Zollschuld entsteht zum Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung.

(3)      Zollschuldner ist der Anmelder. Bei indirekter Vertretung ist auch die Person Zollschuldner, in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wird.

Liegen einer Zollanmeldung für ein Verfahren des Absatzes 1 Angaben zugrunde, die dazu führen, dass die Einfuhrabgaben ganz oder teilweise nicht erhoben werden, wird auch die Person zum Zollschuldner, die die für die Zollanmeldung erforderlichen Angaben geliefert hat und die gewusst hat oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass sie unrichtig waren.“

12      Art. 84 des Zollkodex bestimmt:

„Sind mehrere Personen zur Entrichtung des einer Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags verpflichtet, so haben sie gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieses Betrags einzustehen.“

 Italienisches Recht

13      Art. 1 des Decreto del Presidente della Repubblica n. 633 – Istituzione e disciplina dell’imposta sul valore aggiunto (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 633 über die Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer) vom 26. Oktober 1972 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 292 vom 11. November 1972, im Folgenden: Dekret Nr. 633/1972) bestimmt:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die im Hoheitsgebiet des Staates beim Betrieb eines Unternehmens oder bei der Ausübung eines Gewerbes oder eines Berufes bewirkt werden, sowie Einfuhren, unabhängig davon, wer sie vornimmt.“

14      In Art. 8 dieses Dekrets heißt es:

„Als nicht steuerbare Ausfuhrlieferungen gelten:


c)      Lieferungen, auch durch die Einschaltung von Kommissionären, von anderen Gegenständen als Gebäuden und Baugrundstücken sowie Dienstleistungen für Personen, die, nachdem sie Ausfuhrlieferungen oder innergemeinschaftliche Umsätze getätigt haben, von der Möglichkeit Gebrauch machen, Gegenstände und Dienstleistungen zu erwerben, auch durch die Einschaltung von Kommissionären, oder einzuführen, ohne die Steuer zu entrichten.

…“

15      Art. 17 Abs. 1 dieses Dekrets sieht vor:

„Steuerschuldner ist, wer steuerpflichtige Vermögensübertragungen oder Leistungen bewirkt; er hat die Steuer für alle bewirkten Umsätze zusammen und bereinigt um den in Art. 19 vorgesehenen Abzug gemäß den in Titel II vorgesehenen Modalitäten und Bedingungen an den Fiskus zu entrichten.“

16      Art. 70 Abs. 1 dieses Dekrets lautet:

„Die Einfuhrsteuer wird für jeden Umsatz festgestellt, festgesetzt und erhoben. Auf Streitigkeiten und Sanktionen finden die Bestimmungen der Zollgesetze über die Ein- und Ausfuhrabgaben Anwendung.“

17      Art. 34 des Decreto del Presidente della Repubblica n. 43 – Approvazione del testo unico delle disposizioni legislative in materia doganale (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 43 – Genehmigung des Einheitstexts der Rechtsvorschriften in Zollsachen) vom 23. Januar 1973 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 80 vom 28. März 1973, im Folgenden: Dekret Nr. 43/1973) bestimmt:

„,Zölle‘ sind diejenigen Abgaben, die der Zoll aufgrund eines Gesetzes in Bezug auf Zollvorgänge zu erheben verpflichtet ist.

Unter den Zöllen umfassen ,an der Grenze erhobene Abgaben‘: Ein- und Ausfuhrabgaben, Abschöpfungen und andere von den Verordnungen der Gemeinschaft und den jeweiligen Durchführungsvorschriften vorgesehene Einfuhr- und Ausfuhrabgaben und in Bezug auf eingeführte Waren außerdem Monopolrechte, Grenzzuschläge und jede andere Abgabe oder Verbrauchszuschlag zugunsten des Staates.“

18      Art. 38 dieses Dekrets sieht vor:

„Zur Entrichtung der Zölle sind gemäß Art. 56 der Eigentümer der Ware und gesamtschuldnerisch all diejenigen verpflichtet, für deren Rechnung die Ware ein- oder ausgeführt worden ist.

