Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)
30. Januar 2024(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 203 – Verpflichtung zur Zahlung – Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist – Mehrwertsteuerpflichtiger – Von einem Mitarbeiter ausgestellte falsche Rechnungen, in denen die Daten seines Arbeitgebers ohne dessen Wissen und Zustimmung aufgeführt sind – Sorgfalt des Arbeitgebers“
In der Rechtssache C-442/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 26. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2022, in dem Verfahren
P sp. z o.o.
gegen
Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie,
Beteiligter:
Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der P sp. z o.o., vertreten durch B. Przeciechowski, Adwokat, und I. Skrok, Doradca podatkowy,
– des Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski,
– des Rzecznik Małych i Średnich Przedsiębiorców, vertreten durch P. Chrupek, Radca prawny,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und M. Rynkowski als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 21. September 2023
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der P sp. z o.o. (im Folgenden: Gesellschaft P) und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie (Direktor der Finanzverwaltungskammer Lublin, Polen) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen Mehrwertsteuerschulden, die falschen, von P. K. – einer Mitarbeiterin der Gesellschaft P – ausgestellten Rechnungen entsprechen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.
(2) Neben den in Absatz 1 genannten Personen gilt als Steuerpflichtiger jede Person, die gelegentlich ein neues Fahrzeug liefert, das durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung an den Erwerber nach einem Ort außerhalb des Gebiets eines Mitgliedstaats, aber im Gebiet der [Europäischen] Gemeinschaft versandt oder befördert wird.“
4 Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
5 Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
6 Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet wie folgt:
„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
Polnisches Recht
7 Art. 108 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2011, Nr. 177, Pos. 1054) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz), der Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie umsetzt, sieht vor:
„Stellt eine juristische Person, eine Organisationseinheit ohne Rechtspersönlichkeit oder eine natürliche Person eine Rechnung mit einem ausgewiesenen Steuerbetrag aus, so ist sie zu dessen Abführung verpflichtet.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Im Zeitraum 2001 bis 2014 war die mehrwertsteuerpflichtige Gesellschaft P u. a. im Bereich des Einzelhandels mit Treibstoff in einer Tankstelle tätig, die seit November 2005 von P. K., einer Arbeitnehmerin dieser Gesellschaft, geleitet wurde.
9 Im Anschluss an eine Steuerprüfung wurde festgestellt, dass diese Gesellschaft in der Zeit von Januar 2010 bis April 2014 1 679 Rechnungen ausgestellt hatte, in denen ein Mehrwertsteuerbetrag von insgesamt 1 497 847 Złoty (etwa 319 254 Euro) ausgewiesen war, der keine tatsächlichen Warenverkäufe an Unternehmen widerspiegelte, die die in diesen Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuer in Abzug gebracht hatten. Diese Rechnungen wurden nicht in der Buchführung der Gesellschaft P erfasst, und die entsprechende Mehrwertsteuer wurde weder an die Staatskasse abgeführt noch in den Steuererklärungen der Gesellschaft ausgewiesen.
10 Die streitigen Rechnungen waren fiktiv mit tatsächlichen Verkäufen verknüpft, die von der von P. K. geleiteten Tankstelle getätigt und in den Kassen der Gesellschaft P registriert wurden. Diesen Rechnungen waren nämlich echte Zahlungsbelege beigefügt, die tatsächlichen Umsätzen mit anderen Unternehmen als denjenigen entsprachen, die in den Rechnungen ausgewiesen waren. Sie wurden von P. K. ohne Zustimmung und Wissen der Geschäftsführung der Gesellschaft P ausgestellt und veräußert, damit die Unternehmen, die Empfänger dieser Rechnungen waren, eine Mehrwertsteuererstattung erschleichen konnten.
