Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
13. Oktober 2022(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – Maßnahmen zur Sicherstellung einer genauen Erhebung der Mehrwertsteuer – Art. 325 Abs. 1 AEUV – Pflicht zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Mehrwertsteuerschulden einer steuerpflichtigen juristischen Person – Nationale Regelung, die eine gesamtschuldnerische Haftung des nichtsteuerpflichtigen Vorstands der juristischen Person vorsieht – Vom Vorstand unredlich vorgenommene Verfügungen – Vermögensminderung der juristischen Person, die zur Insolvenz führt – Nichtabführung der von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge innerhalb der vorgesehenen Fristen – Verzugszinsen – Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-1/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) mit Entscheidung vom 18. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2021, in dem Verfahren
MC
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Siebten Kammer sowie der Richter J. Passer und N. Wahl,
Generalanwältin : J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von MC, der sich selbst vertritt,
– des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, vertreten durch B. Nikolov,
– der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Nikolova und V. Uher als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 2. Juni 2022
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen), von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MC und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Veliko Tarnovo pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite“ (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ von Veliko Tarnovo bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen) (im Folgenden: Direktor) über einen Haftungsbescheid, in dem MC für bestimmte Steuerschulden, einschließlich Mehrwertsteuerschulden einer Handelsgesellschaft, deren Vorstand er war, gesamtschuldnerisch haftbar gemacht wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
SFI-Übereinkommen
3 Nach der Präambel des SFI-Übereinkommens sind die Vertragsparteien dieses Übereinkommens „in dem Wunsch sicherzustellen, dass ihre Strafrechtsvorschriften in wirksamer Weise zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften beitragen,“ zum einen überzeugt, „dass der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften es erfordert, betrügerische Handlungen zum Nachteil dieser Interessen strafrechtlich zu verfolgen“, und zum anderen „von der Notwendigkeit, derartige Handlungen als Straftaten zu umschreiben und durch wirksame, angemessene und abschreckende strafrechtliche Sanktionen – unbeschadet der Verhängung andersartiger Sanktionen in geeigneten Fällen – ahnden zu können und zumindest in schweren Fällen mit Freiheitsstrafen zu bedrohen“.
4 Art. 1 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens legt den Tatbestand des „Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften“ fest. Nach Art. 1 Abs. 2 dieses Übereinkommens trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.
5 Nach Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Art. 1 dieses Übereinkommens genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können.
Mehrwertsteuerrichtlinie
6 Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
7 Art. 273 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Bulgarisches Recht
8 Art. 19 Abs. 2 des Danachno-osiguritelen protsetsualen kodeks (Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung, im Folgenden: DOPK) bestimmt:
„Ein Geschäftsführer oder ein Mitglied eines Leitungsorgans, der bzw. das unredlich Sach- oder Geldleistungen aus dem Vermögen einer juristischen Person, die Schuldner nach Art. 14 Nr. 1 oder 2 ist, vornimmt, die eine verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden darstellen, oder Vermögen des Schuldners unentgeltlich oder zu Preisen überträgt, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind, wodurch das Vermögen des Schuldners verringert wird und daher Steuern oder gesetzliche Sozialversicherungsbeiträge nicht entrichtet wurden, haftet für die Schulden bis zur Höhe der vorgenommenen Leistungen bzw. der Verringerung des Vermögens.“
9 Art. 20 DOPK sieht vor:
„In den in Art. 19 geregelten Fällen findet die Sicherung und die Zwangsvollstreckung zunächst in das Vermögen des Schuldners statt, für dessen Steuer- oder Sozialversicherungsschuld gehaftet wird.“
10 Art. 21 Abs. 3 DOPK erläutert, dass die Haftung Dritter entfällt, wenn die Schuld, für die sie mit einem rechtskräftigen Rechtsakt festgestellt wurde, erlischt.
11 Art. 1 des Zakon za lihvite varhu danatsi, taksi i drugi podobni darzhavni vzemania (Gesetz über Zinsen auf Steuern, Gebühren und andere ähnliche staatliche Forderungen) (DV Nr. 91 vom 12. November 1957) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt:
„Die innerhalb der Fristen für die freiwillige Zahlung nicht gezahlten, nicht einbehaltenen oder einbehaltenen, aber nicht rechtzeitig entrichteten Steuern, Gebühren, Gewinnabzüge, Beiträge an den Haushalt und andere ähnliche öffentlich-rechtliche Forderungen werden nebst den gesetzlichen Zinsen eingezogen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12 Vom 14. April 2011 bis zum 30. April 2015 war MC Vorstand einer Handelsgesellschaft.