Für die Entrichtung der Abgabe hat der Staat neben den gesetzlich festgelegten Privilegien ein Zurückbehaltungsrecht an den Gegenständen, die der Abgabe unterliegen.

Das Zurückbehaltungsrecht kann auch für die Erfüllung jeder anderen Forderung des Staates, die die Waren betrifft, die Gegenstand von Zollvorgängen sind, ausgeübt werden.“

19      Art. 1 des Decreto-Legge Nr. 746 – Disposizioni urgenti in materia di imposta su valore aggiunto (Decreto-Legge Nr. 746 – Sofortmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer) vom 29. Dezember 1983 (GURI Nr. 358 vom 31. Dezember 1983), mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 17 vom 27. Februar 1984 (GURI Nr. 59 vom 29. Februar 1984) in der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Decreto-Legge Nr. 746/1983) sieht vor:

„Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 2 des [Dekrets Nr. 633/1972] in geänderter Fassung finden Anwendung, sofern

a)      der Betrag der Gegenleistung für die in den Buchstaben a und b dieses Artikels genannten Ausfuhrlieferungen, die während des Vorjahres registriert wurden, 10 % des nach Artikel 20 dieses Dekrets bestimmten Umsatzes übersteigt …

c)      die Absicht, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Käufe oder Einfuhren ohne Erhebung der Steuer vorzunehmen, auf einer Anmeldung beruht, die gemäß dem durch Dekret des Finanzministeriums genehmigten Muster erstellt wurde, in der die Mehrwertsteuernummer des Anmelders sowie die zuständige Stelle aufgeführt sind und die elektronisch der Agenzia delle Entrate (Steuerverwaltung) übermittelt wird, die eine elektronische Empfangsbestätigung ausstellt. …“

20      Art. 2 Abs. 1 dieses Decreto-Legge bestimmt:

„Personen, die Umsätze mangels Anmeldung nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c tätigen, ohne Steuer zu entrichten, werden zusätzlich zur Steuer selbst mit einer Geldbuße belegt, die doppelt bis sechsmal höher ist als die nicht erhobene Steuer. Ist eine Anmeldung erfolgt, sind nur die Lieferer, die Kommittenten und die Einführer, die die Anmeldung abgegeben haben, für die Nichtentrichtung der Abgabe verantwortlich.“

21      Art. 3 des Decreto legislativo n. 374 – Riordinamento degli istituti doganali e revisione delle procedure di accertamento e controllo in attuazione delle direttive n. 79/695/CEE del 24 luglio 1979 e n. 82/57/CEE del 17 dicembre 1981, in tema di procedure di immissione in libera pratica delle merci, e delle direttive n. 81/177/CEE del 24 febbraio 1981 e n. 82/347/CEE del 23 aprile 1982, in tema di procedure di esportazione delle merci comunitarie (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 374 – Neugestaltung der Zolleinrichtungen und Überprüfung der Feststellungs- und Prüfverfahren im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 79/695/EWG [des Rates] vom 24. Juli 1979 und der Richtlinie 82/57/EWG [der Kommission] vom 17. Dezember 1981 über die Verfahren für die Überführung von Waren in den zollrechtlich freien Verkehr sowie der Richtlinie 81/177/EWG [des Rates] vom 24. Februar 1981 und der Richtlinie 82/347/EWG [der Kommission] vom 23. April 1982 über die Verfahren für die Ausfuhr von Gemeinschaftswaren) vom 8. November 1990 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 291 vom 14. Dezember 1990) sieht vor:

„(1)      Die Zölle werden nach den Vorschriften des [Dekrets Nr. 43/1973] und der anderen im Zollbereich geltenden Gesetze festgesetzt, berechnet und erhoben, sofern in einschlägigen Sondergesetzen nichts anderes bestimmt ist.

