Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)
18. April 2024(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Anwendungsbereich – Wirtschaftliche Tätigkeit – Dienstleistungen – Art. 135 – Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten – Gewährung von Krediten – Versteigerung verpfändeter Sachen – Einheitliche Leistung – Getrennte und selbständige Leistungen – Wesen einer Leistung als Haupt- oder Nebenleistung“
In der Rechtssache C-89/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) mit Entscheidung vom 25. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 2023, in dem Verfahren
Companhia União de Crédito Popular SA
gegen
Autoridade Tributária e Aduaneira
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, R. Campos Laires und A. Rodrigues als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Afonso und M. Herold als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Companhia União de Crédito Popular SA (im Folgenden: CUCP) und der Autoridade Tributária e Aduaneira (Steuer- und Zollbehörde, Portugal) über die Zahlung von Mehrwertsteuer auf Umsätze im Zusammenhang mit der Versteigerung von Sachen, die im Rahmen einer Pfandleihe als Sicherheit gestellt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.“
4 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt“.
5 Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
6 Art. 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:
a) Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;
b) Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger fordert.
Die Mitgliedstaaten können als Nebenkosten im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b Kosten ansehen, die Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sind.“
7 In Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
b) die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber“.
Portugiesisches Recht
Zivilgesetzbuch
8 Art. 666 Abs. 1 des Código Civil (Zivilgesetzbuch) sieht vor:
„Das Pfandrecht verleiht dem Gläubiger mit Vorrang vor anderen Gläubigern das Recht auf Befriedigung seiner Forderung, gegebenenfalls zuzüglich Zinsen, in Höhe des Wertes einer bestimmten beweglichen Sache oder von Forderungen oder anderen nicht hypothekarisch besicherbaren Rechten des Schuldners oder eines Dritten.“
9 Art. 1142 des Zivilgesetzbuchs lautet:
„Der Darlehensvertrag ist ein Vertrag, durch den eine Partei einer anderen Partei einen Geldbetrag oder eine andere vertretbare Sache zur Verfügung stellt, wobei letztere Partei zur Rückgabe einer Sache gleicher Art und Güte verpflichtet ist.“
10 Art. 1150 des Zivilgesetzbuchs lautet:
„Der Darlehensgeber kann den Vertrag kündigen, wenn der Darlehensnehmer die Zinsen bei Fälligkeit nicht zahlt.“
Mehrwertsteuergesetzbuch
11 Art. 1 Abs. 1 Buchst. a des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
a) Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt bewirkt.“
12 Art. 9 Nr. 27 Buchst. a und b des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmt:
„Von der Steuer befreit sind:
…
27) die folgenden Umsätze:
a) die Gewährung und Vermittlung von Krediten in jeder Form, einschließlich Umsätzen im Diskont- und Rediskontgeschäft, sowie ihre Verwaltung durch den Kreditgeber;
b) die Vermittlung und Übernahme von Bürgschaften, Wechselbürgschaften, Kautionen und anderen Sicherheiten sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten durch den Kreditgeber“.
13 Art. 16 des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmt:
„(1) Unbeschadet der Abs. 2 und 10 entspricht die Steuerbemessungsgrundlage bei steuerpflichtigen Lieferungen von Gegenständen und steuerpflichtigen Dienstleistungen dem Wert der vom Erwerber, vom Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhaltenen oder zu erhaltenden Gegenleistung.