13 Im Jahr 2015 wurde gegen diese Gesellschaft ein Verfahren zur zwangsweisen Beitreibung öffentlich-rechtlicher Forderungen eingeleitet, das u. a. nicht entrichtete Mehrwertsteuerbeträge und auf diese Beträge geschuldete Verzugszinsen betraf.
14 Am 28. August 2018 hatte dieses Verfahren die Einziehung eines Betrags von nur 287 935,35 bulgarischen Leva (BGN) (etwa 148 115 Euro) ermöglicht. Der Gesamtbetrag der von dieser Gesellschaft noch nicht beglichenen öffentlich-rechtlichen Forderungen belief sich auf 3 799 590,92 BGN (etwa 1 954 522 Euro).
15 Da die Vollstreckungsbehörde feststellte, dass diese Forderungen bei dieser Gesellschaft kaum vollstreckbar seien, wandte sie sich an die örtlich zuständige Direktion der Natsionalnata agentsia za prihodite (Nationale Agentur für Einnahmen) (im Folgenden: Direktion), um gemäß Art. 19 Abs. 2 DOPK die persönliche Haftung von MC als Gesamtschuldner geltend zu machen.
16 Im Rahmen des letztgenannten Verfahrens wurde MC einer Prüfung unterzogen, bei der folgender Sachverhalt festgestellt werden konnte.
17 MC verrichtete vom 14. April 2011 bis zum 30. April 2015 bei der oben erwähnten Handelsgesellschaft Managementaufgaben. Nach den Erläuterungen von MC war das Gehalt, das er hierfür bezog, in einem mit dieser Gesellschaft geschlossenen Managementvertrag festgelegt. Dieser Vertrag konnte jedoch weder von MC noch von dieser Gesellschaft vorgelegt werden.
18 MC trug vor, sein monatliches Bruttogehalt sei ab dem 1. März 2014 von 3 000 BGN (etwa 1 543 Euro) auf 20 000 BGN (etwa 10 288 Euro) erhöht worden. Diese Erhöhung sei durch die Steigerung der Nettoeinnahmen und des Umsatzes dieses Unternehmens infolge des Abschlusses neuer Verträge gerechtfertigt gewesen.
19 Nach Auffassung der Direktion stellte der Betrag, um den die Nettovergütung von MC erhöht wurde, also 15 300 BGN (etwa 7 800 Euro) pro Monat eine verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden im Sinne von Art. 19 Abs. 2 DOPK für die Monate September, Oktober, November und Dezember 2014 sowie für Januar 2015 dar, was einem Gesamtbetrag von 76 500 BGN (etwa 39 352 Euro) entspreche. Sie ging auch davon aus, dass MC unredlich gehandelt habe.
20 Insbesondere stellte die Direktion fest, dass am 18. und 23. Dezember 2014 drei Zahlungen in Höhe von insgesamt 53 164,08 BGN (etwa 27 348 Euro) auf das Bankkonto der Ehefrau von MC geleistet worden seien. Außerdem ergab die gerichtliche Voruntersuchung, in der das Bankgeheimnis aufgehoben wurde, dass diese Zahlungen online vom „Kundenkonto“ des mit der Vertretung der Handelsgesellschaft, deren Vorstand MC war, betrauten Rechtsanwalts vorgenommen worden waren.
21 Nach Ansicht der Direktion übersteigt dieser Betrag von insgesamt 53 164,08 BGN, der auf das Konto der Ehefrau von MC überwiesen worden sei, um 45 900 BGN (etwa 23 611 Euro) die für einen dreimonatigen Zeitraum berechnete normale Nettovergütung von MC.
