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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

11. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. a – Art. 9 Abs. 1 – Art. 14 Abs. 2 Buchst. a – Steuerbare Lieferung von Gegenständen – Übertragung des Eigentums an einer landwirtschaftlichen Fläche gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer behördlichen Entscheidung – Enteignung“

In der Rechtssache C-182/23 [Makowit](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 18. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. März 2023, in dem Verfahren

Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej

gegen

J. S.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Herold und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen J. S. und dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen eines Antrags auf Aufhebung eines Steuervorbescheids vom 31. Oktober 2017 (im Folgenden: Steuervorbescheid).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.

4        Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5        Art. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„(1)      Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

(2)      Neben dem in Absatz 1 genannten Umsatz gelten folgende Umsätze als Lieferung von Gegenständen:

a)      die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung auf Grund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes;

…“

6        Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet wie folgt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

 Polnisches Recht

7        Art. 7 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2022, Pos. 931) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„Als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen, darunter auch:

1)      die Übertragung des Eigentums an Gegenständen gegen Zahlung einer Entschädigung auf Anordnung einer Behörde oder eines in deren Namen handelnden Rechtssubjekts oder kraft Gesetzes;

…“

8        In Art. 15 Abs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzes heißt es:

„1)      Steuerpflichtig sind juristische Personen, Organisationseinheiten ohne Rechtspersönlichkeit und natürliche Personen, die eine in Abs. 2 genannte wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Zweck oder Ergebnis selbständig ausüben.

2)      Als wirtschaftliche Tätigkeit gelten alle Tätigkeiten der Erzeuger, Händler oder Dienstleistungserbringer, einschließlich der Rechtssubjekte, die natürliche Ressourcen gewinnen, und der Landwirte, sowie die Tätigkeiten der Personen, die freie Berufe ausüben. Als wirtschaftliche Tätigkeit gelten insbesondere Handlungen, die in der nachhaltigen Verwendung von Waren oder immateriellen Vermögenswerten und Rechten zu Erwerbszwecken bestehen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9        J. S. führt einen landwirtschaftlichen Betrieb, in dem er seit 2001 in der Milchviehhaltung und Milcherzeugung tätig ist. Er ist seit Januar 2013 als Mehrwertsteuerpflichtiger registriert. Im Jahr 2003 und anschließend im Jahr 2015 kaufte er Grundstücke, die diesen Betrieb vergrößern sollten. Auf diesen Erwerb wurde weder Mehrwertsteuer erhoben noch war er Gegenstand eines Vorsteuerabzugs.

10      Mit Entscheidung des Woiwoden, einer Behörde innerhalb der öffentlichen Verwaltung, vom 6. März 2017 wurde das Eigentum an einem Teil der Grundstücke, auf denen sich der Betrieb von J. S. befindet, auf den Skarb Państwa (Fiskus, Polen) übertragen, um Investitionen in Straßen durchzuführen. Gleichzeitig leitete der Woiwode ein Verfahren ein, um die Entschädigung zu bestimmen, die J. S. für die Übertragung des Eigentums an den vom Fiskus erworbenen Grundstücken zustand.

11      In diesem Zusammenhang stellte J. S. bei der Steuerbehörde einen Antrag auf Erteilung eines Steuervorbescheids, um zum einen zu klären, ob er aufgrund der Veräußerung der vom Fiskus für die Durchführung von Investitionen in Straßen erworbenen Grundstücke als mehrwertsteuerpflichtig anzusehen war, und zum anderen, ob auf die dafür erhaltene Entschädigung Mehrwertsteuer zu erheben war. Seiner Ansicht nach waren diese Fragen zu verneinen.

12      In dem Steuervorbescheid vertrat die Steuerbehörde die Auffassung, dass die Übertragung des Eigentums an Grundstücken an den Fiskus im Wege der Enteignung, um Investitionen in Straßen durchzuführen, als eine Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt durch J. S. anzusehen sei. Dieser handele als ein Rechtssubjekt, das eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes ausübe, d. h. als Mehrwertsteuerpflichtiger.