…
(5) In die Steuerbemessungsgrundlage sind bei steuerpflichtigen Lieferungen von Gegenständen und steuerpflichtigen Dienstleistungen einzubeziehen:
a) Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;
b) für Rechnung des Kunden getragene Nebenkosten, z. B. betreffend Provisionen, Verpackung, Beförderung, Versicherungen und Werbung;
…“
Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 365/99
14 Art. 1 Abs. 2 des Decreto-Lei n.o 365/99, estabelece o regime jurídico do acesso, do exercício e da fiscalização da actividade de prestamista (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 365/99 zur rechtlichen Regelung der Aufnahme, Ausübung und Kontrolle der Tätigkeit des Pfandleihers) vom 17. September 1999 in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 365/99) bestimmt:
„Als Tätigkeit eines Pfandleihers gilt die Gewährung von durch ein Pfandrecht besicherten Darlehen durch eine natürliche oder juristische Person.“
15 Art. 18 Abs. 1 der Gesetzesvertretenden Verordnung lautet:
„Die Freigabe der verpfändeten Sachen setzt die vorherige Zahlung der Hauptforderung, der Zinsen und der gesetzlich geschuldeten Provisionen voraus.“
16 Art. 20 Abs. 1 der Gesetzesvertretenden Verordnung bestimmt:
„Bei Verzug von mehr als drei Monaten kann die verpfändete Sache im Wege eines Angebots in verschlossenem Umschlag, einer Versteigerung oder eines Direktverkaufs an Abnehmer verkauft werden, die nach dem Gesetz zum Erwerb bestimmter Sachen berechtigt sind.“
17 Art. 23 der Gesetzesvertretenden Verordnung lautet:
„(1) Die Versteigerung erfolgt in Anwesenheit eines Vertreters der Zivilverwaltung an dem Tag und zu der Uhrzeit, die in den Verkaufsanzeigen angegeben sind.
(2) Die verpfändeten Sachen werden demjenigen, der das höchste Gebot abgegeben hat, gegen Hinterlegung des entsprechenden Betrags zugesprochen.
(3) Liegt kein einziges Kaufangebot vor, bleiben die betreffenden Sachen einer weiteren Versteigerung oder einem Verkauf im Wege von Angeboten in verschlossenem Umschlag vorbehalten.“
18 Art. 25 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99 lautet:
„Auf den Zuschlagspreis wird eine Verkaufsprovision in Höhe von 11 % zugunsten des Pfandleihers erhoben.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
19 CUCP ist eine Gesellschaft portugiesischen Rechts, die als Pfandleiherin tätig ist und durch bewegliche Sachen besicherte Darlehen gewährt. Diese Tätigkeit ist nach Art. 9 Nr. 27 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs, der die Gewährung und Vermittlung von Krediten betrifft, von der Mehrwertsteuer befreit.
20 Wenn die Darlehensnehmer die verpfändeten Sachen nicht auslösen oder mehr als drei Monate mit der Rückzahlung des Darlehensbetrags oder der Zahlung der damit verbundenen Zinsen in Verzug sind, führt CUCP eine Versteigerung dieser Sachen durch. Dabei erhält sie auf der Grundlage von Art. 25 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99 eine Verkaufsprovision zu Lasten des Darlehensnehmers. Die Provision beträgt nach der genannten Vorschrift 11 % des Zuschlagspreises für die Sachen.
21 Im Rahmen einer Steuerprüfung für die Jahre 2010 und 2011 stellte die Steuer- und Zollbehörde fest, dass CUCP die Verkaufsprovisionen nicht der Mehrwertsteuer unterworfen habe.
22 Sie war der Ansicht, dass diese Provisionen keine Nebenleistung zum durch ein Pfandrecht besicherten Darlehensvertrag, sondern einen von der Gewährung des Darlehens unabhängigen Umsatz darstellten und daher nicht für die Befreiung nach Art. 9 Nr. 27 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs in Betracht kämen.
23 Daher besteuerte die Steuer- und Zollbehörde diese Provisionen zum normalen Mehrwertsteuersatz und nahm dementsprechend Berichtigungen des von CUCP für die Jahre 2010 und 2011 geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags in Höhe von 107 124,33 Euro bzw. 201 419,52 Euro vor.
24 Am 6. Mai 2013 bestätigte sie diese Berichtigungen.
25 Mit Bescheiden vom 30. Mai 2014 und vom 10. Dezember 2014 wies die Steuer- und Zollbehörde den Einspruch bzw. den Widerspruch von CUCP u. a. mit der Begründung zurück, dass die Versteigerung der verpfändeten Sachen kein Mittel darstelle, um die Hauptleistung des Darlehensgebers, d. h. das durch ein Pfandrecht besicherte Darlehen, unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen, sondern einen eigenen Zweck. Die Versteigerung könne in Anbetracht des Urteils vom 21. Februar 2008, Part Service (C-425/06, EU:C:2008:108), nicht als Nebenleistung zu dieser Hauptleistung angesehen werden. Außerdem sei die Versteigerung lediglich ein Mechanismus zur Einziehung von Forderungen bei den Darlehensnehmern, der es dem Darlehensgeber ermögliche, die beim Abschluss des Vertrags über das durch ein Pfandrecht besicherte Darlehen gestellte Sicherheit in Anspruch zu nehmen, und sei nicht Teil dieses Vertrags.