22 Die Direktion erließ gemäß Art. 19 Abs. 2 DOPK einen Haftungsbescheid, mit dem sie MC für die öffentlich-rechtlichen Schulden dieser Handelsgesellschaft in Höhe von 45 008,25 BGN (etwa 23 152 Euro) gesamtschuldnerisch haftbar machte. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlich-rechtlichen Schulden setzten sich aus der Einkommensteuer, den Sozialversicherungsbeiträgen und der Mehrwertsteuer zusammen und umfassten u. a. einen Betrag von 12 837,50 BGN (etwa 6 604 Euro), bei dem es sich um Zinsen auf die für Dezember 2014 geschuldete Mehrwertsteuer handelte.
23 MC legte gegen diesen Haftungsbescheid Einspruch beim Direktor ein, der seinen Einspruch zurückwies.
24 MC erhob daraufhin Klage beim vorlegenden Gericht und machte geltend, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 19 Abs. 2 DOPK nicht erfüllt seien.
25 Vor dem vorlegenden Gericht machte der Direktor zum einen geltend, dass MC eine Zugriffsberechtigung auf das Konto seiner Ehefrau habe, und zum anderen, dass er den Hauptbuchhalter der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Gesellschaft mit Überweisungen beauftragt habe.
26 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind diese Voraussetzungen erfüllt, so dass das Verhalten von MC die in dieser Bestimmung vorgesehene automatische gesamtschuldnerische Haftung auslöse. Es stehe fest, dass MC einem Dritten die Anweisung erteilt habe, einen der Gesellschaft, deren Vorstand er gewesen sei, gehörenden Betrag zugunsten einer mit ihm verbundenen natürlichen Person zu überweisen, oder zumindest, dass er von dieser Überweisung Kenntnis gehabt habe und somit im Sinne von Art. 19 Abs. 2 DOPK unredlich gehandelt habe. Außerdem seien aufgrund der Vermögensminderung dieser Gesellschaft in Höhe des im Haftungsbescheid ausgewiesenen Betrags die auf die Mehrwertsteuer geschuldeten Zinsen nicht gezahlt worden, die im Dezember 2014 festgesetzt worden seien.
27 Zur automatischen gesamtschuldnerischen Haftung nach Art. 19 Abs. 2 DOPK führte das vorlegende Gericht Folgendes aus.
28 Erstens betreffe die in dieser Bestimmung vorgesehene gesamtschuldnerische Haftung ausschließlich eine Person, die Geschäftsführer oder Mitglied eines Leitungsorgans eines Steuerpflichtigen mit Rechtspersönlichkeit sei.
29 Zweitens müsse diese Person unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet haben, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden könnten, oder dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen haben, die erheblich niedriger als die Marktpreise seien. Hingegen sei diese automatische Haftung nicht an das Vorliegen eines Betrugs oder einer missbräuchlichen Praxis der juristischen Person selbst geknüpft.
30 Drittens müssten die unredlich vorgenommenen Handlungen dazu führen, dass die juristische Person nicht in der Lage sei, Steuern (einschließlich Mehrwertsteuer) oder gesetzliche Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten. Mit anderen Worten könne diese automatische Haftung nur greifen, wenn ein Kausalzusammenhang zwischen den unredlich vorgenommenen Handlungen und der Unmöglichkeit bestehe, öffentlich-rechtliche Schulden bei dieser juristischen Person beizutreiben.
31 Viertens erstrecke sich die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene automatische Haftung für fremde Schuld nicht auf alle öffentlich-rechtlichen Schulden der juristischen Person, sondern beschränke sich auf die Höhe der Vermögensminderung, die dieser juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen entstanden sei.
32 Fünftens sei die eingeführte Haftung insofern subsidiär, als sich die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gemäß Art. 20 DOPK vorrangig gegen das Vermögen der juristischen Person richten müssten. Außerdem entfalle nach Art. 21 Abs. 3 DOPK diese Haftung, wenn die betreffenden öffentlich-rechtlichen Schulden erloschen seien.
33 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine solche Gesamtschuldregelung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
34 Erstens sei zu klären, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere ihr Art. 273, einem Mitgliedstaat gestattet, für eine Person, die nicht der Mehrwertsteuer unterliegt, eine gesamtschuldnerische Haftung für eine Mehrwertsteuerschuld zu begründen, sofern eine solche Regelung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union beiträgt.