13      J. S. focht diese Auslegung vor dem Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) an, der den Steuervorbescheid mit Urteil vom 15. Oktober 2018 aufhob. In der Begründung wies dieses Gericht darauf hin, dass J. S. nichts unternommen habe, um die in Rede stehenden Grundstücke zu verkaufen, und dass deren Enteignung unabhängig von seinem Willen beschlossen worden sei. Somit habe diese Enteignung in keinem Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Tätigkeit von J. S. gestanden, und folglich habe J. S. nicht als Mehrwertsteuerpflichtiger gehandelt, als die in Rede stehenden Grundstücke auf den Fiskus übertragen worden seien.

14      Die Steuerbehörde legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, ein und machte u. a. geltend, dass der Erwerb der in Rede stehenden Grundstücke im Wege der Enteignung mit der gewerblichen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch J. S. verbunden gewesen sei, die in der Nutzung dieser Grundstücke im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit bestehe. Dieser Erwerb sei daher als Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt anzusehen, die der Mehrwertsteuer unterliegen müsse.

15      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits hänge davon ab, ob die Übertragung des Eigentums an einer Immobilie an den Fiskus durch Enteignung zum Zweck des Baus öffentlicher Straßen als Lieferung von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen, der eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe, anzusehen sei, weil dieser Steuerpflichtige diese Immobilie im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit genutzt habe.

16      Erstens gehe im vorliegenden Fall aus der durch die Steuerbehörde vorgenommenen Beschreibung des Sachverhalts, der diesem Rechtsstreit zugrunde liege, nicht hervor, dass die in Rede stehenden Grundstücke auf den nicht landwirtschaftlich genutzten Teil des Vermögens von J. S. übertragen worden wären, da diese Grundstücke immer Vermögenswerte des Unternehmens von J. S. gewesen seien.

17      Zweitens ergebe sich namentlich aus dem Urteil vom 15. September 2011, Słaby u. a. (C-180/10 und C-181/10, EU:C:2011:589), dass dann, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer aktive Schritte zum Vertrieb von Grund und Boden unternehme, aufgrund derer er als Unternehmer angesehen werden könne, die verkauften Gegenstände der Mehrwertsteuer unterliegen müssten. Im vorliegenden Fall habe J. S. jedoch nichts unternommen, um die fraglichen Grundstücke zu verkaufen. Nach der polnischen Rechtsprechung liege die entscheidende Voraussetzung für die Mehrwertsteuerpflichtigkeit eines Umsatzes nicht in dem bloßen Umstand, Mehrwertsteuerpflichtiger zu sein, sondern es sei in dieser Hinsicht erforderlich, im Rahmen des spezifischen Umsatzes, der zur wirtschaftlichen Tätigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers gehöre, als Mehrwertsteuerpflichtiger gehandelt zu haben. Im vorliegenden Fall sei J. S. jedoch nicht im Immobilienhandel tätig gewesen, um insbesondere die in Rede stehenden Grundstücke zu verkaufen, und habe keine andere wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt als die landwirtschaftliche Tätigkeit, für die er mehrwertsteuerpflichtig gewesen sei.

18      Drittens sei, als J. S. diese Grundstücke erworben habe, keine Mehrwertsteuer erhoben worden, so dass hierbei kein Vorsteuerabzug erfolgt sei.

19      Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Lässt Art. 9 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zu, dass ein Landwirt, der Mehrwertsteuerpflichtiger nach den allgemeinen Regelungen ist und das Eigentum an einem Grundstück im Wege der Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung im Zusammenhang mit einer Nutzungsänderung hin zu nicht landwirtschaftlichen Zwecken auf den Fiskus überträgt, allein deshalb als Steuerpflichtiger angesehen wird, der Mehrwertsteuer in Bezug auf diese Lieferung abzurechnen hat, weil das Grundstück für die Zwecke einer mehrwertsteuerpflichtigen landwirtschaftlichen Tätigkeit genutzt wurde?