26 Am 30. April 2015 erhob CUCP eine Klage beim Tribunal Administrativo e Fiscal do Porto (Verwaltungs- und Finanzgericht Porto, Portugal), die abgewiesen wurde. Daraufhin legte sie beim vorlegenden Gericht, dem Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal), ein Rechtsmittel ein.
27 Vor diesem Gericht macht CUCP zum einen geltend, die Durchführung der Versteigerung könne nicht vom durch ein Pfandrecht besicherten Darlehen getrennt werden, dessen Gewährung von der Mehrwertsteuer befreit sei. Zum anderen sei die Verkaufsprovision, deren Satz vom Gesetzgeber festgelegt werde, nicht die Gegenleistung für eine Dienstleistung, sondern habe den Charakter einer Gebühr.
28 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass die in Art. 25 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99 vorgesehene Verkaufsprovision den Darlehensgeber für die Organisation und Durchführung des Verkaufs der in seiner Obhut befindlichen verpfändeten Sachen entschädigen solle. Folglich sei die Verkaufsprovision nicht die Gegenleistung für eine öffentliche Dienstleistung und habe nicht den Charakter einer Gebühr.
29 Zur Frage, ob die Versteigerung akzessorischen Charakter im Verhältnis zum Vertrag über ein durch ein Pfandrecht besichertes Darlehen hat, ist das vorlegende Gericht in Anbetracht des Urteils vom 4. März 2021, Frenetikexito (C-581/19, EU:C:2021:167), der Ansicht, Versteigerungen verpfändeter Sachen gehörten nicht zu den Kreditvergabedienstleistungen und bildeten daher mit Letzteren keinen einheitlichen Umsatz.
30 Die Kreditvergabe könne nämlich uneingeschränkt auch dann erfolgen, wenn ein Dritter den Verkauf der verpfändeten Sachen übernehme. Außerdem hänge der Vertrag über ein durch ein Pfandrecht besichertes Darlehen weder materiell noch formal davon ab, wer die verpfändeten Sachen bei Nichterfüllung des Vertrags verkaufe.
31 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, es sei in Anbetracht der Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften die Versteigerung verpfändeter Sachen regelten und die Durchführung der Versteigerung dem Darlehensgeber auferlegten, nicht ausgeschlossen, dass diese Tätigkeit als Nebenleistung zur Gewährung des durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens eingestuft werden könne.
32 Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist zur Klärung der Frage, ob für die Provision in Höhe von 11 %, die Art. 25 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99 dem Darlehensgeber für den Verkauf von als Pfand übergegebenen Sachen gewährt, die nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie (dem Art. 9 Nr. 27 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzbuchs entspricht) vorgesehene Befreiung in Anspruch genommen werden kann, der Verkauf der als Pfand übergebenen Sachen (Art. 19 ff. der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99), wenn der Darlehensnehmer die rechtlich vorgesehenen Zahlungen nicht mehr leistet, als Nebenleistung zu den vom Darlehensgeber erbrachten Dienstleistungen (Gewährung eines durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens) anzusehen?
Zur Vorlagefrage
33 Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Leistungen im Zusammenhang mit der Durchführung einer Versteigerung verpfändeter Sachen Nebenleistungen zu den Hauptleistungen im Zusammenhang mit der Gewährung eines durch ein Pfandrecht besicherten Kredits im Sinne dieser Bestimmung sind, so dass sie hinsichtlich der Mehrwertsteuer das steuerliche Schicksal der Hauptleistungen teilen.