35 Für den Fall, dass der Gerichtshof dies bejahen sollte, sei zweitens fraglich, ob von einer solchen Regelung insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Zinsen erfasst sein können, die bei verspäteter Zahlung der Mehrwertsteuer anfallen. Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf eine nicht einheitliche nationale Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 2 DOPK.
36 Für den Fall, dass der Gerichtshof dies ebenfalls bejahen sollte, möchte das vorlegende Gericht drittens wissen, ob es insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch dann gerechtfertigt ist, die bei verspäteter Zahlung der Steuer geschuldeten Zinsen unter die Haftung fallen zu lassen, wenn die Nichtabführung innerhalb der vorgesehenen Frist nicht auf das unredliche Verhalten der gesamtschuldnerisch haftbar gemachten Person, sondern auf das Verhalten einer dritten Person oder auf die Verwirklichung objektiver Umstände zurückzuführen ist.
37 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 9 des SFI-Übereinkommens in Verbindung mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehenen auf dem harmonisierten Gebiet der Mehrwertsteuer nicht entgegensteht, deren Anwendung dazu führt, dass eine nachträgliche gesamtschuldnerische Haftung einer nicht steuerpflichtigen natürlichen Person ausgelöst wird, die nicht die Mehrwertsteuer schuldet, deren unredliches Verhalten jedoch dazu führte, dass die Mehrwertsteuer durch die steuerpflichtige juristische Person, die der Steuerschuldner ist, nicht entrichtet wurde?
2. Erlauben es die Auslegung dieser Vorschriften und die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene nationale Regelung auch für die Zinsen gilt, die auf die durch den Steuerpflichtigen nicht rechtzeitig entrichtete Mehrwertsteuer erhoben werden?
3. Steht die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene nationale Regelung in einem Fall, in dem die verspätete Entrichtung der Mehrwertsteuer, die zur Verzinsung der Mehrwertsteuerschuld führte, nicht auf das Verhalten der nicht steuerpflichtigen natürlichen Person, sondern auf das Verhalten einer anderen Person oder die Verwirklichung objektiver Umstände zurückzuführen ist, im Widerspruch zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
38 Der Direktor hat die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens insgesamt bestritten und die Anwendbarkeit der in den Vorlagefragen genannten Bestimmungen des Unionsrechts unter den Umständen des Ausgangsverfahrens in Frage gestellt.
39 Insbesondere sei die Mehrwertsteuerrichtlinie nicht auf eine automatische gesamtschuldnerische Haftung anwendbar, die sich auf alle Kategorien von Steuern und Sozialversicherungsbeiträge beziehe, wie sie in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehen sei.
40 Insoweit ist hervorzuheben, dass der Umstand, dass die einschlägige nationale Regelung nicht zur Umsetzung der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurde, die Anwendbarkeit dieser Richtlinie nicht in Frage zu stellen vermag, da die Anwendung dieser Regelung die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie gewährleisten und insbesondere die den Mitgliedstaaten durch Art. 325 Abs. 1 AEUV auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten Handlungen erfüllen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 28).
41 Nach dieser Klarstellung sind die Bestimmungen des Unionsrechts zu ermitteln, die in Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens anwendbar sind.
42 Was als Erstes Art. 9 des SFI-Übereinkommens betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Übereinkommen durch die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) ersetzt wurde. Da diese Richtlinie jedoch erst am 17. August 2017 in Kraft getreten ist und sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in den Jahren 2014 und 2015 ereignet hat, kann nur das SFI-Übereinkommen auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung finden.
43 Das SFI-Übereinkommen erlegt den Mitgliedstaaten strafrechtliche Verpflichtungen auf. Insbesondere aus der Präambel sowie aus den Art. 1 und 2 des Übereinkommens ergibt sich nämlich, dass dieses die Mitgliedstaaten verpflichtet, zum einen Handlungen, die den Tatbestand des „Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union“ erfüllen, als Straftaten zu umschreiben, und zum anderen sicherzustellen, dass diese Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können.
44 Im vorliegenden Fall steht aber fest, dass eine Regelung wie die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene zum einen die Handlungen, die die gesamtschuldnerische Haftung hinsichtlich der Mehrwertsteuerschulden der juristischen Person auslösen können, nicht als Straftat umschreibt und zum anderen nicht durch Strafe ahndet.
