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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

11. Januar 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Anhang IV – Nr. 2 – Befristete Bestimmungen für bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen der Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen – Begriff ‚Privatwohnungen‘“

In der Rechtssache C-433/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2022, in dem Verfahren

Autoridade Tributária e Aduaneira

gegen

HPA – Construções SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter M. Safjan und M. Gavalec,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, C. Bento und A. Rodrigues als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Björkland und I. Melo Sampaio als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. September 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang IV Nr. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Autoritade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) (im Folgenden: Steuerverwaltung) und der HPA – Construções SA (im Folgenden: HPA) über den Mehrwertsteuersatz, der auf die von dieser Gesellschaft erbrachten Dienstleistungen bei der Restaurierung bestimmter Immobilien anwendbar ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Mehrwertsteuerrichtlinie enthält einen Titel VIII („Steuersätze“), zu dessen Kapitel 2 („Struktur und Höhe der Steuersätze“) u. a. die Art. 96 und 98 gehören.

4        Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

5        Art. 98 Abs. 1 und 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2)      Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.“

6        Zu Kapitel 3 („Befristete Bestimmungen für bestimmte arbeitsintensive Dienstleistungen“) von Titel VIII der Mehrwertsteuerrichtlinie gehören u. a. die Art. 106 und 107. Nach dem Zeitraum, um den es im Ausgangsrechtsstreit geht, wurden Titel VIII Kapitel 3 und Anhang IV der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 zur Änderung der Richtlinie 2006/112 in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze (ABl. 2009, L 116, S. 18) aufgehoben.

7        Art. 106 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission können die Mitgliedstaaten vom Rat [der Europäischen Union] einstimmig ermächtigt werden, bis zum 31. Dezember 2010 auf die in Anhang IV genannten Dienstleistungen die ermäßigten Steuersätze des Artikels 98 anzuwenden.

Die ermäßigten Steuersätze dürfen nur auf Dienstleistungen angewandt werden, die höchstens zwei der in Anhang IV genannten Kategorien angehören.

In Ausnahmefällen kann ein Mitgliedstaat auch ermächtigt werden, den ermäßigten Steuersatz auf Dienstleistungen anzuwenden, die drei der genannten Kategorien angehören.“

8        Art. 107 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die in Artikel 106 genannten Dienstleistungen müssen folgende Voraussetzungen erfüllen:

a)      [S]ie müssen arbeitsintensiv sein;

b)      sie müssen in weitgehendem Maße direkt an Endverbraucher erbracht werden;

…“

9        Anhang IV der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält das Verzeichnis der Dienstleistungen im Sinne ihres Art. 106. Anhang IV Nr. 2 lautet:

„Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen, mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen“.

 Portugiesisches Recht

10      Art. 18 Abs. 1 des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor:

„Es gelten folgende Steuersätze:

a)      für die Einfuhren, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die in Liste I im Anhang dieses Gesetzbuchs aufgeführt sind, beträgt der Steuersatz 5 %;

c)      für andere Einfuhren, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen beträgt der Steuersatz 21 %.“

11      In Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs heißt es:

„Werkverträge zum Zweck der Verbesserung, Umgestaltung, Renovierung, Restaurierung, Instandsetzung und Erhaltung von zu Wohnzwecken genutzten Immobilien oder eigenständigen Teilen solcher Immobilien, mit Ausnahme von Reinigungsarbeiten, Arbeiten zur Instandhaltung von Grünflächen und Werkverträgen betreffend Immobilien, die Bestandteile von Schwimmbädern, Saunas, Minigolf-, Tennis- oder Golfplätzen und ähnlichen Anlagen zur Gänze oder teilweise umfassen.