11 Die entsprechenden Zahlungsbelege wurden von Arbeitnehmern der Tankstelle eingesammelt und gegen einen finanziellen Vorteil an P. K. übergeben. Die streitigen Rechnungen wurden auf einem Computer der Tankstelle in einem anderen Format als die ordnungsgemäßen, durch die Gesellschaft P ausgestellten Rechnungen gespeichert, wobei ohne Entsperrung dieses Computers nicht auf sie zugegriffen werden konnte. P. K. nutzte die Daten der Gesellschaft P, indem sie diese als Ausstellerin der streitigen Rechnungen auswies und die steuerliche Identifikationsnummer dieser Gesellschaft auf den Rechnungen angab.
12 Am 24. Mai 2014 wurde P. K. wegen Fehlverhaltens entlassen.
13 Der Naczelnik Urzędu Skarbowego (Leiter des Finanzamts, Polen) erließ im Anschluss an die Steuerprüfung einen Bescheid, mit dem die Höhe der von der Gesellschaft P – aufgrund der von Januar 2010 bis April 2014 ausgestellten streitigen Rechnungen – geschuldeten Mehrwertsteuer festgesetzt wurde.
14 Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 bestätigte die Finanzverwaltung diesen Bescheid. Die Gesellschaft P habe nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt, um die Ausstellung der streitigen Rechnungen zu verhindern. Die genauen Zuständigkeiten von P. K. seien nämlich in keinem Dokument aufgeführt gewesen. Aufgrund ihrer Aufgaben habe P. K. außerhalb des computergestützten Buchhaltungssystems der Gesellschaft Rechnungen ausstellen können, die den Einnahmen der Tankstelle entsprochen hätten, und zwar ohne die Zustimmung ihrer Geschäftsführung. Da dem vorsitzenden Geschäftsführer dieser Gesellschaft bekannt gewesen sei, dass Rechnungen zu Zahlungsbelegen der Tankstelle ausgestellt worden seien, und zwar ohne Aufsicht durch die Buchhaltung, hätte er vorhersehen können und müssen, dass diese Funktionsweise die Ausstellung von Rechnungen zu betrügerischen Zwecken erleichtere. Gerade aufgrund des Fehlens einer angemessenen Aufsicht und Organisation habe der vorsitzende Geschäftsführer der Gesellschaft P das streitige Handeln erst anlässlich der von der Finanzverwaltung durchgeführten Kontrolle aufgedeckt. Daraus folge, dass P. K. in Bezug auf die Gesellschaft P nicht als Dritte angesehen werden könne.
15 Außerdem sei das Risiko eines Steuerausfalls für die Finanzverwaltung nicht ausgeschlossen gewesen, so dass Art. 108 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes anwendbar sei.
16 Mit Entscheidung vom 23. Februar 2018 wies der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Lublinie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Lublin, Polen) die von der Gesellschaft P gegen die Entscheidung der Finanzverwaltung erhobene Klage ab. Daraufhin legte diese Gesellschaft beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Kassationsbeschwerde ein.
17 Nach den Angaben dieses Gerichts gibt es zur Auslegung von Art. 108 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes, mit dem Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werde, zwei widerstreitende Rechtsprechungslinien der nationalen Gerichte.
18 Nach einer ersten Auslegung sei bei der Anwendung dieser Bestimmung nicht zu berücksichtigen, dass eine Arbeitnehmerin die streitigen Rechnungen unter Verwendung des Namens und der steuerlichen Identifikationsnummer ihres Arbeitgebers ausgestellt habe. Es genüge nämlich die Feststellung, dass diese Arbeitnehmerin berechtigt gewesen sei, Rechnungen auszustellen, und dass die Gesellschaft, bei der sie beschäftigt gewesen sei, daher die mit der Auswahl ihrer Arbeitnehmer verbundenen Risiken zu tragen habe. Eine Befreiung des Arbeitgebers im Fall der Ausstellung von Rechnungen durch seinen Arbeitnehmer liefe darauf hinaus, diese Haftung auf den Mitgliedstaat zu übertragen, was nicht hinnehmbar wäre. Bei einer solchen Auslegung müsste jedoch festgestellt werden, ob diese Haftung objektiv oder verschuldensabhängig sei. Im letztgenannten Fall wäre die Gesellschaft, deren Daten in der streitigen Rechnung angegeben seien, nur dann zur Zahlung der Mehrwertsteuer verpflichtet, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt oder ihre Aufsichtspflicht verletzt hätte.