45 Folglich ist das SFI-Übereinkommen, wie der Direktor und die Europäische Kommission zutreffend vorgetragen haben, auf eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in Art. 19 Abs. 2 DOPK vorgesehene nicht anwendbar.
46 Als Zweites hat der Direktor hilfsweise geltend gemacht, dass die in Art. 19 Abs. 2 DOPK festgelegte automatische Haftung unter Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie falle, wonach die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen bestimmen könnten, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten habe.
47 Hierzu ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in den in deren Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 genannten Fällen bestimmen können, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
48 Die Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmen die Steuerschuldner entsprechend dem Gegenstand von Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) dieser Richtlinie. Art. 193 der Richtlinie sieht zwar als Grundregel vor, dass die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige schuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, präzisiert jedoch auch, dass in den Fällen der Art. 194 bis 199b und 202 der Richtlinie andere Personen die Steuer schulden (können) (Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 27).
49 Aus dem Kontext der Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich somit, dass deren Art. 205 Teil einer Reihe von Vorschriften ist, die dazu dienen, in verschiedenen Situationen den Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen. Mit diesen Vorschriften soll der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von der in der jeweiligen Situation am besten geeigneten Person gewährleistet werden, und zwar insbesondere dann, wenn sich die Vertragsparteien nicht im selben Mitgliedstaat befinden oder wenn sich der mehrwertsteuerpflichtige Umsatz auf Geschäfte bezieht, deren Besonderheit es gebietet, eine andere Person als die in Art. 193 der Richtlinie genannte zu bestimmen (Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 28).
50 Daher ermöglicht es Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten grundsätzlich, im Hinblick auf eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine andere Person als die, die nach den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie normalerweise die Mehrwertsteuer schuldet, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 29).
51 Im vorliegenden Fall ist jedoch, wie die spanische Regierung und die Kommission zu Recht vorgetragen haben, festzustellen, dass eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht bezweckt, im Sinne von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Person zu bestimmen, die die Steuer auf einen bestimmten steuerbaren Umsatz schuldet.
52 Zum einen nämlich schuldet die gemäß dieser Regelung bestimmte Person nicht die Mehrwertsteuer auf einen bestimmten steuerbaren Umsatz, sondern haftet gesamtschuldnerisch für alle oder einen Teil der Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person, und zwar unabhängig von den betreffenden steuerbaren Umsätzen.
53 Zum anderen erstreckt sich diese Regelung nicht auf die gesamte Mehrwertsteuer, die für einen bestimmten steuerbaren Umsatz nicht abgeführt wurde, sondern beschränkt sich auf die Höhe der Vermögensminderung, die der juristischen Person aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person entstanden ist.
54 Eine solche Regelung ist insbesondere von denjenigen zu unterscheiden, auf die sich die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen beziehen, in denen die Urteile vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C-384/04, EU:C:2006:309), vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij (C-499/10, EU:C:2011:871), und vom 20. Mai 2021, ALTI (C-4/20, EU:C:2021:397), ergangen sind. Im Unterschied zu der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung bestimmten diese Regelungen gemäß Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Person zum Gesamtschuldner für die gesamte auf einen bestimmten steuerpflichtigen Umsatz geschuldete Mehrwertsteuer.
55 Nach alledem ist Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits nicht anwendbar.
56 Als Drittes bestimmt Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden.
57 Insoweit verpflichtet Art. 325 Abs. 1 AEUV die Mitgliedstaaten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu bekämpfen (Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C-612/15, EU:C:2018:392, Rn. 50 sowie vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung des Betrugs durch Unterbewertung], C-213/19, EU:C:2022:167, Rn. 209).
58 Nach dem Beschluss 2014/335/EU, Euratom, des Rates vom 26. Mai 2014 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union (ABl. 2014, L 168, S. 105) umfassen die Eigenmittel der Union u. a. die Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach Unionsvorschriften bestimmten harmonisierten Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlagen ergeben. Folglich besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union. Denn jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer führt potenziell zu einer Verringerung Letzterer (Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C-42/17, EU:C:2017:936, Rn. 31, sowie vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C-310/16, EU:C:2019:30, Rn. 26).
59 Um den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, obliegt es namentlich den Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Eigenmittel sicherzustellen, die in den Einnahmen bestehen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 182).