(2)      Die in den Gemeinschaftsverordnungen vorgesehenen Zölle, Abschöpfungen und andere Einfuhr- und Ausfuhrabgaben werden gemäß den Bestimmungen dieser Verordnungen und, wenn diese auf die Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten verweisen oder jedenfalls keine vorsehen, gemäß den Vorschriften des [Dekrets Nr. 43/1973] und der anderen im Zollbereich geltenden Gesetze festgesetzt, berechnet und erhoben.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22      Mit zwei Steuerbescheiden, die U. I., einer Gesellschaft mit Sitz in Mailand (Italien), am 15. Mai 2017 bzw. am 6. Februar 2018 zugestellt wurden, berichtigte das Zollamt 45 bzw. 115 Einfuhranmeldungen und setzte die entsprechenden Beträge der geschuldeten Einfuhrmehrwertsteuer fest, nämlich 173 561,22 Euro und 786 046,24 Euro zuzüglich Zinsen. Das Zollamt war außerdem der Ansicht, dass U. I. als indirekter Zollvertreter der einführenden Unternehmen A. SpA, gegen die ein Insolvenzverfahren anhängig gewesen sei, und U. C. Srl mit Sitz in Rom (Italien), u. a. gemäß den Art. 77 und 84 des Zollkodex gesamtschuldnerisch für die Entrichtung dieser Steuer mit diesen Unternehmen hafte.

23      Im Rahmen ihrer Überprüfungsverfahren kam die Zollbehörde nämlich zu der Ansicht, dass die diesen Einfuhranmeldungen beigefügten Absichtserklärungen nicht zuverlässig seien, da sie auf die nicht für gegeben erachtete Tatsache gestützt seien, dass diese einführenden Unternehmen herkömmliche Ausführer seien. Da diese keine Umsätze getätigt hätten, die unter das Kontingent für den mehrwertsteuerbefreiten Erwerb fallen könnten, seien die geprüften Einfuhrgeschäfte nicht gemäß Art. 1 Buchst. a des Decreto-Lgge Nr. 746/1983 von der Mehrwertsteuer befreit gewesen.


24      U. I. erhob gegen diese beiden Steuerbescheide Klage beim vorlegenden Gericht, der Commissione tributaria provinciale di Venezia (Provinzfinanzgericht Venedig, Italien), um deren Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen.

25      In diesem Rahmen räumte U. I. ein, die fraglichen Zollvorgänge als indirekter Zollvertreter im eigenen Namen und für Rechnung der einführenden Unternehmen auf der Grundlage von Vertretungsvollmachten durchgeführt und die entsprechenden Anmeldungen bei den Zollbehörden abgegeben zu haben. Sie machte jedoch geltend, dass die Vorschriften, auf deren Grundlage die Steuerbescheide erlassen worden seien, insbesondere die Art. 77 und 84 des Zollkodex, nicht auf die Mehrwertsteuer angewendet werden könnten. Außerdem sehe nach italienischem Recht keine Bestimmung die gesamtschuldnerische Haftung des indirekten Zollvertreters mit dem einführenden Unternehmen für die Entrichtung der Einfuhrmehrwertsteuer vor, und die Anerkennung einer solchen gesamtschuldnerischen Haftung verstoße gegen Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

26      Das Zollamt beantragte, die Klagen abzuweisen. Es wies darauf hin, dass der Entstehungstatbestand für die fragliche Mehrwertsteuerschuld ebenso wie der Entstehungstatbestand der Zollschuld in der Einfuhr liege und dass dieser Steuertatbestand im Zollrecht festgelegt sei. Auf dieses müsse auch für die Ermittlung der Entstehung der Einfuhrmehrwertsteuerschuld und folglich für die Ermittlung der Schuldner abgestellt werden: Schuldner im vorliegenden Fall seien diejenigen, die die Ware dem Zoll gestellt hätten, nämlich gemäß der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) der Einführer und sein indirekter Zollvertreter, und zwar gesamtschuldnerisch.