19 Nach einer zweiten Auslegung werde ein Unternehmer, dessen Daten sich ein anderer Unternehmer unrechtmäßig angeeignet habe, nicht als Aussteller einer streitigen Rechnung angesehen und sei daher nicht nach Art. 108 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes zur Abführung der in dieser Rechnung ausgewiesenen Mehrwertsteuer verpflichtet. Diese Bestimmung bringe klar zum Ausdruck, dass der Unternehmer, der „die Rechnung ausstellt“, und nicht der Unternehmer, dessen Daten unbefugt verwendet worden seien, zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet sei. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass sich eine solche Auslegung auch aus dem Wortlaut von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben könne.
20 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass ein Arbeitnehmer eines Mehrwertsteuerpflichtigen ohne dessen Wissen und Zustimmung eine falsche Mehrwertsteuerrechnung mit den Angaben des Arbeitgebers ausstellt, der als der Steuerpflichtige angegeben wird, als diejenige Person, die die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet ist, anzusehen ist:
– der Mehrwertsteuerpflichtige, dessen Angaben unrechtmäßig in der Rechnung verwendet wurden, oder
– der Arbeitnehmer, der in der Rechnung unter Verwendung der Angaben des Mehrwertsteuerpflichtigen unrechtmäßig die Mehrwertsteuer ausgewiesen hat?
2. Ist es für die Bestimmung, wer unter den in der ersten Frage genannten Umständen im Sinne von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie als derjenige anzusehen ist, der die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet ist, erheblich, ob dem Mehrwertsteuerpflichtigen, der den Arbeitnehmer beschäftigt, der in der Mehrwertsteuerrechnung unrechtmäßig die Angaben des ihn beschäftigenden Steuerpflichtigen verwendet hat, die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt bei der Aufsicht über den Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann?
Zu den Vorlagefragen
21 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass ein Arbeitnehmer eines Mehrwertsteuerpflichtigen ohne dessen Wissen und Zustimmung eine falsche Mehrwertsteuerrechnung unter Verwendung der Identität seines Arbeitgebers als Steuerpflichtigen ausstellt, dieser Arbeitnehmer als diejenige Person anzusehen ist, die die Mehrwertsteuer im Sinne dieses Artikels ausweist.
22 Nach Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie schuldet jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist, die in dieser Rechnung ausgewiesene Steuer.
23 Was erstens den Anwendungsbereich dieses Artikels betrifft, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer vom Aussteller dieser Rechnung geschuldet wird, auch wenn jeder tatsächlich steuerpflichtige Umsatz fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C-642/11, EU:C:2013:54, Rn. 38, und vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C-378/21, EU:C:2022:968, Rn. 19).
24 Nach ständiger Rechtsprechung soll Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie nämlich der Gefährdung des Steueraufkommens entgegenwirken, die sich aus dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Recht auf Vorsteuerabzug ergeben könnte (Urteile vom 31. Januar 2013, Stroy trans, C-642/11, EU:C:2013:54, Rn. 32, und vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C-378/21, EU:C:2022:968, Rn. 20). Er kommt folglich zur Anwendung, wenn die Mehrwertsteuer zu Unrecht in Rechnung gestellt wurde und eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt, weil der Adressat der in Rede stehenden Rechnung sein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C-378/21, EU:C:2022:968, Rn. 21).
25 So schuldet der Aussteller einer Rechnung, in der ein Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen ist, diesen Betrag unabhängig von einem Verschulden, wenn eine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegt. Ist dagegen eine solche Gefährdung ausgeschlossen, findet Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Anwendung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Finanzamt Österreich [Endverbrauchern fälschlicherweise in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer], C-378/21, EU:C:2022:968, Rn. 24).