60 So geht u. a. aus den Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 325 Abs. 1 AEUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 47, vom 20. März 2018, Menci, C-524/15, EU:C:2018:197, Rn. 18, und vom 17. Mai 2018, Vámos, C-566/16, EU:C:2018:321, Rn. 37).
61 Im vorliegenden Fall trägt eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die durch Art. 19 Abs. 2 DOPK eingeführte zur Einziehung von Mehrwertsteuerbeträgen bei, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind. Eine solche Regelung trägt im Einklang mit der Verpflichtung aus Art. 325 Abs. 1 AEUV dazu bei, im Sinne von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und/oder Steuerhinterziehung zu vermeiden.
62 Diese Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Personen, die nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden, nämlich der Geschäftsführer oder das Mitglied eines Leitungsorgans der juristischen Person, in dieser Eigenschaft nicht selbst der Mehrwertsteuer unterliegen.
63 Insoweit geht zunächst aus dem Wortlaut von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in keiner Weise hervor, dass die von den Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung festgelegten Verpflichtungen nur mehrwertsteuerpflichtige Personen treffen könnten.
64 Sodann ist zum Kontext dieser Bestimmung festzustellen, dass sie zu Titel XI der Mehrwertsteuerrichtlinie gehört, dessen Überschrift ausdrücklich auf die „Pflichten der steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“ Bezug nimmt.
65 Was schließlich die mit Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgten Ziele betrifft, kann die in Rn. 60 des vorliegenden Urteils erwähnte Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen, unter bestimmten Umständen verlangen, dass ein Mitgliedstaat nichtsteuerpflichtige Personen bestraft, die an der Beschlussfassung innerhalb einer steuerpflichtigen juristischen Person beteiligt sind, da andernfalls die Wirksamkeit solcher Maßnahmen beeinträchtigt würde.
66 Daher fällt eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Anwendungsbereich von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie, ausgelegt im Licht von Art. 325 Abs. 1 AEUV.
67 Nach alledem sind die Fragen des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass mit ihnen um die Auslegung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ersucht wird.
Erste Frage
68 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person unter folgenden Umständen vorsieht:
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person ist Geschäftsführer der juristischen Person oder Mitglied eines ihrer Leitungsorgane;
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person hat unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder hat dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind;
– die unredlich vorgenommenen Handlungen haben bewirkt, dass die juristische Person nicht in der Lage ist, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer vollständig oder auch nur zum Teil abzuführen;
– die gesamtschuldnerische Haftung ist auf den Betrag beschränkt, um den das Vermögen der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen vermindert wurde, und
– diese gesamtschuldnerische Haftung wird nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
69 Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit zu klären, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihm festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angibt, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, und dass er diesen daher in Bezug auf die Mittel zur Sicherstellung der Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer und zur Betrugsbekämpfung einen Beurteilungsspielraum einräumt (vgl. u. a. Urteile vom 17. Mai 2018, Vámos, C-566/16, EU:C:2018:321, Rn. 38 und vom 21. November 2018, Fontana, C-648/16, EU:C:2018:932, Rn. 35).
70 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zur Einziehung von Mehrwertsteuerbeträgen beiträgt, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind, so dass sie dazu beiträgt, im Sinne von Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und/oder Steuerhinterziehung zu vermeiden. Folglich fällt eine solche Regelung grundsätzlich in den Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfügen.
71 Hinzukommt, dass eine solche Regelung zur Einhaltung der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Verpflichtung eines jeden Mitgliedstaats beiträgt, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und u. a. gemäß Art. 325 Abs. 1 AEUV den Betrug zu bekämpfen.
72 Allerdings sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (vgl. u. a. Urteile vom 21. November 2018, Fontana, C-648/16, EU:C:2018:932, Rn. 35, und vom 15. April 2021, Grupa Warzywna, C-935/19, EU:C:2021:287, Rn. 26).
73 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen müssen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Demnach ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 21 und 22, sowie vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 33).
74 Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass nationale Maßnahmen, die de facto ein System der verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung einführen, über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse zu schützen. Es ist daher als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den Machenschaften des Steuerschuldners nichts zu tun hat. Es wäre nämlich offenkundig unverhältnismäßig, dieser Person ohne wenn und aber den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat (Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).