Der ermäßigte Satz gilt nicht für eingebaute Materialien, es sei denn, dass ihr Wert 20 % des Gesamtwerts der Dienstleistung nicht übersteigt.“

12      Zur Auslegung des in Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs verwendeten Ausdrucks „zu Wohnzwecken genutzte Immobilien oder eigenständige Teile solcher Immobilien“ hat die Steuerverwaltung u. a. mit dem Rundschreiben Nr. 30025 vom 7. August 2000 Leitlinien erlassen. Nach diesem Rundschreiben ist eine Immobilie als zu Wohnzwecken genutzt anzusehen, „wenn sie … zu Beginn der Arbeiten und nach deren Abschluss weiterhin tatsächlich als Privatwohnung Verwendung findet“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13      HPA ist eine Handelsgesellschaft, deren Zweck u. a. die Erbringung von Baudienstleistungen und Werkleistungen ist. Im Jahr 2007 schloss sie fünf Werkverträge zum Zweck der Neugestaltung städtischer Gebäude mit drei Handelsgesellschaften, den Eigentümerinnen der Immobilien, an denen die in diesen Verträgen vorgesehenen Arbeiten vorgenommen werden sollten.

14      In den Rechnungen über die im Rahmen der Verträge durchgeführten Renovierungs- und Reparaturdienstleistungen wandte HPA gemäß Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 5 % an.

15      Am 19. Januar 2011 nahm die Direção de Finanças de Lisboa (Finanzdirektion Lissabon, Portugal) bei HPA eine Steuerprüfung für das Jahr 2007 vor. Mit dieser Prüfung sollte festgestellt werden, ob die für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt waren, insbesondere die Voraussetzung, dass Dienstleistungen bei zu Wohnzwecken genutzten Immobilien durchgeführt wurden.

16      Im Anschluss an diese Prüfung erließ der Serviço de Finanças de Sintra-1 (Finanzamt Sintra-1, Portugal) am 10. Mai 2011 gegenüber HPA einen Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid in Höhe von 374 750,77 Euro, da er der Ansicht war, dass sie den ermäßigten Steuersatz nicht in Anspruch nehmen könne.

17      HPA erhob vor dem Tribunal Administrativo e Fiscal de Sintra (Verwaltungs- und Finanzgericht Sintra, Portugal) Klage gegen den Nacherhebungsbescheid. Mit Urteil vom 26. Juni 2020 gab dieses Gericht der Klage von HPA statt und hob den Nacherhebungsbescheid auf. Die Steuerverwaltung legte daraufhin beim Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein.

18      Vor diesem Gericht führt die Steuerverwaltung aus, Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs in ihrer Auslegung durch das Rundschreiben Nr. 30025 vom 7. August 2000 gelte nur für Dienstleistungen der Renovierung von Immobilien, die sowohl vor als auch nach Durchführung dieser Dienstleistungen tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt würden. Der in Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs vorgesehene ermäßigte Mehrwertsteuersatz sei deshalb nicht auf Renovierungsdienstleistungen bei Immobilien anwendbar, die wie jene, die Gegenstand der fünf in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten Werkverträge seien, nur insofern zu Wohnzwecken „bestimmt“ seien, als sie für diesen Zweck zugelassen seien, aber zum Zeitpunkt der Erbringung der Dienstleistungen nicht tatsächlich bewohnt gewesen seien.

19      Da Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie durch Nr. 2.24 der Liste I im Anhang des Mehrwertsteuergesetzbuchs in portugiesisches Recht umgesetzt wurde, hält das vorlegende Gericht es für erforderlich, den Gerichtshof um die Auslegung der erstgenannten Bestimmung zu ersuchen. Insbesondere müsse geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen auf Renovierungsdienstleistungen der für die in dieser Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Tätigkeiten der „Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen“ geltende ermäßigte Steuersatz angewandt werden könne.

20      Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, der Gerichtshof habe im Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes (C-218/21, EU:C:2022:355), entschieden, dass sich Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie zum einen auf zwei verschiedene Tätigkeiten beziehe, nämlich auf Renovierung und Reparatur, und zum anderen für Privatwohnungen gelte, d. h. für Immobilien, die zu privaten Wohnzwecken bestimmt seien und nicht zu gewerblichen Zwecken, als Dienstwohnungen oder – wie Hotels – für einen vorübergehenden Aufenthalt Verwendung fänden. Der Gerichtshof habe sich jedoch nicht zur Auslegung des Begriffs „Privatwohnungen“ geäußert.