27      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach dieser Rechtsprechung die Pflicht zur Entrichtung der Einfuhrmehrwertsteuer ebenso wie der Zölle in dem Zeitpunkt entsteht, in dem die Ware dem Zoll für den Eingang in das Gebiet der Union gestellt wird. Es handele sich um dieselbe Steuer wie die innergemeinschaftliche Mehrwertsteuer, wie sich u. a. aus dem Urteil vom 17. Juli 2014, Equoland (C-272/13, EU:C:2014:2091), ergebe. Obwohl die Einfuhrmehrwertsteuer weder zu diesen Zöllen noch zu den an der Grenze erhobenen Abgaben im engeren Sinne, sondern zu den Abgaben des nationalen Rechts gehöre, teile sie mit den Zöllen den Zeitpunkt ihrer Erhebung im Sinne von Art. 34 des Dekrets Nr. 43/1973, so dass der indirekte Zollvertreter, soweit er der Zollbehörde die Absichtserklärung im eigenen Namen vorlege, gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer hafte.

28      Das vorlegende Gericht weist auf eine andere nationale Rechtsprechungslinie hin, wonach mangels einer ausdrücklichen Bestimmung des nationalen Rechts, die im Einklang mit Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie die zur Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer „bestimmten“ Personen vorsehe, die Vorschriften über die Zollpflichten, die die gesamtschuldnerische Haftung des Einführers und seines indirekten Zollvertreters regelten, nicht weit ausgelegt werden könnten.

29      Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass es, wenn die in diesem Artikel verwendeten Begriffe „bestimmt“ oder „anerkennt“ eng dahin ausgelegt würden, dass der nationale Gesetzgeber die Mehrwertsteuerschuldner ausdrücklich bezeichnen müsse, im vorliegenden Fall feststellen müsse, dass die nationalen Bestimmungen ausschließlich den Einführer als Schuldner dieser Steuer bestimmten. Bei einer weiten Auslegung dieser Begriffe könnte das vorlegende Gericht hingegen die für andere Abgaben als die Einfuhrmehrwertsteuer erlassenen nationalen Vorschriften, wie z. B. Zölle, extensiv anwenden.

30      Auch die Auslegung von Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex und insbesondere die Frage, ob seine Anwendung auf Zölle beschränkt werden müsse, seien für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits maßgeblich.

31      Unter diesen Umständen hat die Commissione tributaria provinciale di Venezia (Provinzfinanzgericht Venedig) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der bestimmt, dass „[b]ei der Einfuhr … die Mehrwertsteuer von der Person oder den Personen geschuldet [wird], die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt“, dahin auszulegen, dass diesem der Erlass einer staatlichen Norm auf dem Gebiet der Einfuhrmehrwertsteuer (innerstaatliche Steuer: Rechtssache, in der das Urteil vom 17. Juli 2014, Equoland, C-272/13, EU:C:2014:2091 ergangen ist), obliegt, die ausdrücklich die zur entsprechenden Zahlung verpflichteten Personen bezeichnet?

2.      Ist der Einfuhrzollschulden betreffende Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex, wonach „[b]ei indirekter Vertretung … auch die Person Zollschuldner [ist], in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wird“, dahin auszulegen, dass der indirekte Vertreter nicht nur für die Zölle, sondern auch für die Einfuhrmehrwertsteuer nur deshalb haftet, weil er „Zollanmelder“ im eigenen Namen ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

32      Die italienische Regierung macht die Unzulässigkeit der Vorlagefragen mit der Begründung geltend, dass sie nicht nur unklar, sondern auch für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich seien, da das vorlegende Gericht die Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof), in der bereits über die Frage der für die Einfuhrmehrwertsteuer haftenden Personen entschieden worden sei, nicht angewandt habe. Außerdem seien in Bezug auf die erste Frage die nationalen und unionsrechtlichen Bestimmungen, die den Steuertatbestand der Einfuhrmehrwertsteuer und ihre Schuldner eindeutig bezeichneten, nicht erläutert worden.