 Zur Vorlagefrage

20      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 7. September 2023, Groenland Poultry, C-169/22, EU:C:2023:638, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Im vorliegenden Fall hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unter Berücksichtigung der vom vorlegenden Gericht angeführten Gesichtspunkte davon ab, ob eine Enteignung landwirtschaftlicher Grundstücke wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die gegen Zahlung einer Entschädigung an den ursprünglichen Eigentümer der betreffenden Grundstücke erfolgt, der Mehrwertsteuer unterliegen muss.

22      Es ist aber Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, der die Voraussetzungen festlegt, die eine Lieferung von Gegenständen erfüllen muss, um als mehrwertsteuerpflichtiger Umsatz eingestuft werden zu können.

23      Im Übrigen verweist das vorlegende Gericht in seiner Frage auch auf Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der die Begriffe „Steuerpflichtiger“ und „wirtschaftliche Tätigkeit“ definiert. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die Frage, ob J. S. mehrwertsteuerpflichtig ist und eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unstreitig ist.

24      Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Übertragung des Eigentums an landwirtschaftlichen Grundstücken im Wege der Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung an den Eigentümer dieser Grundstücke der Mehrwertsteuer unterliegen muss, wenn es sich bei diesem Eigentümer um einen mehrwertsteuerpflichtigen Landwirt handelt, auch wenn dieser keine Tätigkeit im Immobilienhandel ausübt und nichts unternommen hat, was auf eine solche Eigentumsübertragung abzielen würde.

25      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem geschaffen worden ist, das insbesondere auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze beruht (Urteil vom 13. Juni 2018, Gmina Wrocław, C-665/16, EU:C:2018:431, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt. Es ist daher zu prüfen, ob die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umstände zum einen dem Begriff „Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt“ und zum anderen dem Begriff „Steuerpflichtiger als solcher“ entsprechen.

27      Was erstens den Begriff „Lieferung von Gegenständen“ anbelangt, so definiert Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie diesen als die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Zudem bestimmt Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie, dass neben dem in Abs. 1 dieses Artikels genannten Umsatz die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes als eine Lieferung von Gegenständen gilt.

28      Abs. 2 dieses Artikels stellt gegenüber der allgemeinen Definition in seinem Abs. 1 eine lex specialis dar, deren Anwendungsvoraussetzungen gegenüber denen von Abs. 1 autonomen Charakter haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juni 2018, Gmina Wrocław, C-665/16, EU:C:2018:431, Rn. 36, und vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchrechts], C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 55).

29      Somit erfordert die Einordnung als „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie die Erfüllung dreier kumulativer Voraussetzungen. Zunächst muss eine Übertragung des Eigentumsrechts stattfinden. Sodann muss diese Übertragung aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes vorgenommen werden. Schließlich muss eine Entschädigung gezahlt werden (Urteile vom 13. Juni 2018, Gmina Wrocław, C-665/16, EU:C:2018:431, Rn. 37, und vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchrechts], C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 56).

30      Im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich der ersten beiden oben genannten Voraussetzungen aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass zum einen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden landwirtschaftlichen Grundstücke unstreitig Eigentum des Fiskus geworden sind und dass zum anderen diese Eigentumsübertragung auf einer einseitigen Entscheidung des Woiwoden, einer Behörde innerhalb der öffentlichen Verwaltung, vom 6. März 2017 beruht.

31      In Bezug auf die dritte in Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellte Voraussetzung, nämlich die der Zahlung einer Entschädigung, hat der Gerichtshof entschieden, dass für die Feststellung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, nur zu ermitteln ist, ob die in Rede stehende Entschädigung unmittelbar mit der Übertragung des Eigentums verbunden ist und ob sie tatsächlich geleistet wurde (Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchrechts], C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entschädigung unmittelbar mit der Übertragung des Eigentums an den betreffenden landwirtschaftlichen Grundstücken auf den Fiskus verbunden ist. Sofern diese Entschädigung tatsächlich geleistet wurde, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, stellt der fragliche Umsatz eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dar.

33      Was die Voraussetzung in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, dass diese Lieferung „gegen Entgelt“ getätigt werden muss, genügt der bloße Bezug einer Entschädigung im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie durch den Steuerpflichtigen, damit die Voraussetzung eines Umsatzes gegen Entgelt im Hinblick auf die Anwendung dieser Bestimmung erfüllt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2018, Gmina Wrocław, C-665/16, EU:C:2018:431, Rn. 44).