21      Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Werkverträge zum Zweck der Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen angewandt werden kann, die zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen bewohnt sind?

 Zur Vorlagefrage

22      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Dienstleistungen der Reparatur und Renovierung von Privatwohnungen an die Voraussetzung geknüpft ist, dass diese zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt werden.

23      Bis zu seiner Aufhebung durch die Richtlinie 2009/47 ermächtigte Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Art. 106 die Mitgliedstaaten, auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit der „Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen, mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen“, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden.

24      In Ermangelung eines Verweises auf das Recht der Mitgliedstaaten und einer einschlägigen Definition in der Mehrwertsteuerrichtlinie ist die Wendung in ihrem Anhang IV Nr. 2 einheitlich und unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet wird, und der Ziele der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen (Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes, C-218/21, EU:C:2022:355, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Dabei ist zum üblichen Sinn der in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe und insbesondere des Ausdrucks „Privatwohnungen“ festzustellen, dass der Begriff „Wohnung“ im Allgemeinen einen unbeweglichen oder auch einen beweglichen Vermögensgegenstand oder einen Teil davon bezeichnet, der zu Wohnzwecken bestimmt ist und daher einer oder mehreren Personen als Wohnung dient. Außerdem ermöglicht der Zusatz „Privat-“ eine Abgrenzung zu nicht privaten Wohnungen wie Dienstwohnungen oder Hotels (Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes, C-218/21, EU:C:2022:355, Rn. 34).

26      Folglich müssen sich die in Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Dienstleistungen der Renovierung und Reparatur auf Gegenstände beziehen, die zu privaten Wohnzwecken genutzt werden, während Dienstleistungen in Bezug auf Gegenstände, die zu anderen Zwecken, wie z. B. gewerblichen Zwecken, verwendet werden, von dieser Bestimmung nicht erfasst werden (Urteil vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes, C-218/21, EU:C:2022:355, Rn. 35).

27      Da sich die von Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfassten Dienstleistungen nach der in den Rn. 25 und 26 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf Gegenstände beziehen, die einer oder mehreren Personen als Wohnung dienen und zu privaten Wohnzwecken genutzt werden, ist dem Wortlaut dieser Bestimmung zu entnehmen, dass sie auf eine tatsächliche Bestimmung dieser Gegenstände zu Wohnzwecken abzielt. Sowohl der Begriff der Wohnung als auch das Erfordernis der Verwendung eines Gegenstands nehmen nämlich auf seine konkrete Nutzung Bezug.

28      Daher ist in Anbetracht des Wortlauts von Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie davon auszugehen, dass zum einen eine Immobilie, die zwar für Wohnzwecke zugelassen ist, aber zu dem Zeitpunkt, zu dem die in Rede stehenden Renovierungs- oder Reparaturdienstleistungen durchgeführt werden, nicht tatsächlich zu diesem Zweck genutzt wird, nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt. Zum anderen sind von ihrem Anwendungsbereich Renovierungs- oder Reparaturdienstleistungen ausgenommen, die sich auf Gegenstände beziehen, die zum Zeitpunkt der Durchführung dieser Dienstleistungen von ihrem Eigentümer zu gewerblichen oder Investitionszwecken genutzt werden.

29      Die Auslegung, wonach der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur auf Renovierungs- und Reparaturdienstleistungen bei Gegenständen anwendbar ist, die tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt werden, wird durch den Kontext bestätigt, in den sich Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie einfügt.

30      Erstens stellt diese Bestimmung, da sie die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ermöglicht, nämlich eine Ausnahme vom Grundsatz der Anwendung des Normalsatzes dar und ist daher eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Segler-Vereinigung Cuxhaven, C-715/18, EU:C:2019:1138, Rn. 25, und vom 5. Mai 2022, DSR – Montagem e Manutenção de Ascensores e Escadas Rolantes, C-218/21, EU:C:2022:355, Rn. 40).