26 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die streitigen Rechnungen zu betrügerischen Zwecken ausgestellt wurden. Mehrwertsteuerbeträge wurden nämlich fiktiv in Rechnung gestellt, um es den Adressaten dieser Rechnungen zu ermöglichen, in betrügerischer Weise ein Recht auf Vorsteuerabzug zu erlangen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Gefährdung des Steueraufkommens nicht ausgeschlossen sei, da das Recht auf Vorsteuerabzug, auf das sich die Adressaten dieser Rechnungen berufen könnten, nicht durch die Zahlung des entsprechenden Betrags durch den Aussteller dieser Rechnungen ausgeglichen werde. Eine solche Situation fällt daher grundsätzlich in den Anwendungsbereich von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie, solange eine solche Gefährdung besteht.
27 Was zweitens die Identifizierung des Adressaten der in diesem Artikel festgelegten Verpflichtung betrifft, ist festzustellen, dass die Verwendung des Ausdrucks „jede Person“ darauf hindeutet, dass dieser Adressat nicht notwendigerweise ein Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie sein muss. Eine nicht steuerpflichtige natürliche Person kann daher grundsätzlich der in Art. 203 dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtung unterliegen, wenn sie die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist.
28 Der Wortlaut dieses Artikels erlaubt es jedoch nicht, die Frage zu beantworten, wer die „Person, die die Mehrwertsteuer ausweist“, im Sinne von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, wenn die Mehrwertsteuer-Identifikationsdaten des mehrwertsteuerpflichtigen scheinbaren Ausstellers der Rechnung unbefugt verwendet wurden und es sich bei dieser Rechnung um eine falsche Rechnung handelt, die ein Arbeitnehmer dieses Steuerpflichtigen zum Zweck des Mehrwertsteuerbetrugs ausgestellt hat. Der Ausdruck „jede Person“ könnte sich nämlich wegen seines allgemeinen und undifferenzierten Charakters sowohl auf den Steuerpflichtigen als auch auf den Arbeitnehmer beziehen.
29 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf die Bestimmungen des Unionsrechts unzulässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Gemeente Leusden und Holin Groep, C-487/01 und C-7/02, EU:C:2004:263, Rn. 76, sowie vom 2. Juli 2020, Terracult, C-835/18, EU:C:2020:520, Rn. 38).
30 Diesem Ziel liefe es zuwider, Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass der scheinbare Aussteller einer betrügerischen Mehrwertsteuerrechnung, dessen Identität als Mehrwertsteuerpflichtiger unbefugt verwendet wurde, die „Person, die die Mehrwertsteuer ausweist“, im Sinne dieses Artikels ist, wenn dieser scheinbare Aussteller gutgläubig ist und die Finanzverwaltung die Identität der Person, die diese falsche Rechnung tatsächlich ausgestellt hat, kennt. In einem solchen Fall ist daher ebendiese Person als die „Person, die die Mehrwertsteuer ausweist“, im Sinne von Art. 203 anzusehen.
31 Im vorliegenden Fall hat eine Arbeitnehmerin die Daten ihres Arbeitgebers ohne dessen Wissen und Zustimmung für die Ausstellung falscher Mehrwertsteuerrechnungen verwendet, in denen der Arbeitgeber als Steuerpflichtiger ausgewiesen wurde, um die Rechnungen unrechtmäßig zu veräußern, damit die Käufer unberechtigterweise von einem Recht auf Vorsteuerabzug profitieren konnten.