75 Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Sicherstellung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer einen anderen Gesamtschuldner als den Steuerschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein. Es ist insbesondere Sache der Mitgliedstaaten, die besonderen Umstände festzulegen, unter denen eine Person wie der Empfänger eines steuerpflichtigen Umsatzes gesamtschuldnerisch für die Zahlung der von seinem Vertragspartner geschuldeten Steuer haftet, obwohl er diese durch Zahlung des Preises für diesen Umsatz bereits entrichtet hat (Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34).
76 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die Umstände, dass eine andere Person als der Steuerschuldner gutgläubig gehandelt hat, indem sie die Sorgfalt eines verständigen Wirtschaftsteilnehmers beachtet hat, dass sie alle ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass ihre Beteiligung an einem Missbrauch oder einem Betrug ausgeschlossen ist, Kriterien sind, die im Rahmen der Feststellung zu berücksichtigen sind, ob diese Person als Gesamtschuldner zu der geschuldeten Mehrwertsteuer herangezogen werden kann (Urteile vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 26, und vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 37).
77 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.
78 Genauer gesagt kann diese Regelung angesichts ihrer Merkmale nicht einem System der verschuldensunabhängigen gesamtschuldnerischen Haftung im Sinne der in den Rn. 74 bis 76 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gleichgestellt werden, das mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar wäre.
79 Erstens muss die zum Gesamtschuldner bestimmte Person die Eigenschaft eines Geschäftsführers oder Mitglieds eines Leitungsorgans der juristischen Person haben, die die Mehrwertsteuer schuldet, und kann daher als an der Beschlussfassung innerhalb dieser juristischen Person beteiligt angesehen werden.
80 Zweitens muss die zum Gesamtschuldner bestimmte Person unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet haben, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder dieses Vermögen ganz oder teilweise unentgeltlich oder zu Preisen übertragen haben, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind.
81 Drittens muss zwischen den Handlungen, die die zum Gesamtschuldner bestimmte Person unredlich vorgenommen hat, und der Unfähigkeit der juristischen Person, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer abzuführen, ein Kausalzusammenhang bestehen.
82 Viertens ist der Umfang der gesamtschuldnerischen Haftung auf die Vermögensminderung beschränkt, die der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen entstanden ist.
83 Fünftens schließlich wird diese Haftung nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
84 In Anbetracht der in den Rn. 72 bis 76 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist festzustellen, dass die Einführung einer solchen Regelung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.
85 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person unter folgenden Umständen vorsieht:
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person ist Geschäftsführer der juristischen Person oder Mitglied eines ihrer Leitungsorgane;
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person hat unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind;
– die unredlich vorgenommenen Handlungen haben bewirkt, dass die juristische Person nicht in der Lage ist, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer vollständig oder auch nur zum Teil abzuführen;
– die gesamtschuldnerische Haftung ist auf den Betrag beschränkt, um den das Vermögen der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen vermindert wurde, und
– diese gesamtschuldnerische Haftung wird nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
Zweite Frage
86 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer nicht innerhalb der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde.
87 Insoweit ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass die gesamtschuldnerische Haftung im Sinne der ersten Frage als solche auf die Höhe der Vermögensminderung beschränkt ist, die der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen entstanden ist. Allerdings sieht die nationale Regelung im Übrigen vor, dass die Einziehung von nicht fristgerecht abgeführten Steuern wie in Rn. 11 des vorliegenden Urteils ausgeführt „nebst den … Zinsen“ erfolgt, und das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob diese Regelung akzessorisch zu der in Rede stehenden automatischen gesamtschuldnerischen Haftung angewandt werden kann.
88 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Erhebung von Verzugszinsen im Fall der Nichtabführung der Mehrwertsteuer innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen dazu beiträgt, gemäß Art. 273 dieser Richtlinie eine genaue Erhebung dieser Steuer sicherzustellen.
89 Die Erhebung von Verzugszinsen ermöglicht es nämlich, den der Staatskasse durch die fehlende Verfügbarkeit der verspätet abgeführten Mehrwertsteuerbeträge entstandenen Schaden für den Zeitraum von dem Tag, an dem diese Beträge fällig sind, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie tatsächlich entrichtet werden, auszugleichen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C-591/10, EU:C:2012:478, Rn. 25 und 26 sowie vom 28. Februar 2018, Nidera, C-387/16, EU:C:2018:121, Rn. 25).