34 Nach ständiger Rechtsprechung ist bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, um zu bestimmen, ob dieser Umsatz für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei oder mehr getrennte Leistungen oder eine einheitliche Leistung umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2023, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, C-282/22, EU:C:2023:312, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Insbesondere ergibt sich zwar aus Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass jeder Umsatz in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, doch darf ein Umsatz, der eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt, im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden. Eine einheitliche Leistung liegt dann vor, wenn zwei oder mehr Einzelleistungen oder Handlungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (Urteil vom 20. April 2023, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, C-282/22, EU:C:2023:312, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Unter bestimmten Umständen sind ferner mehrere formal eigenständige Leistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, als einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht voneinander unabhängig sind (Urteil vom 20. April 2023, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, C-282/22, EU:C:2023:312, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Das ist namentlich dann der Fall, wenn ein oder mehrere Teile als die Hauptleistung, andere Teile dagegen als eine oder mehrere Nebenleistungen anzusehen sind, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Insoweit ist ein zu berücksichtigendes Kriterium, dass aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers ein eigenständiger Zweck der Leistung fehlt. So ist eine Leistung dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2023, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, C-282/22, EU:C:2023:312, Rn. 30 und vom 5. Oktober 2023, Deco Proteste – Editores, C-505/22, EU:C:2023:731, Rn. 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Ob die betreffende Leistung unter den Umständen des konkreten Falles eine einheitliche Leistung darstellt, haben im Rahmen der mit Art. 267 AEUV errichteten Zusammenarbeit die nationalen Gerichte festzustellen, die dazu alle endgültigen Tatsachenbeurteilungen vorzunehmen haben (Urteil vom 20. April 2023, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, C-282/22, EU:C:2023:312, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat jedoch den nationalen Gerichten alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können (Urteil vom 17. Dezember 2020, Franck, C-801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Das Ausgangsverfahren betrifft die Versteigerung von Sachen, die im Rahmen eines durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens verpfändet wurden, bei dem der Darlehensnehmer seinen Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag während eines Zeitraums von mehr als drei Monaten nicht nachkommt. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts fallen unter den Begriff „Gewährung und Vermittlung von Krediten“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie Leistungen, die die Gewährung von durch verpfändete bewegliche Sachen besicherten Darlehen betreffen. Das vorlegende Gericht ist zwar der Auffassung, die Leistungen im Zusammenhang mit der Durchführung der Versteigerung verpfändeter Sachen im Ausgangsverfahren könnten nicht als Leistungen angesehen werden, die untrennbar mit der Gewährung von durch ein Pfandrecht besicherten Darlehen verbunden seien, in deren Rahmen diese Sachen als Sicherheit dienten, und bildeten daher mit diesen Darlehen hinsichtlich der Mehrwertsteuer keinen einheitlichen Umsatz. Es hegt jedoch insoweit Zweifel, da der Darlehensgeber nach den nationalen Rechtsvorschriften die Versteigerung der verpfändeten Sachen durchzuführen habe.
40 Was Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Kreditgewährung im Sinne dieser Bestimmung u. a. in der Überlassung von Kapital gegen Entgelt besteht (Urteil vom 6. Oktober 2022, O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C-250/21, EU:C:2022:757, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Insbesondere ist der Ausdruck „Gewährung und Vermittlung von Krediten“ in dieser Bestimmung weit auszulegen, so dass er nicht allein auf Darlehen und Kredite beschränkt werden kann, die von Bank- und Finanzinstituten gewährt werden (Urteil vom 17. Dezember 2020, Franck, C-801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass das Entgelt für die Überlassung von Kapital im Rahmen der Kreditgewährung zwar grundsätzlich in Form von Zinsen gezahlt wird, dass ein Umsatz aber auch dann als Kreditgewährung im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie eingestuft werden kann, wenn die Gegenleistung in anderer Form erbracht wird. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die Vorfinanzierung des Kaufs von Waren gegen einen Zuschlag auf den vom Empfänger dieser Finanzierung zurückgezahlten Betrag ein Finanzgeschäft darstellt, das der Gewährung eines Kredits ähnlich und damit nach dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer befreit ist (Urteil vom 6. Oktober 2022, O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C-250/21, EU:C:2022:757, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Begriffe, mit denen die Steuerbefreiungen nach Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie umschrieben sind, eng auszulegen sind, da diese Befreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (Urteil vom 6. Oktober 2022, O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C-250/21, EU:C:2022:757, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Insoweit und vorbehaltlich der endgültigen Beurteilungen, die nach der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vom vorlegenden Gericht vorzunehmen sind, stellen die Versteigerung der verpfändeten Sachen nach Ablauf einer Frist von drei Monaten, in der der Darlehensnehmer seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, und die Gewährung eines durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens offensichtlich getrennte und selbständige Leistungen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dar.