34      Was zweitens den Begriff „Steuerpflichtiger als solcher“ in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft, ist J. S. zwar als Mehrwertsteuerpflichtiger registriert, das vorlegende Gericht hat aber Zweifel, ob er bei der Übertragung des Eigentums an den in Rede stehenden landwirtschaftlichen Grundstücken in dieser Eigenschaft gehandelt hat. Er übe weder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Immobilienhandel aus noch habe er etwas unternommen, um diese Grundstücke zu verkaufen.

35      Insoweit ist festzustellen, dass ein Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie grundsätzlich nur dann als solcher handelt, wenn er dies im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit tut (Urteil vom 13. Juni 2018, Polfarmex, C-421/17, EU:C:2018:432, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieses letztgenannte Kriterium ist erfüllt, wenn ein Steuerpflichtiger das Eigentum an Grundstücken überträgt, die für diese wirtschaftliche Tätigkeit im weiten Sinne verwendet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2018, Polfarmex, C-421/17, EU:C:2018:432, Rn. 42).

36      Dagegen handelt ein Steuerpflichtiger, der einen Umsatz für private Zwecke ausführt, nicht als Steuerpflichtiger. Daher unterliegt ein Umsatz, den ein Steuerpflichtiger für private Zwecke ausführt, nicht der Mehrwertsteuer (Urteile vom 4. Oktober 1995, Armbrecht, C-291/92, EU:C:1995:304, Rn. 17 und 18, sowie vom 8. März 2001, Bakcsi, C-415/98, EU:C:2001:136, Rn. 24).

37      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die in Rede stehenden landwirtschaftlichen Grundstücke nach Ansicht der Steuerbehörde zum Zeitpunkt der Übertragung ihres Eigentums auf den Fiskus Vermögenswerte des Unternehmens von J. S. waren.

38      Daraus folgt, dass J. S., der aufgrund seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, bei der Übertragung des Eigentums an landwirtschaftlichen Grundstücken, die für seine wirtschaftliche Tätigkeit verwendet wurden, wohl als Steuerpflichtiger gehandelt hat, auch wenn er keine Tätigkeit im Immobilienhandel ausübt und nichts zu diesem Zweck unternommen hat.

39      Zum letztgenannten Punkt ist hinzuzufügen, dass eine Voraussetzung, die dahin ginge, aktive Schritte seitens des Steuerpflichtigen zu verlangen, auch nicht mit der praktischen Wirksamkeit von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar wäre, der sich definitionsgemäß auf die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Gmina Wrocław [Umwandlung des Nießbrauchrechts], C-604/19, EU:C:2021:132, Rn. 75).

40      Sollte das vorlegende Gericht feststellen, dass J. S. den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatz im Rahmen der Verwaltung des nicht landwirtschaftlich genutzten Teils seines Vermögens getätigt hat, wäre davon auszugehen, dass er nicht als Steuerpflichtiger gehandelt hat und dieser Umsatz nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

41      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Übertragung des Eigentums an landwirtschaftlichen Grundstücken im Wege der Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung an den Eigentümer dieser Grundstücke der Mehrwertsteuer unterliegen muss, wenn dieser Eigentümer ein mehrwertsteuerpflichtiger Landwirt ist, der als solcher handelt, auch wenn er keine Tätigkeit im Immobilienhandel ausübt und nichts unternommen hat, was auf eine solche Eigentumsübertragung abzielen würde.

 Kosten

42      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

ist dahin auszulegen, dass

eine Übertragung des Eigentums an landwirtschaftlichen Grundstücken im Wege der Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung an den Eigentümer dieser Grundstücke der Mehrwertsteuer unterliegen muss, wenn dieser Eigentümer ein mehrwertsteuerpflichtiger Landwirt ist, der als solcher handelt, auch wenn er keine Tätigkeit im Immobilienhandel ausübt und nichts unternommen hat, was auf eine solche Eigentumsübertragung abzielen würde.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.


i      Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.