33      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 19. Dezember 2019, Darie, C-592/18, EU:C:2019:1140, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 19. Dezember 2019, Darie, C-592/18, EU:C:2019:1140, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht unter klarer Darlegung der Gründe, aus denen es Zweifel hinsichtlich der Auslegung der in seinen Vorlagefragen genannten Bestimmungen des Unionsrechts hat, klargestellt, dass die Antworten auf diese Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits entscheidend seien, da es von diesen Antworten abhänge, ob U. I. als indirekter Zollvertreter gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden könne. Es kann aber die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zur Auslegung des Unionsrechts nicht in Frage stellen, dass das vorlegende Gericht die Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) nicht angewandt hat.

36      Außerdem enthält das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung des tatsächlichen und rechtlichen Rahmens des Ausgangsrechtsstreits, insbesondere der anwendbaren nationalen Vorschriften und der einschlägigen nationalen Rechtsprechung, die ausreicht, um dem Gerichtshof eine zweckdienliche Beantwortung der beiden Vorlagefragen zu ermöglichen.


37      Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.

 Zur zweiten Frage

38      Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass der indirekte Zollvertreter allein nach dieser Bestimmung die für die von ihm angemeldeten Waren geschuldeten Zölle sowie die Einfuhrmehrwertsteuer für diese Waren schuldet.

39      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 18. November 2020, Kaplan International colleges UK, C-77/19, EU:C:2020:934, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Es ist daran zu erinnern, dass nach Art. 18 Abs. 1 des Zollkodex der indirekte Zollvertreter im eigenen Namen, aber für Rechnung einer anderen Person handelt. Bei der Abgabe der „Zollanmeldung“ im Sinne von Art. 5 Nr. 12 des Zollkodex tut er dies somit im eigenen Namen, aber für Rechnung der Person, die ihm eine Vertretungsvollmacht erteilt hat und die er vertritt, so dass er, wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, als „Anmelder“ im Sinne von Art. 5 Nr. 15 des Zollkodex handelt.

41      Erstens ist der Anmelder nach Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex Zollschuldner, und im Fall der indirekten Vertretung ist auch die Person Zollschuldner, in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wird.

42      Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass sowohl der indirekte Zollvertreter als Anmelder als auch der Einführer, in dessen Auftrag er diese Anmeldung abgibt, Zollschuldner sind.

43      Zweitens ergibt sich aus dem Zusammenhang und den Zielen der Regelung, in die sich diese Bestimmung einfügt, dass sie ausschließlich die Zollschuld und nicht auch die Einfuhrmehrwertsteuer betrifft.

44      Zum einen steht Art. 77 des Zollkodex nämlich in Abschnitt 1 („Einfuhrzollschuld“) des Kapitels 1 („Entstehen der Zollschuld“) in Titel III des Zollkodex („Zollschuld und Sicherheitsleistung“). Insoweit beziehen sich die Abs. 1 und 2 dieses Artikels auf die Zollschuld.

45      Zum anderen ist nach Art. 5 Nr. 19 des Zollkodex der „Zollschuldner“ „eine zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtete Person“.

46      Im Übrigen bezieht sich Art. 84 des Zollkodex ausdrücklich auf die Zollschuld, indem er vorsieht, dass, wenn mehrere Personen zur Entrichtung des einer Zollschuld entsprechenden Eingangs- oder Ausfuhrabgabenbetrags verpflichtet sind, sie dies gesamtschuldnerisch sind.

47      Der Begriff „Zollschuld“ wird in Art. 5 Nr. 18 des Zollkodex definiert als die Verpflichtung, den „aufgrund der geltenden zollrechtlichen Vorschriften für eine bestimmte Ware vorgesehenen Betrag der Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben zu entrichten“.