45 Erstens sind diese Leistungen weder materiell noch formal voneinander abhängig. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die in der Gewährung eines Kredits bestehende Leistung in gleicher Weise erbracht werden könnte, wenn ein Dritter die Versteigerung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verpfändeten Sachen vornähme und durchführte.
46 Zweitens kann die Versteigerung der verpfändeten Sache, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, nicht als das übliche Ergebnis der Gewährung eines durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens eingestuft werden. Vielmehr erfolgt die Versteigerung nur dann, wenn der Darlehensnehmer seine Verpflichtungen aus dem Vertrag über ein durch ein Pfandrecht besichertes Darlehen nicht erfüllt. Im Übrigen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervor, dass der Darlehensnehmer bis zum Zeitpunkt des Zuschlags die Möglichkeit hat, die Hauptforderung und die damit verbundenen Zinsen zu zahlen, um die verpfändete Sache auszulösen. Daher kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versteigerung nicht als untrennbar mit der Gewährung des durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens verbunden angesehen werden.
47 Drittens dient die Versteigerung der verpfändeten Sache offensichtlich einem gegenüber der Gewährung des durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens eigenständigen Zweck. Zwar liegt es in der Natur des Vertrags über ein durch ein Pfandrecht besichertes Darlehen, dem zufolge dem Darlehensgeber das Recht vorbehalten bleibt, die Sicherheit durch Zwangsverkauf der verpfändeten Sache zu verwerten, dass die Hauptforderung und die damit verbundenen Zinsen eingezogen werden. Dieser Umstand kann jedoch nicht dahin ausgelegt werden, dass die Versteigerungsleistung eine Nebenleistung zur Gewährung eines durch ein Pfandrecht besicherten Darlehens ist. Obwohl die Versteigerung auf die Zahlung der Hauptforderung und der mit diesem Darlehen verbundenen Zinsen gerichtet ist, geht nämlich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass sie nach der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung kein bloßes Mittel darstellt, um die Leistung in Bezug auf die Gewährung dieses Darlehens unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen, sondern einen eigenen Zweck.
48 Viertens steht eine solche Beurteilung der Getrenntheit und Selbständigkeit der Leistungen im Zusammenhang mit der Durchführung der Versteigerung der verpfändeten Sachen im Einklang mit dem Erfordernis, die Begriffe, mit denen die in Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen (siehe oben, Rn. 43).
49 Fünftens kann diese Beurteilung nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass die Durchführung der Versteigerung bei Verzug des Darlehensnehmers von mehr als drei Monaten sowie die Gewährung einer Verkaufsprovision für den Darlehensgeber in Höhe von 11 % des Zuschlagspreises für die Sache in Art. 20 Abs. 1 bzw. Art. 25 der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 365/99 vorgesehen sind. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist diese Provision nämlich offensichtlich nicht die Gegenleistung für eine öffentliche Dienstleistung in Form einer Gebühr, sondern hat lediglich den Zweck, den Darlehensgeber für die Vornahme und Durchführung der Versteigerung der verpfändeten Sachen zu entschädigen.
50 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Leistungen im Zusammenhang mit der Durchführung von Versteigerungen verpfändeter Sachen keine Nebenleistungen zu den Hauptleistungen im Zusammenhang mit der Gewährung von durch ein Pfandrecht besicherten Krediten im Sinne dieser Bestimmung sind, so dass sie hinsichtlich der Mehrwertsteuer das steuerliche Schicksal der Hauptleistungen nicht teilen.
Kosten
51 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
die Leistungen im Zusammenhang mit der Durchführung von Versteigerungen verpfändeter Sachen keine Nebenleistungen zu den Hauptleistungen im Zusammenhang mit der Gewährung von durch ein Pfandrecht besicherten Krediten im Sinne dieser Bestimmung sind, so dass sie hinsichtlich der Mehrwertsteuer das steuerliche Schicksal der Hauptleistungen nicht teilen.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Portugiesisch.