32 In seiner Vorlageentscheidung weist das vorlegende Gericht jedoch darauf hin, dass der Arbeitgeber nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt habe, um die Ausstellung betrügerischer Rechnungen zu verhindern. Die betreffende Arbeitnehmerin sei nämlich für die Erteilung von Rechnungen zuständig gewesen und habe u. a. die Befugnis gehabt, außerhalb des computergestützten Rechnungsstellungssystems Mehrwertsteuerrechnungen auszustellen, ohne dass es einer zusätzlichen Zustimmung ihres Arbeitgebers bedurft hätte. Die Finanzverwaltung sei daher davon ausgegangen, dass der Arbeitgeber seine Aufsichtspflicht verletzt habe und dass seine Fahrlässigkeit ihn daran gehindert habe, betrügerische Praktiken seiner Arbeitnehmerin aufzudecken und zu verhindern. Sie habe somit die Ansicht vertreten, dass der Arbeitgeber als die Person anzusehen sei, die die Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie ausgewiesen habe, und dass er daher in Anwendung der nationalen Bestimmung, mit der Art. 203 umgesetzt werde, zur Entrichtung der in den streitigen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer verpflichtet sei.
33 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung, die unter Umständen entwickelt wurde, die sich zugegebenermaßen von denen des Ausgangsverfahrens unterscheiden, nicht gegen das Unionsrecht verstößt, wenn von einem Wirtschaftsteilnehmer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug führt (Urteile vom 27. September 2007, Teleos u. a., C-409/04, EU:C:2007:548, Rn. 65, und vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 54).
34 Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass, wenn Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein kann, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (Urteil vom 21. Juni 2012, Mahagében und Dávid, C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 60).
35 In Anbetracht des in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Ziels muss aber eine ähnliche Sorgfaltspflicht im Rahmen von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie einem Arbeitgeber gegenüber seinem Arbeitnehmer obliegen, insbesondere wenn dieser Arbeitnehmer dafür zuständig ist, im Namen und auf Rechnung seines Arbeitgebers Mehrwertsteuerrechnungen auszustellen. Daher kann ein solcher mehrwertsteuerpflichtiger Arbeitgeber nicht als gutgläubig angesehen werden, wenn er nicht die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt hat, um das Handeln seines Arbeitnehmers zu überwachen und dadurch zu verhindern, dass dieser seine Mehrwertsteuer-Identifikationsdaten für die Ausstellung falscher Rechnungen zu betrügerischen Zwecken verwenden kann. In einem solchen Fall kann ihm das betrügerische Handeln seines Arbeitnehmers zugerechnet werden, so dass er als die Person anzusehen ist, die die Mehrwertsteuer in den streitigen Rechnungen im Sinne von Art. 203 ausgewiesen hat.
36 Unter diesen Umständen ist es daher Sache der Finanzverwaltung oder des angerufenen Gerichts, eine Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände vorzunehmen, um festzustellen, ob der Steuerpflichtige, dessen Mehrwertsteuer-Identifikationsdaten von seinem Arbeitnehmer unbefugt für die Ausstellung falscher Rechnungen zu Betrugszwecken verwendet wurden, die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt hat, um das Handeln dieses Arbeitnehmers zu überwachen. Ist dies nicht der Fall, ist dieser Steuerpflichtige gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Entrichtung der in diesen Rechnungen ausgewiesenen Mehrwertsteuer verpflichtet.
37 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass ein Arbeitnehmer eines Mehrwertsteuerpflichtigen ohne dessen Wissen und Zustimmung eine falsche Mehrwertsteuerrechnung unter Verwendung der Identität seines Arbeitgebers als Steuerpflichtigen ausstellt, dieser Arbeitnehmer als diejenige Person anzusehen ist, die die Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 203 ausweist, es sei denn, der Steuerpflichtige hat nicht die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt, um das Handeln des Arbeitnehmers zu überwachen.
Kosten
38 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 203 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
in dem Fall, dass ein Arbeitnehmer eines Mehrwertsteuerpflichtigen ohne dessen Wissen und Zustimmung eine falsche Mehrwertsteuerrechnung unter Verwendung der Identität seines Arbeitgebers als Steuerpflichtigen ausstellt, dieser Arbeitnehmer als diejenige Person anzusehen ist, die die Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 203 ausweist, es sei denn, der Steuerpflichtige hat nicht die zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt, um das Handeln des Arbeitnehmers zu überwachen.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Polnisch.