48      Die Einfuhrmehrwertsteuer gehört jedoch nicht zu den „Einfuhrabgaben“ im Sinne von Art. 5 Nr. 20 des Zollkodex, der die für die Einfuhr von Waren zu entrichtenden Zölle betrifft.

49      Wie sowohl die Europäische Kommission als auch U. I. in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mehrwertsteuer, die auf die Einfuhr von Gegenständen zu erheben ist, nicht zu diesen Einfuhrabgaben gehört (vgl. in diesem Sinne zu Art. 4 Nr. 10 der Verordnung [EWG] Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften [ABl. 1992, L 302, S. 1], der Art. 5 Nr. 20 des Zollkodex entspricht, Urteile vom 29. Juli 2010, Pakora Pluss, C-248/09, EU:C:2010:457, Rn. 47, sowie vom 2. Juni 2016, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig, C-226/14 und C-228/14, EU:C:2016:405, Rn. 81).

50      Schließlich verweisen die unionsrechtlichen Vorschriften auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, insbesondere Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie, hinsichtlich der Verpflichtung zur Zahlung dieser Steuer nicht auf die Bestimmungen des Zollkodex, sondern sehen vor, dass diese Verpflichtung der Person oder den Personen obliegt, die vom Einfuhrmitgliedstaat bestimmt oder anerkannt werden, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Art. 21 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage [ABl. 1977, L 145, S. 1], der Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie entspricht, Urteil vom 29. Juli 2010, Pakora Pluss, C-248/09, EU:C:2010:457, Rn. 52).

51      Daraus folgt, dass der indirekte Zollvertreter nach Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex in Bezug auf die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer nicht gemeinsam mit dem Einführer, der ihm eine Vertretungsvollmacht erteilt hat und den er vertritt, haftbar gemacht werden kann.

52      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass der indirekte Zollvertreter allein nach dieser Bestimmung nur die für die von ihm angemeldeten Waren geschuldeten Zölle und nicht auch die Einfuhrmehrwertsteuer für diese Waren schuldet.

 Zur ersten Frage

53      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der indirekte Zollvertreter für die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer gesamtschuldnerisch mit dem Einführer haftbar gemacht werden kann, wenn es keine nationalen Vorschriften gibt, in denen er ausdrücklich als Schuldner dieser Steuer bestimmt oder anerkannt wird.

54      Vorab ist in Bezug auf die Einfuhrmehrwertsteuer und die Zölle darauf hinzuweisen, dass diese nach ständiger Rechtsprechung hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale insofern vergleichbar sind, als sie durch die Einfuhr der Waren in die Union und ihre anschließende Überführung in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen. Diese Parallelität wird dadurch bestätigt, dass Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen (Urteile vom 10. Juli 2019, Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung, C-26/18, EU:C:2019:579, Rn. 41, und vom 3. März 2021, Hauptzollamt Münster [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer], C-7/20, EU:C:2021:161, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Aus dem Wortlaut von Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach die Einfuhrmehrwertsteuer „von der Person oder den Personen geschuldet [wird], die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt“, geht hervor, dass dieser Artikel den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Bestimmung der Schuldner dieser Steuer lässt, was im 43. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt wird, wonach die Mitgliedstaaten den Einfuhrsteuerschuldner nach freiem Ermessen bestimmen können sollen.

56      Somit ergibt sich zwar aus dieser Bestimmung, dass die Mitgliedstaaten zumindest eine Person als Steuerschuldner bestimmen müssen, doch steht es ihnen frei, mehrere Personen zu bestimmen, was auch aus dem 44. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, wonach die Mitgliedstaaten auch Regelungen treffen können sollen, nach denen eine andere Person als der Steuerschuldner gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Steuer haftet.

57      In Anbetracht des den Mitgliedstaaten durch Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Ermessens steht es ihnen daher zwar frei, zur Durchführung dieses Artikels vorzusehen, dass auch die Zollschuldner die Einfuhrmehrwertsteuer schulden und dass insbesondere der indirekte Zollvertreter mit der Person, die ihm eine Vertretungsvollmacht erteilt hat und die er vertritt, gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieser Steuer haftet.