90 Sodann bringt die Erhebung von Verzugszinsen die betroffenen Personen auch dazu, die Mehrwertsteuer innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen oder so schnell wie möglich nach Ablauf dieser Fristen zu entrichten.
91 So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Säumniszuschlag bei Nichtabführung der Mehrwertsteuer innerhalb der festgesetzten Fristen eine geeignete Sanktion sein kann, sofern er nicht über das hinausgeht, was für die Erreichung des verfolgten Ziels, eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu verhindern, erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C-284/11, EU:C:2012:458, Rn. 75 und vom 17. Juli 2014, Equoland, C-272/13, EU:C:2014:2091, Rn. 46).
92 Daher trägt die Erhebung von Verzugszinsen im Einklang mit der den Mitgliedstaaten u. a. nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 325 Abs. 1 AEUV obliegenden Pflicht, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer sicherzustellen und den Betrug zu bekämpfen, zur Bekämpfung der nicht fristgerechten Abführung von ausgewiesenen Mehrwertsteuerbeträgen bei.
93 Schließlich steht es aus den in den Rn. 77 bis 84 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang, Verzugszinsen in eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende einzubeziehen, wenn diese Zinsen geschuldet werden, weil die mehrwertsteuerpflichtige juristische Person die Mehrwertsteuer aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Mai 2021, ALTI, C-4/20, EU:C:2021:397, Rn. 43 und 44).
94 Wie nämlich im Wesentlichen in Rn. 74 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine andere Person als der Steuerschuldner für den Verlust von Steuereinnahmen haftbar gemacht wird, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat.
95 Daher kann es nur dann mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen, die Verzugszinsen in eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die im Art. 19 Abs. 2 DOPK eingeführte einzubeziehen, sofern diese Zinsen geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden ist.
96 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde.
Dritte Frage
97 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde, wenn die verspätete Zahlung nicht auf das Verhalten der gesamtschuldnerisch haftbar gemachten Person, sondern auf das Verhalten einer anderen Person oder das Vorliegen objektiver Umstände zurückzuführen ist.
98 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 6. November 2008, Trespa International, C-248/07, EU:C:2008:607, Rn. 33 und vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C-160/20, EU:C:2022:101, Rn. 82).
99 Im vorliegenden Fall kommt die automatische gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 19 Abs. 2 DOPK, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben worden ist, nur zur Anwendung, wenn die Unfähigkeit der juristischen Person, ihre öffentlich-rechtlichen Schulden ganz oder teilweise zu begleichen, durch Handlungen verursacht wurde, die von der gesamtschuldnerisch haftbar gemachten Person unredlich vorgenommen wurden. Folglich kann diese Regelung von vorneherein nicht greifen, wenn die Nichtabführung der Mehrwertsteuer innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen auf das Verhalten einer anderen Person oder auf das Vorliegen objektiver Umstände zurückzuführen ist.
100 Außerdem hat das vorlegende Gericht in Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit weder das Verhalten einer anderen Person noch das Vorliegen objektiver Umstände festgestellt, die zur Nichtentrichtung der Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzten Frist geführt hätten.
101 Folglich steht die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits im Sinne der in Rn. 98 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, weshalb die dritte Vorlagefrage unzulässig ist.
Kosten
102 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person unter folgenden Umständen vorsieht:
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person ist Geschäftsführer der juristischen Person oder Mitglied eines ihrer Leitungsorgane;
– die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person hat unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder hat dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind;
– die unredlich vorgenommenen Handlungen haben bewirkt, dass die juristische Person nicht in der Lage ist, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer vollständig oder auch nur zum Teil abzuführen;
– die gesamtschuldnerische Haftung ist auf den Betrag beschränkt, um den das Vermögen der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen vermindert wurde, und
– diese gesamtschuldnerische Haftung wird nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.
2. Art. 273 der Richtlinie 2006/112 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer aufgrund der unredlichen Handlungen der zum Gesamtschuldner bestimmten Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Bulgarisch.