31      Zweitens ergibt sich aus Art. 106 in Verbindung mit Art. 107 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die in Anhang IV Nr. 2 der Richtlinie aufgeführten Dienstleistungen nur dann in den Genuss eines ermäßigten  Mehrwertsteuersatzes kommen konnten, wenn sie in weitgehendem Maße direkt an Endverbraucher erbracht wurden. Bei einer Renovierungs- oder Reparaturdienstleistung, die einer Gesellschaft oder einer natürlichen Person erbracht wird, in deren Eigentum eine zu Wohnzwecken bestimmte, aber nicht tatsächlich zu diesen Zwecken genutzte Wohnung steht, kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sie an einen Endverbraucher erbracht wurde; das Gleiche gilt für eine Renovierungsdienstleistung, die einer Gesellschaft oder einer natürlichen Person für einen Gegenstand erbracht wird, den sie in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit zu gewerblichen Zwecken und nicht als Wohnung nutzt.

32      Drittens steht, wie sich aus den Nrn. 31 bis 33 der Schlussanträge der Generalanwältin ergibt, eine Auslegung von Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung nur Dienstleistungen der Renovierung und Reparatur von Immobilien fallen, die zum Zeitpunkt der Durchführung der Arbeiten tatsächlich bewohnt sind, mit den Zielen im Einklang, die mit der Einführung eines auf die Begünstigung des Verbrauchers abzielenden ermäßigten Steuersatzes verfolgt werden.

33      Für einen zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer spielt es nämlich keine Rolle, ob die Renovierungs- oder Reparaturdienstleistungen dem Regelsteuersatz oder einem ermäßigten Steuersatz unterliegen, da er durch die Ausübung seines Rechts zum Vorsteuerabzug in jedem Fall von der auf diese Leistungen erhobenen Steuer entlastet wird. Der Endverbraucher, der die Immobilie, die Gegenstand der Arbeiten ist, tatsächlich bewohnt und nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, wird hingegen durch die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes auf solche Leistungen begünstigt.

34      Der Verbraucher kann somit dank der Anwendung dieses ermäßigten Steuersatzes Dienstleistungen der Renovierung und Reparatur der von ihm tatsächlich zu Wohnzwecken genutzten Wohnung zu geringeren als den Kosten in Anspruch nehmen, die er tragen müsste, wenn die Dienstleistungen zum Normalsatz besteuert würden. Der entscheidende Gesichtspunkt bei der Beurteilung der Frage, ob der Verbraucher durch die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes begünstigt werden kann, besteht aber darin, dass die Immobilie zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kosten entstehen, von ihm tatsächlich als Wohnung genutzt wird.

35      Viertens schließlich ist hinzuzufügen, dass eine Immobilie, um als tatsächlich bewohnt angesehen werden zu können, nicht zwingend während der Durchführung der Arbeiten von den Personen bewohnt werden muss, die sich dort dauerhaft aufhalten. Zum einen ändert sich eine tatsächliche Bestimmung zu Wohnzwecken nicht dadurch, dass die Immobilie nur einige Zeit im Jahr genutzt wird. Zum anderen ändert der Umstand, dass eine Privatwohnung für gewisse Zeit leer steht, nichts an ihrem Charakter als Privatwohnung.

36      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Anhang IV Nr. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, wonach die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Dienstleistungen der Reparatur und Renovierung von Privatwohnungen an die Voraussetzung geknüpft ist, dass die betreffenden Wohnungen zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt werden.

 Kosten

37      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Anhang IV Nr. 2 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

ist dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, wonach die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Dienstleistungen der Reparatur und Renovierung von Privatwohnungen an die Voraussetzung geknüpft ist, dass die betreffenden Wohnungen zum Zeitpunkt der Ausführung dieser Maßnahmen tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.