58      Dazu ist zunächst auf Art. 288 Abs. 3 AEUV zu verweisen, wonach die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlässt.


59      Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Richtlinie aber mit unbestreitbarer Verbindlichkeit und mit der Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit umgesetzt werden, die notwendig sind, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen (Urteil vom 24. Oktober 2013, Kommission/Spanien, C-151/12, EU:C:2013:690, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Hierzu ist es unerlässlich, dass die Rechtslage, die sich aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie ergibt, ausreichend bestimmt und klar ist, um es den betroffenen Einzelnen zu ermöglichen, Kenntnis vom Umfang ihrer Rechte und Pflichten zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2012, Flachglas Torgau, C-204/09, EU:C:2012:71, Rn. 60).

61      Außerdem gebietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit u. a., dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein müssen (Urteile vom 30. April 2019, Italien/Rat [Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer], C-611/17, EU:C:2019:332, Rn. 111, und vom 26. März 2020, Hungeod u. a., C-496/18 und C-497/18, EU:C:2020:240, Rn. 93 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Unter diesen Umständen ist es Sache der Mitgliedstaaten, zur Umsetzung von Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter Wahrung des Grundsatzes der Rechtssicherheit die Person oder die Personen, die die Einfuhrmehrwertsteuer zu entrichten haben, durch hinreichend klare und genaue nationale Rechtsvorschriften zu bestimmen oder anzuerkennen.

63      Daraus folgt, dass eine etwaige Haftung des indirekten Zollvertreters für die Zahlung der von einem Mitgliedstaat vorgesehenen Einfuhrmehrwertsteuer gesamtschuldnerisch mit der Person, die ihm eine Vertretungsvollmacht erteilt hat und die er vertritt, ausdrücklich und eindeutig durch solche nationalen Bestimmungen vorgeschrieben werden muss.

64      Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, im Hinblick auf sämtliche Bestimmungen des italienischen Rechts zu beurteilen, ob diese Bestimmungen, insbesondere die Art. 34 und 38 des Dekrets Nr. 43/1973, der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannte Art. 3 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 374 vom 8. November 1990 sowie die Art. 1 und 70 Abs. 1 des Dekrets Nr. 633/1972, auf die sich die italienische Regierung bezieht, oder der von der Kommission angeführte Art. 2 Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 746/1983 ausdrücklich und eindeutig den indirekten Zollvertreter als Schuldner der Einfuhrmehrwertsteuer bestimmen oder anerkennen, zusätzlich zu der gesamtschuldnerischen Haftung für Zölle gemäß Art. 77 Abs. 3 und Art. 84 des Zollkodex mit dem Einführer, der ihm eine Vertretungsvollmacht erteilt hat und den er vertritt, wie sich aus den Rn. 42, 46 und 52 des vorliegenden Urteils ergibt.

65      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 201 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass der indirekte Zollvertreter für die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer nicht gesamtschuldnerisch mit dem Einführer haftbar gemacht werden kann, wenn es keine nationalen Vorschriften gibt, in denen er ausdrücklich und eindeutig als Schuldner dieser Steuer bestimmt oder anerkannt wird.

 Kosten

66      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 77 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union ist dahin auszulegen, dass der indirekte Zollvertreter allein nach dieser Bestimmung nur die für die von ihm angemeldeten Waren geschuldeten Zölle und nicht auch die Einfuhrmehrwertsteuer für diese Waren schuldet.

2.      Art. 201 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der indirekte Zollvertreter für die Zahlung der Einfuhrmehrwertsteuer nicht gesamtschuldnerisch mit dem Einführer haftbar gemacht werden kann, wenn es keine nationalen Vorschriften gibt, in denen er ausdrücklich und eindeutig als Schuldner dieser Steuer bestimmt oder anerkannt wird.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.